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Archive for the ‘Movie Star’ Category

Im Kino sitzen. Hassen lernen

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Im Kino in den Hackeschen Höfen

Das elende Jahr 46 in Rom. Die Stadt sieht bedürftig aus, die Menschen auch. Frauen sitzen vor der Tür und stopfen Strümpfe; Männer machen Geschäfte, besprühen sich mit Eau de Cologne für den Puff. Oder sind bettlägerig. Delia hat eine fast erwachsene Töchter und zwei Söhne, die durch die Wohnung jagen und sich Hurensohn nennen. Der schlimmste aber ist Ivano, ihr Mann. Ein übler Primitivling, der keine Gelegenheit auslässt, seine Frau zu demütigen und zu verprügeln. Gewalt, die ihn sexuell animiert. Wir sitzen im Kino und lernen hassen. Wann wird dieses Arschloch endlich bestraft. Zu seiner Rechtfertigung steht die Wendung: Er war in zwei Kriegen. 

„Morgen ist auch noch ein Tag“, das heißt. Armut, Elend und Gewalt – es wird nicht so bleiben, wie es ist. Auf welche Weise die Frau, Delia, aufbegehren wird, lässt der Film in einer naiven Dramaturgie lange offen. Delia sortiert die Optionen. Und wenn sie aufbegehrt, tut sie es nicht nur für sich, sondern auch für Marcella, ihre Tochter, der ein ähnliches Schicksal droht wie ihr, denn es ist nicht nur Ivano, es ist nicht allein Giulio, Marcellas Verlobter, es sind die archaischen Strukturen, die den männlichen Chauvinismus hervorbringen. 

Paola Cortellesi ist die Regisseurin des Films, der in schwarz-weiß und kleinem Format gedreht wurde, ist auch Delia. Eine scheinbar verhärmte Frau in der Mitte des Lebens, die voller Kraft, Anmut und Tüchtigkeit ist, wenn sie ihre private Hölle hinter sich lassen kann. Warum ist das so? Warum steht immer die Frage: Wo soll ich denn hingehen!

 Der Film war in Italien ein Mega-Erfolg. Das spricht für ihn, für seine Zurückhaltung, spricht auch für ein paar formale Experimente, nicht zuletzt auch für die italienischen Schlager, die einige Szenen begleiten. Spricht auch dafür, dass vieles noch so ist, wie es vor siebzig Jahren war.

Herr Bohacek hat schon wieder Mist gebaut

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Casablanca in Adlershof © JuTh

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Vom Kino „Casablanca“ in Adlershof hatten wir noch nie was gehört, und der Film „Rickerl“ wurde kaum irgendwo rezensiert. Aber jetzt, Sonntagabend, saßen wir auf etwas wackligen Barhockern im Foyer des Casablanca, das dem Café Americain des legendären Casablanca nachempfunden ist. Rickerl, sagte der Kinomann hinterm Tresen am Telefon, wir spielen Film mit hochdeutschen Untertiteln. Ist zwar ein österreichischer Film, aber man versteht sonst nichts.

Ich hätte einen Schnaps gebraucht, aber Schnaps gab’s im Café Americain nicht, da nahm ich einen Espresso. Ist fast das gleiche, sagte der Kinomann. 

Es war ein kleiner Kinosaal mit vierzehn Reihen; an den Wänden mit marokkanischen Straßenimpressionen illustriert; ein echtes Motto-Kino, hier und da sah man den Hut von Humphrey Bogart und seinen Kopf dazu.

Rickerl oder Herr Bohacek ist ein Wiener Liedermacher, der als Friedhofsmusiker arbeitet und gleich mal entlassen wird, als ein Totenkopf zwecks Störung der Totenruhe aus seiner Tasche kullert. Auf dem Arbeitsamt zeigt er sich unkooperativ, kriegt einen Job in einem Porno Shop aufgedrückt, dann einen in einem Imbiss. Sein Manager sagt ihm, dass er endlich liefern soll, seine Frau, die Viki, hat ihn verlassen und lebt mit dem Sohn Dominik im Haus eines Piefkes namens Kurti, der seinen Rasenmäher so dressiert hat, dass der auch Bier heranfahren kann. Ein Casting im Radio lässt Rickerl sausen, als er hört, dass da bloß blöde Fragen gestellt werden. 

Was ist also los mit dem Herrn Bohacek, den wir nur durch die hochdeutschen Untertitel verstehen können. Er hat seine Songs auf Klopapier oder irgendwelche anderen Zettel gekritzelt, er wollte ein Album machen, hatte aber immer das Gefühl, dass die Lieder noch nicht fertig sind, er kann nicht wirklich an seine Songs glauben, an seine Berufung als Liedermacher schon. Als er auf einer Hochzeit spielt, müssen die ihm eher unbekannten Musiker ihn auf Knien bitten, „In deiner Nähe“ zu spielen, ein Lied, an das er sich kaum noch erinnert und an das er auch nicht recht glauben mag. Die Hochzeit endet mit einer Massenschlägerei, weil die Braut mal mit dem falschen Mann tanzt. 

Eigentlich passt der Herr Bohacek ganz gut zu seiner Viki, die jetzt mit dem Deutschen zusammen ist und sie offenbart Rickerl auch das Problem seiner prekären Existenz: Du strengst dich nicht an, Rickerl, du kannst dich nicht anstrengen. Noch nie hast du dich angestrengt.

Es gibt also Menschen, denen es nicht gegeben ist sich anzustrengen. Deshalb hat Rickerl immer das Gefühl, dass seine Lieder nicht fertig sind, es fehlt noch der letzte Schliff, Verdichtung, Tiefe, er traut ihnen nicht. Auf der anderen Seite der Waage stürzt er auch nie komplett ab, wie tief er auch manchmal gesunken ist. Das Leben hält ihn in der Balance, und so bessert er sich (ein wenig). Er tippt seine Songs auf richtiges Papier und macht ein Demo für seinen Manager, der sich tief gerührt zeigt.

Am Ende hat der kleine Dominik, der Sohn, ein Lied gemacht, ein Lied für seinen Vater, der auch sein Kumpel ist. Er singt es ihm vor.

Wir sehen Rickerl lächeln. Er hört gar nicht wieder auf zu lächeln. Ein schöner Film in einem prekären Milieu von Adrian Goiginger. Voodoo Jürgens, der mich ein bisschen an Ludwig Hirsch erinnert, ist der Herr Bohacek.

Der schäbige Rest

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Aber drinnen war’s voll, im Delphi Lux, und einige haben an den falschen Stellen blöd gelacht ©ADe

Wenn man beim Trailer sofort den Wunsch verspürt, den Film sehen zu wollen, kann nicht mehr viel passieren. Das ist man schon seinen Instinkten schuldig. So war es bei The Holdovers. Holdovers heißt Überbleibsel. Man könnte hier auch sagen: der schäbige Rest. Der schäbige Rest, der zurückbleibt, wenn an der Barton Academy alle Lehrer und Schüler in die Weihnachtsferien gehen. Zurückbleiben Mary, die Köchin, Paul Hunham, Professor für Antike Zivilisationen und Angus Tully, 17jähriger Schüler. Für Angus ist es besonders tragisch, bleiben zu müssen. Er ist nicht so bescheuert wie viele seiner Mitschüler, aber uneins mit sich und der Welt. Seine Mutter hat einen neuen Mann und möchte über Weihnachten nicht gestört werden.

Paul Giamatti („Win Win“, „Sideways“) spielt den Professor. Giamatti ist genau der Mann, der in der Menge spurenlos untergeht, aber auch Wege findet, um sich zu behaupten. Die ehrliche Haut, vom Leben öfter mal gezwungen, zu tricksen und in schlichter Unschuld zu lügen. Ein Schauspieler, der für jede Situation das passende Gesicht hat. Der Professor mag die verwöhnten Söhne reicher Eltern  nicht und serviert sie mit witzig-zynischen Bemerkungen ab. Nervt alle mit griechisch-römische Analogien zu aktuellen Fragen und ist zum Leidwesen des Direktors unbestechlich, wenn er die Arbeiten seiner Schüler benotet, da kann ein Vater noch so reich und einflussreich sein. Was stimmt mit Ihnen nicht, fragt Mary, die Köchin. Warum muss er so gnadenlos sein zu einem renitenten Schüler, der darunter leidet, dass ihn keiner um sich haben will. Na ja, der gute Hunham hat’s nicht leicht gehabt im Leben, leidet unter einer Stoffwechselkrankheit, die dazu führt, dass er im Laufe eines Tages immer unangenehmer riecht. Und hat er überhaupt jemals eine Frau gehabt? Und doch mögen wir ihn. 

Dieser Film von Alexander Payne („About Schmidt“, „Nebraska“) stellt sich dem Leben mit seinen Widerwärtigkeiten, aber ich habe mich schon lange nicht mehr so wohl gefühlt wie in diesem Film, der mit seiner schlichten und gewitzten Menschlichkeit für sich einnimmt. Verschneite Landschaften in Massachusetts, ehrwürdige Schulgebäude, Boston im Winter – für die hohe Bildkultur sorgt der dänische Kameramann Eigil Bryld („Brügge sehen und sterben“). Christmas- und Winter-Feeling liefert der Soundtrack.

Dominic Sessa, der den renitenten Angus spielt, ist Amateur und wurde unter vielen Akteuren von High-School Bühnen ausgewählt. Ein genialer Griff. Zu Weihnachten hätte man den Film vielleicht noch mehr gemocht als in einem verregneten Februar, aber was soll’s. Ach ja. Der Film hat eine stattliche Überlänge, aber ich fand, er war keine Minute zu lang.  

Das nicht-ambitionierte Leben

Januar 5, 2024 1 Kommentar

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Perfekte Tage im Nieselregen © FJK

Schon beim Aufstehen ordnet Hirayama die Bettwäsche, drückt Paste auf die Zahnbürste, stutzt sich den Bart, wässert seine Bonsais. Er tritt vors Haus und blickt in den Himmel, der ihm jeden Tag Zuversicht zu geben scheint. Die Zuversicht eines Mannes, der Tokios Toiletten putzt, die kleine architektonische Meisterwerke sind. Er legt eine Kassette in den Rekorder seines Werkstattwagens und fährt seine Orte ab. Alles wiederholt sich, Tag für Tag. Und Hirayama ist ziemlich perfekt in dem, was er tut. Perfect Days heißt auch der Film von Wim Wenders, Perfect Day der Song von Lou Reed, den Hirayama gern einlegt und in dem es heißt, dass man an einem perfekten Tag eben erntet, was man gesät hat. So könnte ein Leben auszuhalten sein.  

Auf dem Weg zum Kino im Berliner Dauerniesel haben wir uns noch gefragt, welcher Film von Wim Wenders uns am besten gefallen habe, wir haben gesagt keiner und gelacht, und jetzt können wir sagen, dieser hier, Perfect Days. Obwohl wir noch in der ersten halben Stunde Laufzeit gedacht haben, sehr genau und unbedeutend, nicht unser Film. Nachdem wir über die Tagesabläufe Hirayamas bestens informiert sind, kommen die kleinen Ereignisse: die Unzuverlässigkeit des flippigen Jungkollegen, der Betrunkene, der in großer Not gerade noch so die Toilette erreicht, die Thai-Ji-Übungen des Obdachlosen, die knappen Urteile der Buchhändlerin, die Gesangseinlage der Barbesitzerin, der gut florierende Musikkassetten-Shop, das unerwartete Auftauchen der Nichte, das rätselhafte Zerwürfnis mit der Schwester, der Kontakt mit dem sterbenskranken Ex-Mann der Barbesitzerin. Und wenn all das passiert ist, haben wir nach und nach verinnerlicht, wie ein nicht-ambitioniertes Leben gelingen kann. 

Hirayama ist 60. Ein illusionsloser Mann mit Augenmaß. Er liest Faulkner und Patricia Highsmith (Highsmith weiß am meisten über Angst, sagt die Buchhändlerin), hört neben Lou Reed etwa Patti Smith, The Animals, Velvet Underground, Otis Redding, Van Morrison, die Stones und die Kinks, alles auf Kassette; die digitale Welt ignoriert er. 

Man könnte über Langsamkeit, Wiederholungszwang und Selbstverzwergung spotten. Wir jedoch haben uns über den Entwurf eines gelingenden Lebens, über die aufregenden Ansichten Tokios und über den genialen Schauspieler Koji Yakusho gefreut. Das war ein guter Abend im Kino International. Wir machten noch ein Bier auf und blickten aus dem oberen Foyer auf die Allee. Man erntet, was man gesät hat. Das wird nicht immer funktionieren, aber es ist eine Möglichkeit.  

Sally and the Monstrous King

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Der Platz vorm Kino, die Allee … © JuTH

Wir gingen mit Erwartungen ins Kino International. The Lost King von Stephen Frears! Mit Sally Hawkins! Sally Hawkins als Hobby-Historikerin Philippa, die wie Don Quijote für die Rehabilitierung des schrecklichen Königs Richard III. kämpft und dabei nicht mal einen Sancho Pansa an ihrer Seite hat. Es ist immer schön im International, dem DDR-Neubau-Kino, das jetzt zur Yorck-Gruppe gehört, man sitzt im Foyer im 1. Stock (das etwa auch in der Serie Queens Gambit mitgespielt hat), schaut runter auf die Karl-Marx-Allee, Café Moskau und Camp 4, die Profis munitionieren sich noch mit Bionade und Schokolade auf, und dann geht’s los. Dann fängt der Film an, und wenn der Film zu Ende ist, kommt es auf den ersten Satz an, den jemand sagt, und dieser Satz war in diesem Fall: Ohne Sally Hawkins wäre der Film nicht viel wert. 

Der Satz war zu hart, wie wir später feststellten, aber unsere Erwartungen waren nicht erfüllt worden, die Erwartungen etwa an den englischen Humor, an die geistreichen Dialoge, an die straffe Handlung. 

So kam es auch, dass keiner von uns Lust hatte, sich noch mal ins Foyer zu setzen, auf die abendliche Allee zu schauen, Bier und Wodka mit Eiswürfeln zu trinken und Chips zu essen.  

Und wie es oft so ist: Auf dem Nachhauseweg und mit dem gebotenen Abstand fiel uns Stück für Stück doch noch einiges ein, das für den Film spricht. Im letzten Viertel strafft sich die Handlung. Philippa hat es geschafft, dass nach den Gebeinen des dritten Richard gegraben wird, sie werden gefunden, der Fund wird gefeiert, die Rolle des Königs neu bewertet – es war ein Kampf Davids (Philippa) gegen Goliath (die erstarrten Männer in den Instanzen), ein  Kampf, den David gewinnt, und was passiert: Der Sieger geht leer aus. Die Siegerin nämlich, Philippa. Die gutsituiert-vollgefressenen Bürokraten aus den Ämtern lassen sich feiern für nichts, Philippa ist nur Randfigur. Wir sehen sie wieder vor einer Schulklasse, der sie die Geschichte erzählt, wir sehen die leuchtenden Gesichter der Schüler, die Feuer fangen, und das ist ja dann doch viel größer, als die lähmenden Festakte der Endprodukte es sein können. 

Philippa ist ja auch eine Ehefrau und Mutter. Ihr Mann hat eine Freundin, Geliebte, mit der er immer Fisch ist, die Seafood-Frau. Sie langweilt ihn längst, bekennt er, schon weil sie jeden Satz mit „Ehrlich gesagt“ anfängt. Dieser Mann hat seine Qualitäten. Auf unaufdringliche Weise bekennt er sich wieder zur Family, spendet anonym großes Geld für Philippas Grabungen und ist einfach da, wenn es not tut.  

Der Film erzählt eine wahre Geschichte, und das ist sein Problem. Die Kreativität fühlt sich an die wirklichen Ereignisse gebunden, der Ablauf des Films verumständlicht, die Kunst verflüchtigt sich. Und doch: Es ist  reine Freude, Sally Hawkins zuzusehen, wie sie einen aussichtslosen Kampf führt, der sich in feinen Regungen auf ihrem Gesicht, an ihrer scheinbar fragilen Körperlichkeit widerspiegelt. Nie aufwendig, immer intensiv. 

So genannte letzte Filme

September 17, 2023 2 Kommentare

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Berlin, Karl-Marx-Allee © JuTh

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Sind wir denn hier in Helsinki? Berlin. Warschauer Brücke © FJK

Das war Sonnabend. Wir saßen im Kino „International“, sahen „Fallende Blätter“, den wieder mal letzten Film von Aki Kaurismäki und dachten nach vielleicht einer Stunde: „Sehr schlicht und doch schön“. Wir hatten es mit armen und einsamen Menschen zu tun, prekären Existenzen, düsteren Stadtvierteln in Helsinki, trostlosen Wohnungen und fühlten uns doch nicht schlecht. Alles ist so alt, man glaubt, in den sechziger Jahren und sie hören doch die schlimmen Nachrichten aus dem Ukraine-Krieg: Ansa, die blonde Frau aus dem Supermarkt, und Holappa, der Mann vom Bau, der vielleicht selber seinen Vornamen nicht weiß, aber wo der Schnaps steht, das weiß er, im E-Kasten, im Garderobenspind, in der Werkzeugtasche oder, ganz praktisch, der Flachmann in der Jackentasche. Ich bin deprimiert, weil ich so viel trinke. Und ich trinke, weil ich deprimiert bin. Was soll man da machen. Aber Holappa ist ein Trinker, der nie seine Würde verliert, weiß der Teufel, wie er und wie Aki Kaurismäki das hinkriegen. In einer Karaoke-Bar sieht er Ansa, und sie sieht ihn, und da dauert es nicht mehr lange, bis sie zusammen ins Kino gehen, da hat Ansa ihre Arbeit schon verloren wegen einer albernen, längst abgelaufenen Packung Linsen oder so ihrer Tasche. Sie kümmert sich um neue Jobs, die abermals prekär sind, sie hat keine großen Ansprüche ans Leben, bis auf den, nicht bis ans Ende einsam sein zu wollen. Sie lädt Holappa, den sie zwischenzeitlich schon verloren hatte, zum Essen in ihre Wohnung ein, die sie geerbt hat; sie sieht dass er dem Alkohol verfallen ist, sie sagt: Mein Vater hat sich totgesoffen, mein Bruder auch. Ich mag dich sehr. Aber ich will keinen Säufer. Und Holappa sagt: Und ich lass mir nichts vorschreiben, nimmt seine Jacke vom Haken und geht. Aber diese Geschichte hat ihn bis ins Tiefste getroffen. Er rafft sich zur größten Heldentat eines Trinkers auf und gießt den Schnaps in den Ausguss. Sie kommen wieder zusammen, da hat Ansa einen Hund von der Straße aufgelesen, und der nüchtere Holappa ist unter die Straßenbahn geraten. Hat der Hund einen Namen?, fragt Holappa, an Krücken, auf einem gemeinsamen Weg. Chaplin, sagt Ansa.

Was lernen wir noch von Aki Kaurismäki: Dass die Lieder über das Elend in diesem Film keine elenden Lieder sind. Dass die Solidarität, das Mitgefühl unter diesen Menschen ein seltener und umso wertvollerer Stoff ist, und dass Ansa, gespielt von Alma Pöysti, und Holappa, gespielt von Jussi Vatanen, keine untertänigen Kreaturen sind. Sie lassen sich nicht demütigen. Sie sind stolz. Man kann an Peter Rühmkorf denken: Bleib erschütterbar und widersteh.  

Es ist ’ne verstaubte Geschichte

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Seitenstraße mit Lichtspieltheater © JuTh

„Living“ von Oliver Hermanus. Wo will der Film mit uns hin, worauf will er hinaus. Nach einer halben Stunde wissen wir’s und finden uns zurecht. Ein paar Bürohengste oder Amtsschimmel fahren früh in einen Londoner Vorort, ein Neuer ist dabei, der wird launig aufgeklärt, über die Zustände im Amt, hauptsächlich über Mr. Williams, den Amtsvorsteher, mit all seinen Verdiensten, Eigen- und Vergreistheiten. Als ich das Amt sah, habe ich sofort an Kafka gedacht. Menschen und Aktenstapel, alles verstaubt, alles unerledigt, und so wird es auch bleiben. Ein hoher Aktenstapel deutet darauf hin, dass man viel zu tun hat. Man muss die Anträge gar nicht abschmettern, es genügt, sie auf den Stapel zu legen. Bill Nighy ist Mr. Williams, der introvertierte Amtsvorsteher, das war ja der durchgeknallte Altrocker in „Tatsächlich … Liebe“, seinetwegen sind wir hier, im Delphi Lux am Bahnhof Zoo. Mr. Williams ist Witwer. Auch zu Hause sieht’s nicht gut aus bei ihm. Stumme Mahlzeiten mit Sohn und Schwiegertochter, alles Wichtige bleibt ungesagt. Die Schwiegertochter sorgt sich hauptsächlich um die Erbschaft. Nach einer halben Stunde bekommt Mr. Williams seine Diagnose; er hat nur noch kurze Zeit zu leben. Er plündert sein Konto und fährt ans Meer. Kommt zurück und fängt an zu leben. Setzt durch, dass der beantragte Kinderspielplatz tatsächlich gebaut wird und setzt damit auch ein Zeichen: aufwachen, Leute, weg mit dem Staub. Der Spielplatz ist da, Mr. Williams stirbt. Es ist ’ne banale Geschichte. Was zählt, sind die Details. Der unvergleichliche Bill Nighy. Die sinnlose Flucht ins Nachtleben mit dem Schriftsteller Sutherland und wie der übermüdete, betrunkene Mr. Williams in der Bar ein Lied aus seiner schottischen Heimat singt, das er nicht zu Ende bringt: „The Rowan Tree“. Und wie er, wieder zu Hause, Miss Harris (Aimee Lou Wood) trifft, die junge Frau aus seinem Amt. Sie sitzen im Pub, und es ist das beste Gespräch, das Mr. Williams seit Ewigkeiten gehabt hat. Die junge Frau, die noch nicht vom Staub eingehüllt wurde, erzählt ihm die kleinen Geschichten aus dem Amt, die ihm verborgen geblieben sind, die Spitznamen für diesen und jenen und auch für ihn: Mr. Zombie. Das ist für ihn ein Sieh-das-Gute-liegt-so-nah-Moment. Die Geschichte ist am Ende, der Film geht noch ein Weilchen weiter, das Quantum Sentimentalität ist noch nicht voll.

Warum können sie nicht mehr aufhören, die Regisseure? Warum Überlänge? Wir sollen uns nicht einbilden, wir hätten etwas Besseres zu tun, als ihnen zuzusehen. So wird’s wohl sein.

Wie mir Asteroid City doch noch sympathisch wurde

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Drüben, auf der anderen Seite der Straße, die Farben von Asteroid City und Wes Anderson © JuTh

Geh schlafen. Am Morgen sieht alles ganz anders aus als am Abend. Das wurde uns in Märchen ziemlich oft gesagt. Aber so war es auch mit „Asteroid City“, dem neuen Film von Wes  Anderson, den wir gestern im „International“ sahen. Das Kino war voller Wes-Anderson-Fans. Klar. Über ein schüchternes singuläres Auflachen hier und da kamen sie alle nicht hinaus. Ich fühle mich verarscht, sagte die eine hinterher, was für eine Verschwendung toller Schauspieler (Scarlett Johansson, Tom Hanks, Willem Dafoe, Tilda Swinton, Jason Schwartzmann, Maya Hawke, Jake Ryan) in nichtigen Rollen, die andere. Das positivste Urteil war dieses: Der Film war einfach übermütig. 

Am nächsten Morgen fing ich langsam an, den Film sympathisch zu finden. Die Künstlichkeit, die Unwirklichkeit, die Bilderbuchfarblichkeit. Die zwei Ebenen: Die Leute, die das Werk schreiben, erarbeiten, vorbereiten, und das Stück selbst mit seinen drei Akten in einer Wüstenstadt, in der mal ein Asteroid eingeschlagen und nebenbei ab und zu ein Atombombentest stattfindet. Angeblich spielt der Film im Jahr 1955. Wir erblicken aber eher eine Zukunft, die wir uns selber eingebrockt haben. Die Menschen sind flach, die Maschinen rätselhaft, die Pflanzen aus Plastik. Ein Alien mit Kulleraugen steigt herab und schnappt sich den Asteroid. Angeblich hat der Film eine Handlung. Genialische Schüler reisen mit ihren Familien an zu einem Wissenschaftswettbewerb. Außerdem Mr. Augie Steenbeck, Kriegsfotograf, der seinen vier Kindern noch nicht gesagt hat, dass ihre Mutter gestorben ist und er ihre Asche in einer Tupperdose dabei hat. Das alles verliert man schnell aus den Augen. Es geht auch nicht um eine stringente Geschichte, sondern um ein paar Einfälle und diese sonderbaren Menschen. Eines ist klar: Gegen den Willen der Kinder geschieht hier nichts, schon gar nicht gegen den Willen der drei kleinen Witches (Hexen), der Töchter von Mr. Steenbeck. Gegen Ende fällt öfter mal der Satz: Ich versteh das Stück immer noch nicht! Wohl wahr. Oder der Satz: Du kannst nicht erwachen, wenn du nicht eingeschlafen bist. You can’t Wake up, if you don’t fall asleep. Das singt dann über dem Abspann mit einer abgründigen Stimme Jarvis Cocker. 

Wir waren dann noch bei einem Chinesen am Strausberger Platz, draußen vor der Tür. Es war alles so wirklich, das Essen so gut, das Bier so frisch, die Gespräche so reell. 

Als ich eingeschlafen war und wieder aufwachte (weil ich eingeschlafen war) , hatte ich immer noch die Farbigkeit von Asteroid City im Kopf und diese Sonderlinge, denen nichts Schlimmes passieren kann als Sklaven der Kinder. 

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We are afraid too

oder: Der besorgte Mr. Wassermann

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Es war im Körnerpark im Monat Mai © JuT, FJK

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Sympathisches Kino, absolut

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Mr. Wassermann in seinen Lebensaltern

Erst als ich schon in der Bahn nach Neukölln saß, kriegte ich mit, dass der Film, den wir uns ausgesucht hatten, 179 Minuten lang sein würde; „Beau is afraid“ von Ari Aster, ein Regisseur, den wir nicht kennen, in einem Kino, das wir auch nicht kennen, das Neue Off. Wir wollten den Film wegen Joaquin Phoenix sehen. In der FAZ stand eine hochnäsig-spöttische Rezension. Na ja, wenn die nicht von Andreas Kilb ist, muss man da nicht viel drauf geben. Wir machten noch einen kurzen Stopp im Körnerpark, wo es einen Wasserfall gibt, von dem wirklich Wasser runterstürzt, was in Berlin nicht unbedingt üblich ist. Im Foyer versorgten wir uns mit Snacks und so, gut so, lobte der Kinodirektor, der Film ist lang. Gehen da viele Leute raus?, fragten wir. Es gehen immer welche raus, sagte er, muss nicht am Film liegen. 

Die Woche zuvor waren wir zu dritt im Kinosaal, diese Zahl hatte sich hier schon versiebenfacht, wenn wir richtig zählten. Joaquin Phönix ist Beau Wassermann, und dieser Beau hat einen Flug gebucht, um seine liebe Mutter zu ihrem Geburtstag zu beehren, aber dieser Beau ist nun mal besorgt oder ängstlich oder beides, und das bringt ihn in schlimme Situationen; jede Katastrophe ist noch katastrophaler als die vorangegangene. Das ist eigentlich schon der ganze Film. Ethan Coen sagte zu „A Serious Man“: „Das witzige an der Geschichte war für uns, immer wieder neue Wege zu finden, wie wir Larry quälen konnten. Sein Leben wird einfach immer schlimmer.“ Und Aster quält seinen Beau Wassermann noch viel mehr; das muss man ihm lassen. Vielleicht ist Beau deshalb so ängstlich, weil sein Vater just bei seinem Zeugungsakt direkt über der Mutter gestorben ist, may be. Und Joaquin Phoenix ist glänzend als dieser ernste, besorgte, eigentlich freundliche Mann, dem nichts erspart bleibt, umso weniger, als der Film immer mehr ins Fantasy- und Horror-Genre abgleitet, bis schließlich Beau im Haus der toten Mutter seiner Kindheitsliebe wiedertrifft, und alle 21 Zuschauer im Saal denken: Das jetzt bitte nicht auch noch. Nicht, dass Beau im Bett über dieser frühen Liebe stirbt. Nein. Es ist die Frau, die dabei stirbt. 

Ab und zu, in dieser oder jener Situation, stieß dieser oder jener Zuschauer ein ungläubiges Lachen aus: Was haben sie sich dabei nur gedacht! Aber wahr ist auch: Leute! 179 Minuten, und keiner hat sich gelangweilt. Es wurde einfach nicht langweilig! Wenn man sich Zeit nimmt, wird die Zeit nicht lang. 

Das Kino im Kino

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Freitagabend Hackeschen Markt

© FJK

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Das Kino in den Hackeschen Höfen

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Wir waren drei in diesem dunklen Saal

Drei Treppen rauf zum Kino, die geduldige Schlange vor der Kasse für Tickets, Bionade und Popcorn, und dann ganze drei Zuschauer in unserem Saal, du und ich und eine Gehbehinderte. Womit hat Sam Mendes, der Regisseur, das verdient! Vielleicht damit, dass sein Portfolio so disparat ist. Gangsterfilme, Kriegsfilme, Bond-Filme, Familiendramen, Familienkomödien. Wir denken immer noch gern an „American Beauty“.

Und jetzt „Empire of Light“. Das Kino im Kino. Empire heißt das Kino im Film. Das Team, das den Laden schmeißt. Der Chef, der Filmvorführer, Hilary (Olivia Colman), die Popcorn verkauft, Karten abreißt, die Besucher willkommen heißt und den Neuen, Stephen (Michael Ward), einarbeitet, einen jungen Mann, ich glaube, aus Trinidad. Es könnte alles ziemlich schön sein, wenn nicht der Kinodirektor (Colin Firth) bei seiner Frau abgemeldet wäre und zur Kompensation Hilary in sein abgedunkeltes Büro beordert, wo er dann dumpfen Sex will. Unzucht mit Abhängigen ist das umso mehr, als Hilary wohl eine bipolare Gemütsstruktur hat. 

Das Empire hat schon bessere Zeiten gesehen. Saal 3 und 4 sind aufgegeben und vermüllt, auf dem zugigen Boden brechen sich Tauben die Flügel. Stephen kann kranken Tauben helfen. Hilary mag den Neuen, was nicht ausschließt, dass sie ihn zurechtweist, wenn er übermütig wird. Dann haben sie eine Affäre, was den Kollegen nicht verborgen bleibt, sie müssen sich neu orientieren, aber es verbindet sie mehr als Sex, und Hilary findet in einem so großen wie peinlichen Auftritt die Kraft, gegen den Direktor aufzubegehren.

Der Film spielt in den Achtzigern an der englischen Südküste, eben da, wo enttäuschte junge Männer die Schuld für ihre Misere bei den Migranten suchen, die ihnen angeblich die Arbeit wegnehmen. Sie sind so orientierungslos wie brutal. 

Wie soll das nur ein halbwegs erträgliches Ende finden! Sam Mendes sucht lange nach diesem guten Ende und verschafft dem Film damit eine unnötige Überlänge. Für mich endet der Film da, wo Hilary, die seit Ewigkeiten im Kino arbeitet, aber sich nie einen Film ansieht, weil sie meint, zu viel zu tun zu haben, den Filmvorführer (Toby Jones) bittet, ihr einen Film zu zeigen. Der Filmvorführer, ein Freak vor dem Herrn der bewegten Bilder, sucht „Being there“ aus, „Willkommen Mr. Chance“ mit Peter Sellers und Shirley McLaine. Hilary ist tief gerührt. Sie sieht, dass ihr viel entgangen ist in all den Jahren und ein neues Reich auf sie wartet, Stephen war es, der sie beschwor, in die Welt der Filme einzutreten, und umgekehrt hat auch er Hilary viel zu verdanken. 

Aber damit ist der Film nicht zu Ende. Stephen, der von den entwurzelten Chaoten zusammengeschlagen wurde, kommt wieder auf die Beine und erhält den ersehnten Studienplatz. Was wir nicht unbedingt wissen müssen, wir sind auch nicht ganz ohne Phantasie.