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Archive for November 2016

Das Geheimnis dieser Straßen

November 30, 2016 2 Kommentare
Poems ewerywhere

Poems ewerywhere                                                     © Fritz-Jochen Kopka

Offenbar hat sich Jim Jarmusch für seinen Film „Paterson” Leben und Werk des Dichters William Carlos Williams ziemlich genau angeschaut und mit dem Material eine eigene, kleinere Geschichte erzählt, so wie er die Handlung aus der Mittelstadt Paterson (150 000 Einwohner) in die nahegelegene Kleinstadt Rutherford verlegte, wo William Carlos Williams, kurz WCW, geboren wurde und als Arzt praktizierte. Beide Städte liegen in New Jersey, und das Großgedicht „Paterson” war vielleicht das ehrgeizigste Werk von WCW, der im Gegensatz zum Busfahrer Paterson im Film weltläufig war, Europa bereiste (Paris, auch ein paar Monate Studium in Leipzig), Dichtergrößen wie Marianne Moore, Ezra Pound und Gertrude Stein aus der Nähe kannte und ein großer, aber unsystematischer Leser war, der sich in seinen Texten sehr unbeeinflusst gab. Williams war ein Detail-, kein Metaphern-Dichter, ein Oberflächen- kein Tiefen-Poet, und er war das ganz bewusst. „Getting through with the world – / I never tire of the mystery / of these streets …” So wie sich die Dinge, die Zimmer, die Straßen, die Stadt sich ihm zeigten, so wollte er sie erfassen, und er schien sich sicher zu sein, dass man nicht mehr sagen musste. Enzensberger spricht in seinem Essay über Williams von einer „eigentümlichen Poesie des Allernächsten”. „Das Gedicht”, sagt WCW, „hat seinen Ursprung in halblauten Worten, wie ein Arzt sie jeden Tag von seinen Patienten vernehmen kann.” Es ist nicht der schlechteste Einfall Jarmuschs, aus dem Landarzt in seinem Film einen ländlichen Busfahrer zu machen, der Tag für Tag die halblauten Worte seiner Passagiere vernimmt. Wo Williams provinziell war, ist der Busfahrer Paterson noch ein paar Zacken provinzieller, aber das schadet weder dem Film noch seinem Vorbild. Die Weltpoesie kommt in Gestalt des japanischen Dichters zu Besuch, der mit Paterson gemeinsam am Wasserfall des Passaic River sitzt und über die Maßen höflich von der Dichtung redet. Wo Williams’ erster, im Selbstverlag herausgegebener, Gedichtband im Hühnerstall verbrennt, wird Patersons geheimes Notizbuch vom Hund des Hauses zerfetzt. Ein großer Einbruch in einem kleinen Leben, aber wer weiß schon, was wirklich klein, was wirklich groß ist, wenn Paterson in das Buch mit den weißen Seiten, das ihm der Japaner schenkt, nach dem Verlust seiner Texte vielleicht bewusster und hellhöriger als zuvor seine neuen Verse einträgt.

Abriss ist Standortentwicklung

Kaum zu glauben, dass das nur zwei kleine Läden waren

Kaum zu glauben, dass das nur zwei kleine Läden waren

Am Bahnhof Karlshorst wird schon so lange gebaut, dass wir uns an den Anfang nicht mehr erinnern können, längst nicht mehr. Die Behinderungen waren teilweise erheblich; die Aktionen öfter schon dramatisch. Der Tod eines Bauarbeiters war zu beklagen. Wenn man jetzt durch die Bahnhofshalle hindurchschaut, blickt man auf einen Trümmerhaufen. Das waren ein Blumenpavillon und ein Obst- und Gemüseladen (hieß der nicht gar Frucht-Oase?), der eng mit unserem Ortsteil verbunden war, ein Familiengeschäft, wenn ich mich nicht täusche. Nun bleibt davon nur ein Trümmerberg.

Kino „Vorwärts” ist nicht mehr

Kino „Vorwärts” ist nicht mehr

Auf der anderen Seite entsteht ein Neubau an der Stelle des früheren Kinos. Das hieß „Vorwärts”. Da war auch ein Café beziehungsweise ’ne Disko drin. Das Kino sah von außen nicht besonders eindrucksvoll aus, aber es hatte eine authentische Gründerzeitinneneinrichtung. Gleichwohl billigte man dem Kino nach der Wende keine Perspektive zu in einem dünn besiedelten Gebiet, in dem die Bürger am liebsten zu Hause hocken. Nicht mal ein Programmkino oder, na ja, Filmkunsttheater hätte, so prognostizieren die Weisen, eine Chance gehabt. Ich habe hier das erste Mal meinen Lieblingsfilm „Mondsüchtig” gesehen und all seine Stärken damals noch gar nicht erkannt. Auch meine Töchter haben hier ihre ersten Kinobesuche absolviert, die anscheinend prägend waren. Sie sind echte Filmfreaks geworden. Das alles verdanken wir dem Kino „Vorwärts”. Rückbau Kino „Vorwärts” hieß das damals auf dem Bauschild, der Abriss wurde als Maßnahme zur Standortentwicklung deklariert. Solche sprachschöpferischen Ambitionen hatte man den Bürokraten in den Ämtern nicht zugetraut.

Zuletzt schauten die Karlshorster mit bangen Blicken auf den Neubau: Wie hoch sollte der denn noch werden! Der sprengt doch die Dimensionen in unserem kleinteiligen Quartier. Jetzt ist wohl der Dachfirst erreicht. Es ist auch wirklich mehr als genug.

Wiener Inschriften

Selten ist der Aufgang zur Albertina im Herzen Wiens so frei von Besuchern, dass man das Bild, welches die Treppenstufen in enger Gemeinschaft zusammenfügen, erkennen kann. Hier ist es „Der Sämann” von Vincent van Gogh, der an diesem grauen Novembertag zur Ausstellung „Wege des Pointillismus” hinaufführt. Van Gogh war nicht pedantisch genug, um lange Pointillist zu bleiben, aber, so kann man hier erfahren, in seiner Farbgebung verdankt er dieser Stilrichtung doch sehr viel.

wien_steffelVon der Albertina bis zum Stephansdom sind es nur ein paar Schritte. Auch der hat bereits angefangen, Weihnachten zu feiern. „So lange der Steffl in den Himmel ragt, ist für den Wiener die Welt in Ordnung”, heißt es. Adolf Loos hat den Stephansdom den weihevollsten Kirchenraum der Welt genannt.

wien_grabsteineDie Zeit für Friedhöfe muss man sich nehmen bei einem Wien-Besuch. Mit der Anandsiebzga, der Straßenbahnlinie 71, dem Witwenexpress, zuckelte ich zum Sankt Marx, dem einzigen erhaltenen Biedermeier-Friedhof der Welt. Die 71 endet am Zentralfriedhof, den ich mir fürs nächste Mal aufhebe. Auf dem St. Marxer ruht die k.u.k.-Monarchie. Die Inschriften der Grabsteine sind oft ausführlich und berühren seltsam. Hier finden sich die sterblichen Überreste der k. k. Rechnungsrathsgattinnen, der Haus- und Küchengärtner, der Kaiserlichen Räthe und Herzoglichen Hofräthe, der aufrichtigen Katholiken, der bürgerlichen Küchengärtnerstöchter und der fürstlichen Esterhazy’schen Oberbuchhalterwitwen. Friede ihrer Asche. Es gibt eine Gleichheit im Tod. Und es gibt schöne Abschiedsworte: „Hier ruhet Yella. Ihr Leben liegt faltenlos und leuchtend ausgebreitet. Kein dunkler Flecken blieb darin zurück. Freiin v. Spielmann, gestorben im 23. Lebensjahre.”

wien_mozartVielleicht wäre es nicht schlecht gewesen, wenn ich das Mozart-Grab verfehlt hätte, aber letztlich führen alle Wege dorthin, wie mir ein Besucher sagte. Das Grab entbehrt jeglicher Echtheit und Andacht, es ist eher eine sentimentale Fiktion, aber gut, man mag darüber lächeln, die Wiener können das gewiss.

Die Hinweistafel zählt die Zuordnungen der hier bestatteten Persönlichkeiten auf, darunter Statistiker, Pädagogen, Totengräber, Tanzlehrer, Maria Theresia Ordensritter, Kommunale Würdenträger, Jäger, Nonnen, Kupferstecher, Kunstreiter und Erfinder. Und damit sind wir wieder in einer versunkenen Welt.

wien_schiffVon den Grabkammern zur Kunstkammer im Kunsthistorischen Museum, natürlich auch eines der größten der Welt. Mich haben die großen Gemälde von Pieter Brueghel in ihrer Farbintensität und die Miniaturen von Kriegssegelschiffen mir ihrer ausgefeilten Mechanik beeindruckt. Schon der Museumsbau an sich bringt einen zum Staunen, und das wirkt bei einer Melange im Café des Hauses lange nach. Eigentlich hätte ich noch ins Hawelka oder in den Bräunerhof gehen müssen, dort saß Thomas Bernhard oft, man schafft nicht alles, was man sich vornimmt. Die Kaffeehäuser, oder wie man in Wien sagt das „Kaffeezuhaus“, nehme ich mir fürs nächste Mal vor.wien_cafe

Die Sprache der Container (III)

Du musst den Formeln trauen © JoE

Du musst den Formeln trauen
© JoE

Woanders, zum Beispiel in Vilnius, ist auch die Sprache der Container anders. Zielstrebiger, aber auch zierlicher, formelhafter, aber auch verspielter. Litauen ist ein kleines Land. Illusionen und Kraftmeiereien mögen vielleicht die Politiker pflegen, die Container sprechen eine klare Sprache, die nicht mehr sagen will, als sie weiß. Und wo ihr das nicht genug ist, kritzelt sie Arabesken hinzu, die nichts weiter ausdrücken, als dass man neben aller Klarheit eben auch das Spielerische schätzt. Und die Luftballons bestätigen, dass man hier aufgeräumt hat und den Neuanfang mit einem Fest begeht.

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Paterson. Film, Stadt und Mann

An einem Freitagabend im Prenzlauer Berg

An einem Freitagabend im Prenzlauer Berg

Es ist nicht denkbar, dass uns ein Film von Jim Jarmusch missfallen könnte. Und falls, wie bei dem Vampir-Movie, doch die Gefahr besteht, gehen wir gar nicht erst rein.

Der Film heißt Paterson, die Stadt, in der er spielt, heißt Paterson, und der Mann, um den es geht, heißt Paterson (Adam Driver). Jim Jarmusch will sagen, dass es im Leben immer wieder um die gleichen Dinge geht, um gleichartige Ereignisse, um gleiche Situationen, um gleiche Wörter. Laura, Patersons Liebste, wacht auf und erzählt von ihrem Traum, die beiden hatten Kinder, Zwillinge, das findet Paterson schön, in Wirklichkeit haben sie einen Hund, eine philosophisch gestimmte englische Bulldogge mit Namen Marvin, der verdeckt gegen Paterson arbeitet.

Laura (Golshifteh Farahani) träumt von Zwillingen. Fortan tauchen in dem Film auffällig oft Zwillinge auf. Als hätten Träume suggestive Kraft oder was auch immer. Die Leute in diesem Film sagen belanglose Sätze, vor allem sagen verschiedene Leute gleiche Sätze, und man muss aufpassen, einige dieser Sätze erlangen plötzlich ungeahnte Bedeutung.

Es geht um eine Woche von Montag bis Sonntag, und immer passiert dasselbe. Alltag. Ein Busfahrer wie Paterson wacht jeden Morgen um dieselbe Zeit neben seiner Laura auf, sie kann weiterschlafen, Paterson isst seine Frühstücksflocken und schreibt Gedichtzeilen in sein geheimes Notizbuch, das nur Laura kennt. Paterson nimmt den Tag mit Gleichmut in Angriff, Laura mit Begeisterung. Er geht zur Arbeit, steigt in den Bus, hört sich die beiläufig aufgezählten Katastrophen aus dem Leben seines Kollegen Danny an, macht seinen Job, hört auf die Wortwechsel seiner Passagiere, die ihn offenkundig inspirieren, dichtet, kommt nach Hause, richtet den immer schiefen Briefkasten vor dem Haus, wird von Laura überschwänglich empfangen, erfährt von ihren neuesten kreativen Ideen, bewundert die von ihr immer neu in schwarzweißen Geometrien ausgestaltete Wohnung, isst mit langen Zähnen, aber freundlich ihre kreativen Gerichte, vernimmt die eigenartigen Reaktionen der Dogge, wenn Laura ihn küsst, und wir verstehen, ja, so kann Leben, so kann Liebe funktionieren, die immer begeisterte Frau, die sich auch für Patersons Gedichte begeistert und jeden Tag ein neues Projekt hat, und der ruhige Mann, der immer mit einer leichten Verzögerung antwortet und nie aus der Fassung gerät.

Die Entscheidung fällt leicht. Paterson. Mann, Hund und Wasserfall

Die Entscheidung fällt leicht. Paterson. Mann, Hund und Wasserfall

Einmal glauben wir unseren Augen nicht zu trauen. Die Dogge huscht, kurz bevor Paterson von der Arbeit kommt, noch schnell aus dem Haus und stupst den Briefkasten in die Schräglage. Abends führt Paterson den Hund aus, bindet ihn vor der Bar an und geht hinein, wo er schon von Doc, dem Kneipier, erwartet wird, der auch ein kunstverständiger Typ ist („Ich weiß ’ne Menge Scheiß’ über ’ne Menge Scheiß’”). In der Bar ereignet sich eine Liebestragödie in Fortsetzungen. Der Romeo wird von seiner Julia abgewiesen, aber er lässt nicht locker, weil sein Leben ohne Liebe nicht vorstellbar ist, und wenn es eine unglückliche Liebe ist. Verdammt, Mann, du solltest Schauspieler werden, sagt Doc. Ich bin Schauspieler, sagt der Romeo verschnupft. Paterson wendet sich ab, weil er sich das Lachen nicht verkneifen kann. Irgendwann zieht der Romeo eine Pistole. Die Gäste fliehen. Paterson springt dazwischen. Es ist nur eine Spielzeugpistole mit einem Filzpfropfen als Munition, aber das konnte ja keiner wissen. „Man soll nichts ändern”, sagt Doc, „du machst es nur noch schlimmer.”

Paterson, die Stadt hat nicht viel zu bieten mit ihren banalen Straßen. Die Wasserfälle am Passaic River, eine Brücke über der Schlucht. In einer Welt, in der immer das Gleiche passiert, gewinnt jede Abweichung enorme Bedeutung. Paterson trifft ein Schulmädchen, das auch Gedichte schreibt. Sie liest eines vor. Es heißt „Wasser fall”. Patersons Bus hat eine Panne. Es ist was mit der Elektrik. Es hätte eine Explosion und einen Feuerball geben können, sagen nacheinander mehrere Leute. Sie denken und sagen alle das Gleiche. Und dann die echte Katastrophe. Marvin, der Hund, zerfetzt Patersons geheimes Notizbuch. Darüber kann Paterson nicht mehr mit dem gewohnten Gleichmut hinweggehen. Er sitzt auf der Bank vor dem Wasserfall. Ein Japaner setzt sich zu ihm. Natürlich ist er ein Dichter. Er fragt nach William Carlos Williams, dem so berühmten wie weithin unbekannten Dichter, der das Großgedicht „Paterson” geschrieben hat. Er spricht auch von Allen Ginsberg, der in Paterson geboren wurde und aufwuchs. Und er schenkt Paterson ein leeres japanisches Notizbuch. Das Leben, das so, wie es war, fast beendet schien, beginnt von vorn mit noch besseren Gedichten.

Ach. In Patersons Bus sitzen auch Kara Hayward und Jared Gilman, das kindliche Liebespaar aus „Moonrise Kingdom”, Suzy und Sam. Sie sind älter geworden und studieren. Schöne Idee, Jim Jarmusch.

Und noch mal ach. Dies war der 1000. Beitrag auf diesem Blog. Ich fasse es nicht.

 

 

 

Schreib mal Skrzybski

November 21, 2016 2 Kommentare
1:0 für den VfB

1:0 für den VfB

Unser Boss stand schon auf dem Bahnsteig, hatte seinen Sohn und seinen Fan-Schal mitgebracht, der Sohn war gewachsen, ein Kopf größer als zuletzt, sehr ausgeglichen, um nicht zu sagen cool. Wir verständigten uns darüber, dass wir Simon Terodde wiedersehen würden, der einst, mit wenig Erfahrung aus Köln kommend, für Union Tore schoss, ablösefrei nach Bochum weiterzog, wo er zum Torschützenkönig wurde, um beim VfB Stuttgart zu landen, dem heutigen Gegner. Vereine schätzen oft nicht, was sie haben. Heute weiß man, dass wir Terodde hätten halten sollen, einen Bessren find’st du nicht in dieser Preislage. Außerdem gefällt mir der Name. Terodde, sowas hört man selten. Es ist natürlich ausverkauft gegen den Aufstiegsaspiranten, der in der noch jungen Saison schon den Trainer gewechselt hat, der gerade erst zu Saisonbeginn eingestiegen war, und nun haben sie sich gefunden, die Schwaben, und werden ihr Saisonziel wahrscheinlich erreichen, zumal sie den Mut hatten, einen ganz jungen Trainer zu berufen.

Berliner Gemüts-Fans

Berliner Gemüts-Fans

Wir reihen uns in die geduldigen Schlangen vor den Einlasstoren ein, treten auf ausgetrunkene Schnapsflaschen und Bierbecher, wo soll man auch hin damit, wir lassen unsere auch fallen (die Bierbecher), werden fachmännisch abgetastet, meine Waffen haben sie nicht gefunden, sage ich, aber leise, denn sowas könnte Ärger geben. Man muss schon ziemlich optimistisch sein, um auf den dicht gefüllten Traversen noch einen Platz zu finden, aber wir haben das immer geschafft, mit Freundlichkeit und gutem Willen, Union-Fans machen Platz für Union-Fans, ist doch klar.

Das ist der Schwaben schwarzer Haufen

Das ist der Schwaben schwarzer Haufen

Der Stuttgarter Block ist mobil, die Fans winken mit schwarzen Luftschläuchen (warum so finster) und haben mehrere Sortimente Fahnen dabei. Wenn es um Fußball geht, scheint der Schwabe nicht so sparsam zu sein wie gedacht. Und das zahlt sich aus. Der VfB legt los wie die Feuerwehr. Vierte Minute. Terodde wird zentral angespielt, schlägt noch einen Haken um den Innenverteidiger und schiebt ein. 0:1. Das ging viel zu schnell. Die Stuttgarter haben kleine, schnelle, wendige, furchtlose Offensivspieler, dazu kommen die langen Baumgartl, Gentner und Terodde, die, cool und besonnen, Lösungen finden. Union gelingt nichts. Unser Boss hat schon vor Beginn den Schiedsrichter kritisiert, und in der Tat fällt dem nicht auf, dass die Stuttgarter die Unioner vor der Ballannahme verdeckt wegschieben oder sich im Luftkampf aufstützen. Unsere Pässe kommen nicht an. Schon zehn Minuten ohne Gegentor, sagen wir nach einer Viertelstunde, zwanzig Minuten ohne Gegentor usw., das sind unsere Erfolgsmeldungen, bis wir Mitte der zweiten Halbzeit einen hohen Ball in den Strafraum schlagen, der ewig unterwegs ist, der Torwart läuft aus dem Tor und wehrt mit einer Hand ab, der Ball landet vor den Füßen von Steven Skrzybski, der sofort abzieht und ins Tor trifft. Skrzybski (ja, man muss es lernen, diesen Namen zu schreiben) wird immer besser, sagt unser Boss. Der Zufallstreffer wirkt wie ein Dosenöffner. Der Schiedsrichter sieht jetzt auch die versteckten Fouls der Schwaben und Union gelingt, was vorher schiefging. Nur das zweite Tor will nicht fallen, nicht für uns, und zum Glück auch nicht gegen uns. Das spannendste 1:1, das wir je in der Alten Försterei gesehen haben.

Auf der Suche nach einem anderen erträglichen Ort

November 18, 2016 2 Kommentare
Auch an den Büchern geht die Zeit nicht spurlos vorbei

Auch an den Büchern geht die Zeit nicht spurlos vorbei

Durch den Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Mary McCarthy kam ich wieder auf Wystan Hugh Auden, den Dichter und Essayisten, dem ich tiefe und spezielle Einsichten in Literatur und Kunst verdanke, „Des Färbers Hand” hieß der im Sigbert Mohn Verlag erschienene Essayband, aus dem ich ganze Passagen unverdrossen abgeschrieben habe.

Auden betrifft eine besonders bewegende Passage im Arendt-McCarthy-Briefband: Hannah Arendt schreibt am 22. November 1970: „Auden kam – sah so sehr wie ein Clochard aus, dass der Portier ihn begleitete, aus Furcht, er könne Gott-weiß-was-sein … Sagte, er käme nur meinetwegen zurück nach New York, dass ich für ihn von großer Wichtigkeit sei, dass er mich liebe usw … Meine Meinung: Oxford, wohin er hoffte, für immer gehen zu können, wollte ihn nicht (vermute ich), und er sucht verzweifelt einen anderen erträglichen Ort. Ich sehe die Notwendigkeit, aber ich weiß auch, dass ich es nicht tun kann, mit anderen Worten, muss ihn zurückweisen. Ich habe so eine Ahnung, als ob ihm dies einmal zu oft passiert sei, nämlich zurückgewiesen zu werden, und ich bin fast außer mir, wenn ich daran denke. Aber ich kann es nicht ändern; es wäre einfach Selbstmord – eigentlich schlimmer als Selbstmord.”

Mary McCarthy weiß mehr von der Sache, als Hannah Arendt ahnt: „Stephen Spender war hier und verkündete, er fühle sich wie ein Ehestifter, wäre Wystan nicht ein guter Ehemann für Hannah? Ich sagte kalt: ›Bist du verrückt?‹ Aber dies zusammen mit Deinem Brief – ich vermute, Auden muss ihm – man kann kaum sagen ›Hoffnungen‹, eher vielleicht Sehnsüchte – gestanden haben, und Stephen horchte mich aus, um zu erfahren, wie Du wohl reagieren würdest … Wie auch immer, natürlich musstest Du ihn abweisen. Es wäre schlimmer als Selbstmord. Ich frage mich, ob Du noch mehr unpassende Anträge bekommen wirst, die aus langverborgenen und aufgewühlten Tiefen emporsteigen.”

Wohl war Auden einmal mit Erika Mann verheiratet, aber seine Liebe galt Männern, er war lange mit Christopher Isherwood zusammen. Weiß der Teufel. Vielleicht liebte er auch Männer und Frauen, so dass er glauben mochte, die Heirat mit Hannah Arendt, deren Mann, Heinrich Blücher gestorben war, könnte ihn aus seiner verzweifelten Lage retten.

Auden starb 1973 in Wien. Hannah Arendt widmete ihm, nicht ganz ohne Schuldgefühle, einen ihrer schönsten Texte. „Ich erinnere an Wystan Hugh Auden”. Schon der Anfang berührt eine besonders klingende Saite: „Ich bin Auden erst spät in seinem und meinem Leben begegnet, zu einer Zeit also, da die einfache, wissende Vertrautheit einer in jungen Jahren geschlossenen Freundschaft nicht mehr erreichbar ist, weil man zu wenig Lebenszeit hat oder erwartet, welche man miteinander teilen könnte. So waren wir sehr gute, aber nicht intime Freunde.”

Hannah Arendt hatte Auden das erste Mal Ende der vierziger Jahre auf einer Party gesehen, sie wechselten kein Wort miteinander, aber er fiel ihr auf, der „gutaussehende, bestens gekleidete, sehr englische, der freundliche und ausgeglichene ›gentleman‹”. Zehn Jahre später, Auden war 50, erkannte sie ihn nicht wieder. Sein Gesicht war so „von jenen berühmten, tiefen Falten durchzogen, als wenn das Leben selbst eine Art Gesichtslandschaft gezogen hätte, um ›die unsichtbaren Stürme des Herzens‹ offenkundig zu machen.”

Sie berichtet von seiner heruntergekommenen eiskalten Wohnung, in der das Wasser einfror, so dass er die Toilette in der nahen Spirituosenhandlung benutzen musste. Nicht weniger schlimm war es um seine Kleidung bestellt. Und wenn man ihn darauf ansprach, fragte, vielleicht auch helfen wollte, variierte er das „count your blessings”: Denke an das, womit du gesegnet bist. Wahrscheinlich schämte er sich für seine Unfähigkeit, sein Leben zu organisieren, was für den berühmten Dichter, der er doch war, nicht so schwer hätte sein dürfen, und so wischte er mit dieser Bemerkung sein Elend und weitere Nachfragen weg. Auden war ein Dichter, der auf Liebe hinauswollte, und so wandelte er Descartes’ „cogito ergo sum” ab: Ich werde geliebt, also bin ich.

„Erst jetzt”, schreibt Arendt, „mit der traurigen Weisheit der Erinnerung sehe ich ihn als einen Kenner der unendlichen Varianten unerwiderter Liebe, unter denen sich eine, das rasend machende Ersetzen von Liebe durch Bewunderung, hoch auftürmte.”

 

Dieser Blick, diese Skepsis

Normal sind Berliner Kinder frecher © Christian Brachwitz

Normal sind Berliner Kinder frecher
© Christian Brachwitz

Berliner Kinder, vorwiegend Mädchen. Vielleicht dritte Klasse? Sie sitzen vor der Fülle der Schaufenster und hinter ihnen ist Schlussverkauf, %% %. Auch wenn sie nahe beieinander sitzen, wirken sie doch wenig gemeinschaftlich. Es ist doch sonst so, dass Mädchen sich immer unterhaken und die Arme umeinander legen und Jungs sich ein bisschen boxen (Ich hoffe, man merkt, dass sich hier kein Sexismus ausspricht.) Und etwas erschöpft scheinen sie auch zu sein, diese Kinder. Es wird ja von ihnen viel verlangt in der Schule, zum Beispiel müssen sie häufig psychische und physische Gewalt gegen die Lehrer ausüben, wie ich gerade in der Zeitung las und im Radio hörte. Nein nein. Diese sind friedlich. Ich kann nicht erkennen, was sie in den Händen haben, irgendwas Kleines, womit sie spielen. Keine Smartphones, ist das Bild noch aus dem 19. Jahrhundert? Tatsächlich kann ich meine Augen nicht von dem Mädchen, in der Mitte oben, losreißen, von diesem skeptischen, missvergnügten, beinahe ängstlichen Blick. Der könnte das ganze Leben betreffen, das vor ihr liegt. Als erwarte sie nichts Gutes. Oder harmloser: Ist sie in den Knaben mit dem gelben Basecap verliebt, der nur Augen für seine Kumpels hat? Und das Gegenmodell haben wir gleich rechts neben ihr: die selbstverliebte Hübsche: Es wird mir immer gut gehen im Leben.

Frühkindliche Prägungen

Wie wir unsere Wege finden © Fritz-Jochen Kopka

Wie wir unsere Wege finden
© Fritz-Jochen Kopka

Leider sind auch die Hackeschen Höfe ein Popcornkino. Allerdings stinkt das Popcorn dort nicht so gemein wie in anderen Kinos. Und die Besucher essen das Popcorn nur zum kleineren Teil, das meiste verstreuen sie auf dem Fußboden. Das ist das sogenannte Hänsel-und-Gretel-Syndrom. Sie verstreuen Krümel auf ihrem Weg, um später nach Hause zurückzufinden. (Zu den armen Eltern, die in ihrer Not weder Ein noch Aus wussten.)

Ein bisschen doof aber auch

11. 11., keine Narren unterwegs, das heißt, wer weiß © Fritz-Jochen Kopka

11. 11., keine Narren unterwegs, das heißt, wer weiß
© Fritz-Jochen Kopka

Morgens beim Bäcker Bleche voller Pfannkuchen mit fetter Glasur, sehr bunt, sogar violett, Ähnlichkeit mit Eisbein irgendwie (Du isst die Schwarte nicht, das ist doch das beste! Nee, ich würde kotzen.), ich kapiere, 11. 11., Karnevalsauftakt, ein Mann stellt sich eine schöne Kollektion zusammen, da scheint eine Firma feiern zu wollen, der Kunde hinter ihm gibt entnervt auf und verlässt den Laden unter stummem, aber deutlichem Protest. Ich nehme auch einen Pfannkuchen. Aber einen normalen!

Ein DHL-Auto steht vor dem Haus, gleich wird’s klingeln, das Paket ist lange überfällig, aber das Fahrzeug fährt weg. Wenig später erhalte ich die Mail: Ihr Paket konnte nicht zugestellt werden. Sie können es im Paketzentrum abholen. Im Briefkasten steckt nicht mal eine Benachrichtigungskarte. Im Moment regt man sich über die DHL mehr auf als über Donald Trump.

Die Rosenthaler Straße ist verstopft. Zu allem Überfluss heult ab und zu auch noch ein Rettungswagen dazwischen, die Radfahrer, wir wissen, das sind keine Feinen, bahnen sich ihren Weg und in all dem Abgasdreck absolviert auch noch eine Joggerin ihr Programm. In einer vietnamesischen, ich sag mal, Kantine, brechen vier Girls, die vorne in einer Nische sitzen, in Abständen in markerschütterndes Gelächter aus. Die Gäste erstarren vor Schreck, wenden sich wieder ihrer kross gebratenen Ente zu und erstarren abermals. Wo haben sie oder Sie so lachen gelernt.

Hackesche Höfe am Abend. Stehen Sie doch bequem

Hackesche Höfe am Abend. Stehen Sie doch bequem!

In einem Café, ich seh es durch die Scheibe, sitzt ein einsamer Wolf an einem Tisch und fertigt ein Selfie an. Das kann doch wohl nicht wahr sein, denke ich im Weitergehen. Ich drehe um, mache die Kamera startklar und schaue wieder durchs Fenster. Da hat der Wolf die Maske abgenommen und ist eine Frau von fünfzig Jahren. Die setzt sich also ins Café, stülpt sich diese Maske über, macht ein Selfie und schickt es dann irgendwem, echt witzig.

Bei Muji, dem japanischen Kaufhaus, haben sie neuerdings so ausgestopfte Ballons, irgendwas zwischen Sessel und Liege, ich kann mir nicht vorstellen, dass die bequem sind, aber da sitzen liegend oder liegen sitzend hoffnungsvolle Kader, bearbeiten ihre Smartphones und lächeln selig.

Nicht so schüchtern wie gedacht

Nicht so schüchtern wie gedacht

Seit einiger Zeit regen sich die Feuilletons darüber auf, dass der alte Woody Allen, statt zu sterben wie Leonard Cohen oder Ilse Aichinger, jedes Jahr einen neuen Film dreht. Wozu die Aufregung. Das sind doch keine Steuergelder, jedenfalls nicht eure, er bekommt das Geld zusammen, er hat eine Idee, die Schauspieler spielen gern bei ihm, und auch dieser Film, „Café Society”, ist charmant, man fühlt sich gut unterhalten. Es geht um den jungen Bobby Dorfman (Jesse Eisenberg), der nach Hollywood zieht in der Hoffnung, dass ihm sein Onkel, Phil Stern (Steve Carell), ein Tycoon im Filmgeschäft, einen Job im Filmgeschäft verschafft. Vonnie (Kristen Stewart), Sterns Sekretärin, kümmert sich um den jungen Mann, der nicht so schüchtern ist, wie es zunächst ausschaut. Und der Onkel ist nicht so ein harter Typ, wie man es von einem Tycoon erwartet. Er hat ein Verhältnis mit Vonnie, und Vonnie ist durchaus nicht so berechnend, wie es sich eigentlich gehören würde, sie verliebt sich nämlich auch noch in Benny. Der Film erzählt, wie es ist, wenn man Geheimnisse ausplaudert, ohne zu wissen, dass man Geheimnisse ausplaudert. Im Dialog erfährt jeder aus der Dreierkoalition die ganze Wahrheit über sich und den jeweils Abwesenden. Das hat Woody Allen richtig gut hinbekommen. Als nach einer knappen Stunde alle Karten auf dem Tisch liegen, geht dem Film die Luft aus. Das macht aber nichts, weil Woody Allen immer noch die eine oder andere Arabeske bereithält. Ich weiß nicht, ob der Regisseur auch einkalkuliert, dass hinter einem diese typischen Knie-in-den-Vordersitz-bohren-Leute sitzen, die sich so hartes Popcorn mitgebracht habe, dass man glaubt, ihre Zähne zerbersten. Wenn das Licht wieder angeht, sehen diese Leute eigentlich ganz unschuldig aus. Aber auch ein bisschen doof.