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Posts Tagged ‘Paul Auster’

Mondstunden des Nihilismus

Wo sind die Dichter vom vergangenen Jahr
© Aufbau Verlag

Schon Februar, aber ich will doch noch den gewohnten Blick auf den Aufbau-Literaturkalender vom letzten Jahr werfen (wo sind die Dichter vom vergangenen Jahr). Vorne drauf Haruki Murakami mit seinem japanisch-transzendenten Blick, eigentlich ein Nobelpreisträger. Ich habe ein Buch von ihm gelesen, das mir sehr gut gefiel, bis es mir irgendwann zu phantasy-lastig wurde, da habe ich das Interesse verloren. Der Blick von Ernst Barlach verfolgt mich seit meiner Kindheit, ich bin aus der Stadt, in der er die meiste und letzte Zeit seines Lebens verbrachte, der Prophet gilt nichts im eigenen Land, der Künstler auch nicht, die Güstrower hielten Barlach für befremdlich, wie sie später auch Uwe Johnson für befremdlich hielten. Die Zeit läuft mir weg, neue Dichter treten an, viele kenne ich noch nicht und werde sie wohl auch nicht mehr kennenlernen, ich bin mit denen, die ich kenne, gut bedient. 1988 konnte Gisela Elsner vor der Kamera von Isolde Ohlbaum noch lachen, bis sie dann die Unberührbare wurde und ihr trauriges Leben beendete. Man sagt nichts Schlechtes über Frauen, wenn man den Hut von Selma Lagerlöf im März skurril findet, aber die Damenhüte haben bis heute nichts von ihrer militanten Komik verloren, und die Geschichtenerzählerin Lagerlöf ist immer noch groß. „Ich hatte bald herausgefunden, dass Kinder durch Fragen nichts erfahren”, ein Satz Martin Gumperts, deutscher Arzt und Schriftsteller und jüdischer Emigrant in New York, ab und zu wird er dem Vergessen entrissen. Im Juni sehen wir Marcel Reich-Ranicki unerwarteter Weise als vornehmen Mann mit leger über die Schultern gelegtem Jackett; hatte er sich das bei Hochhuth abgeschaut oder Hochhuth bei ihm; wir wissen es nicht. Müssen wir auch nicht. Utta Danella war wirklich eine glückliche Frau. Das bekommt man hin, wenn man 43 leichte Romane schreibt, 70 Millionen Bücher verkauft und ein schönes Pferd hat, das man liebt. Im Juli Lydia Davis in ihrer Küche, die vielleicht auch ein Arbeitsraum ist, vor ihr eine Teller mit Äpfeln, hinter ihr der Herd und das Fenster mit erschreckend hellem Licht. Eine strenge Frau, die Geschichten ohne Handlung schreibt, man hätte nicht gedacht, dass sie mal mit Paul Auster verheiratet war, aber dass ihre Texte voller Rätsel stecken, begreift man schnell. P. D James posiert als das, was sie war, „Queen of Crime”, mit einem aufgeklappten Rasiermesser, sie trägt ein, ich sag mal, Brokatkleid und einen imposanten Anhänger. Das Bild hat mich angeregt, einen ihrer Krimis zu lesen, aber ich bin für dieses Genre inzwischen zu alt. Und dann der rätselhafte Jorge Luis Borges auf einem Gemälde von Joaquin Vaquero Turcios, der Mann mit der sagenhaften Bibliothek und dem verlorenen Augenlicht, er wusste ja, was in den Büchern stand. Andrej Platonow, diese hohe Stirn, diese hellen, gleichwohl melancholischen Augen, unglaublich, wie er es verstand, in der „Baugrube” aus der steifen Funktionssprache eine bis dahin unbekannte Poesie zu ziehen. Es gibt eine Zeit im Leben, in der man die Bücher Erich Maria Remarques verschlingt, Im Westen nichts Neues, Der schwarze Obelisk, Drei Kameraden, Der Himmel kennt keine Günstlinge. Das geht vorbei, aber man vergisst es nicht. Wir sehen ihn bei einer Filmpremiere mit Marlene Dietrich, mit der er mal zusammen war, und wir sehen, das Leben im Jet set ist nicht leicht, alle sind erschöpft. November. Steffen Mensching zwischen Fensterflügeln, Dichter und Clown, Intendant und Romanschreiber. Der Mann, der in New York eine Emigrantenbibliothek mit einigen tausend Bänden kaufte und sie nach Berlin schaffte, obwohl er das Geld dafür eher nicht hatte. Wenn ich im Dezember Fernando Pessoa sehe, auf einer Zeichnung von Nanna Seuss, denke ich an Autofahrten von A nach B, ich hatte „Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares”, gelesen von Udo Samel eingelegt, das werde ich nie vergessen, die Unruhe, tief verborgen unter scheinbarem Gleichmut und umso präsenter. „Wenn das Herz denken könnte, bliebe es stehen … Ich habe das Gefühl, dass es für kein Problem auf der Welt eine Lösung gibt.” Mondstunden des Nihilismus in einem Mazda 323.

Dem alles leicht fällt (I)

Hat zwar nichts mit Woody Allen zu tun, aber trotzdem: Bei Primark müssen sie wegen der Seuche jetzt Schlange stehen. Und in einer Schlange stehend ist Woody Allen immer besonders witzig
© FJK

Sie werden mich verachten, aber ich kann Haustiere nicht leiden. Das ist ein Satz aus Woody Allens Autobiographie, „Apropos of Nothing”, die deutsch geradezu neckisch „Ganz nebenbei” heißt (Rowohlt 2020). Man konnte über dieses Buch nur hochmütige Rezensionen finden, aber wer sich für Woody Allen interessiert und immer noch seine Filme sieht, wird oder sollte es schon lesen. So einer bin zum Beispiel ich. Mich hat dieser kleine nervöse und irgendwie gestörte Mann immer interessiert und ich vermeide es auch nicht, in seine späten Filme zu gehen, sein Alterswerk zu besichtigen. Die Rezensenten haben schon recht: Woody Allen hätte seinem Buch mehr Nachdenklichkeit, mehr Stringenz, mehr Tiefe angedeihen lassen können, aber er ist nun mal ein Mensch (und als solcher beschreibt er sich auch), dem das, was er machte und womit er auch Erfolg hatte, ziemlich leicht fiel. Was nicht sympathisch ist (jedenfalls für viele, die glauben, es immer schwer gehabt zu haben, nicht). Da ich unlängst Paul Austers „4321” gelesen habe (ein Werk mit viel höherem Anspruch) finde ich viele Anklänge. Eine amerikanische, besser noch, eine New Yorker Biographie. Ein leichtsinniger Vater, eine disziplinierte, pflichtbewusste Mutter, aber der Vater, ein Spieler, wird natürlich mehr geliebt. Man kommt gerade so über die Runden, nimmt aber das Leben (mit Ausnahme der Mutter) nicht sonderlich ernst. Woody Allen kokettiert mit seinen Schwächen und seinen kaum vorhandenen intellektuellen Ambitionen. Wenn er gehobene Werke las, dann, um den Girls zu imponieren. Gut war er als Klassenclown. Sein Lebensweg war vorgezeichnet, als ein Kumpel auf dem Nachhauseweg sagte: „Du solltest deine Gags aufschreiben. Die sind witzig”. Warum, warum. Warum müssen seine Witze gut gewesen sein? Weil Woody Allen ein Typ ist, dem alles, was guten Bürgern lieb und teuer ist, zuwider ist. Siehe Haustiere. Siehe Autos, siehe jede Form von Technik. Er findet Shakespeare nicht so besonders und vergöttert Tennessee Williams. Er wird nicht müde, sich schlecht zu machen und betreibt unentwegt das, was man, mit Entsetzen Scherz treiben, nennt.

Archie

An seinem 76. Geburtstag beendete Hubert Schubert die Lektüre von Paul Austers „4321”. Das ist erwähnenswert, weil der Roman 1259 Seiten stark ist. Drei Jahre zuvor hatte er Paul Auster in Berlin gesehen, wie er das Buch vorstellte. Hatte sich auch in die Schlange eingereiht und sich ein Buch von Auster signieren lassen. Es war zwar albern (er war einer von hunderten), aber er hatte das Gefühl, dass Auster ihn nicht mochte, und er konnte sich nicht dagegen wehren, Auster seinerseits nicht zu mögen, aber das spielte sich im Unterbewusstsein ab und sonst nirgendwo. Hubert Schubert hatte das Gefühl, dass dieses Buch Auster ganz schön geschlaucht haben musste, aber es wurden natürlich (bei so einem gewichtigen Werk) große Worte gemacht, und Schubert erzählte dann, dass dieses Buch Austers bedeutendstes Werk sei und dass seine Frau, Siri Hustvedt, schwedische Vorfahren habe. Ihre Vorfahren sind natürlich norwegischer Nationalität, und „4321” ist keineswegs Austers bedeutendstes Werk. Einerseits ist dieser Superlativ (wie fast alle Superlative) unangebracht und andererseits sollte man sich sowieso vor bedeutenden Romanen hüten. Sowohl sie zu lesen als auch sie zu schreiben.

In diesem Falle hatte Auster den Einfall, dass man ein Leben auch vierfach erzählen könne. Da gibt es das berühmte Gedicht von Robert Frost: Der Dichter steht an einer Weggabelung, je nachdem welchen Weg er wählt – es kann den Unterschied machen für’s Leben („The Road not Taken”). Und so kam Auster auf die Idee, das Leben seines Helden Archie Ferguson vier Mal zu erzählen. Vier Mal lenkte der Zufall Archie’s Weg in unterschiedliche Richtungen bei gleichem Personal. Eine geniale Idee, die irgendwie zum Rohrkrepierer wird. Denn der Leser stellt fest: Was auch immer geschieht, so richtig können die vier Fergusons sich nicht voneinander absetzen. Keiner gewinnt deutliche Konturen. Der Dichter, der seine Figur nicht nur einmal, sondern vier Mal durchs Leben lenkt, macht sich zum Gott seines Romans. Er hat es in der Hand, Ferguson 2 mit 13 Jahren bei einem Gewitter von einem herabstürzenden Ast erschlagen zu lassen, während Ferguson 3 zwanzigjährig bei einem Trip nach London nicht auf den Linksverkehr achtet und überfahren wird. Ferguson 1 kommt im Alter von 24 Jahren bei einem Brand um, nur Ferguson 4 überlebt. Der andere Punkt ist: Die vier Fergusons sind Auster nicht unähnlich, abgesehen davon, dass ihnen eine Liebe fürs Leben nicht gelingt. Sucht er, Auster, rückblickend auch nach Möglichkeiten für ein anderes Leben; ist ihm sein gelebtes Leben zu wenig, zu unattraktiv? Wer als Kind Pinocchio gelesen hat, weiß es besser: Aus dem Stück Holz wird doch bei allen Bemühungen des Schnitzers immer wieder das gleiche hölzerne Bürschchen mit der langen Nase. Ein Leben leben und ein Leben erzählen, heißt immer auch, sich festzulegen und festgelegt zu werden. Freiheit stößt an Grenzen. Oder besser: Innerhalb der uns auferlegten Begrenzungen leben wir unsere Freiheit aus. Wenn wir können.

Und ja: Ein Hubert Schubert in seinen späten Jahren liest ja keine 1259 Seiten, wenn es sich nicht lohnte. Der Roman ist schön und ohne jeden Impuls zur Straffung erzählt, was, wie man sieht, durchaus ambivalent sein kann. Ferguson wird immer Archie genannt, und dieses Archie klingt stets zärtlich, brüderlich, solidarisch; wie Auster das hinbekommt, ist ein Phänomen. Wir haben es mit einem vierfachen Bildungsroman zu tun. Auster erzählt von hochmotivierten Einwanderfamilien, von Soldaten im zweiten Weltkrieg, heiklen Liebes- und Aufsteigergeschichten, erzählt von Kennedy, Johnson (Lyndon B.) und Nixon und wie die Amerikaner zu ihnen standen, vom Vietnamkrieg und von Kriegsdienstverweigerern, von Studentenunruhen und von der Columbia, von Princeton und Brooklyn. Er nennt die Bücher, die Filme, die Musik, für die sich der vierfache Ferguson begeisterte. Er erzählt einfach alles, was zu erzählen ist. Das kann literarischer Selbstmord sein, kann aber auch Ausschöpfen von Freiheit sein. Diszipliniert waren wir lange genug.

Als ich in der Lektüre-Krise steckte …

Oktober 24, 2017 1 Kommentar

In Halle/Saale verbringen Leverkühn und Zeitblom einige Semester ihrer Studienzeit. Unternehmen Ausflüge in die schöne Landschaft mit der Saale hellen Strand
© Fritz-Jochen Kopka

… das heißt, als alles beliebig schien, was ich lesen konnte oder wollte, noch ein Roman von Philip Roth oder weiter in seinen etwas nebulösen Essays, wieder ein Roman von Paul Auster oder ein Versuch mit Thomas Kapielski („Je dickens, destojewski!”), Essays von Carlos Fuentes oder die Trakl-Studie von Franz Fühmann, als das alles möglich, aber auch beliebig war, ging ich weg von den bereitliegenden Stapeln und griff in die Vergangenheit, an die Stelle der Regale, wo der Staub sich ablagerte, ich schnappte mir Frischs „Stiller”, Thomas Manns „Joseph und seine Brüder” und seinen „Doktor Faustus”. Hatte ich alles noch nicht gelesen und hätte ich alles längst lesen müssen. Ich machte bei allen Büchern den Anlesetest und entschied mich für den Faustus. Was stand zwischen mir und diesem Opus? Die Lobreden meiner belesenen Freunde. Der Hinweis auf die Tiefe des Werks und die nicht leichte Lesbarkeit. Eine gewisse Düsternis, die ein Titel wie „Doktor Faustus” auf mich abstrahlt (Deshalb habe ich ja auch so spät erst Gogols „Die toten Seelen” gelesen). Das Wissen darum, dass in den Roman viel Beratung von Adorno in Sachen Zwölftonmusik eingegangen war, Thomas Mann sich also etwas angeeignet hatte, was nicht zu ihm gehörte. Am meisten störten mich die Namen der Protagonisten, Adrian Leverkühn und Serenus Zeitblom, dieses Konstruierte, vorlaut Sprechende, aber gut, ich bin jetzt alt genug, über all das hinwegzusehen, und als ich den Test machte, gefiel mir der erzählerische Ton, den Thomas Mann seinem Zeitblom anheimgibt, dieses Umständliche, Aufgeräumte, Überzeugte, dass man ihm schon zuhören werde, auch wenn er noch so weit abschweife, das Biedere, aber auch Ironische, in einer solchen Gestalt ironisiert der Autor sich auch selbst: „Meine Name ist Dr. phil. Serenus Zeitblom … Mein Alter ist sechzig Jahre”, er kann partout nicht davon absehen, sich mit Titel vorzustellen, obwohl er doch weiß, dass sein Name nicht Dr. phil. Serenus Zeitblom ist, sondern eben Serenus Zeitblom, das ist schon unschlicht genug. Er gibt sich – gerade auch in Bezug auf seinen genialischen Freund Leverkühn – gerne bescheiden, ohne darauf verzichten zu können, sich angeberisch ins günstige Licht zu setzen.

Das alles passte mir gerade gut in den Streifen, und so hatte ich mich für den Doktor Faustus entschieden, die Beliebigkeit überwunden und die Lektüre-Krise beendet. Aus eigener Kraft, sag ich, als wäre ich auch ein Dr. phil. Serenus Zeitblom.

Es gibt diese Loser, aber es müsste sie nicht geben

Fatale Häuser
© Kopka

2010 brachte Paul Auster „Sunset Park” heraus. Er meinte, es sei das erste Mal, dass er sich ausdrücklich mit dem Jetzt befasste; bis dahin herrschte in seinen Romanen ein distanziertes Verhältnis zur Gegenwart vor, aber in Sunset Park ging es um die Krise in Amerika, die schwierige Phase, die die Amerikaner durchlebten. Immobilienblase, Bankencrash, Wirtschaftskrise, Zukunftslosigkeit.

Miles Heller ist so ein junger Mann ohne Zukunft. Er hat sein Studium geschmissen und seine Familie verlassen. Seine Eltern haben lange keine Ahnung, ob er überhaupt lebt. In Florida gehört Miles zu einem Vier-Mann-Trupp, der verlassene Häuser entrümpelt. „Jedes Haus hat eine Geschichte des Scheiterns.” Heller, der eben kein gewöhnlicher Entrümpler ist, nimmt es auf sich, die aufgegebenen Dinge zu fotografieren und in sein Archiv einzufügen. Es geht von Schuhen und Ölgemälden bis zu Briefmarkensammlungen und einem toten Kanarienvogel. Von diesen Fotos liest man später im Buch nichts mehr, das ist so einer von vielen fallengelassenen Fäden, die darauf hindeuten, dass Auster mit seinem Entwurf nicht ganz zu Rande gekommen ist.

Die Zukunft, die Miles Heller nicht zu haben glaubt, hat Pilar, seine Freundin. Und er tut etwas für ihre Zukunft, er lernt mit ihr zusammen und bereitet sie auf die High School vor. Aber Pilar ist noch minderjährig, so dass Heller erpresst wird und Florida verlassen. Er geht nach New York zu Bing Nathan, seinem einzigen Freund. Bing lebt in einem verfallenen, leerstehenden Holzhaus im Sunset Park. Er hat das Haus besetzt, notdürftig instandgesetzt, zwei Freundinnen (Ellen und Alice) eingeladen, dort zu wohnen und schließlich auch Miles Heller. Vier, wenn man so will, Außenseiter, jeder und jede auf seine und ihre Weise begabt, originell und kaputt. Es sieht so aus, als könnten sie sich langsam aus ihrer Sackgasse herausarbeiten, auch Miles Heller. Er nimmt wieder Kontakt zu seinen Eltern auf, die sich längst getrennt haben, und erwägt, weiter zu studieren. Am Ende gibt es einen total unverhältnismäßigen, brutalen Einsatz der Polizei, der das Leben der Hausbesetzer, das auf einem guten Weg war, ruiniert. Das liest sich fataler Weise und sicher unbeabsichtigt wie eine Warnung davor, sich gegen geltendes Recht zu stellen und Häuser zu besetzen. Man möchte nicht von einem misslungenen Roman (Deutsch bei Rowohlt 2012) sprechen. Man liest das Buch denn doch mit nicht nachlassendem Interesse und erhöhter Anteilnahme, erfährt viel Amerikanisches sowie allgemein und speziell Menschliches, um am Ende eine harte Bodenlandung zu vollführen. Vielen Dank auch.

 

Paul Auster im Großen Sendesaal

Das wichtigste Buch liegt immer auf dem Schoß
© E. T.

Mit gerade siebzig Jahren bringt Paul Auster seinen größten und bedeutendsten Roman heraus, und Radio Eins präsentiert die Deutschlandpremiere von „4321“  aus dem Rowohlt Verlag im Großen Sendesaal des RBB. Soll sofort ausverkauft gewesen sein, geben die Veranstalter an, und stimmt, man reißt uns die überzählige Karte förmlich aus den Händen. Reihe 3, Platz 13 bis 15. Einige Ehemalige haben sich eingestellt, ein Staatsminister, eine Intendantin, ein kleiner Detektiv. Eine Dame aus der kulturellen Klasse stolpert auf ihren Platz in der ersten Reihe zu, nach einer Weile verliert sie ihre Brille, die sie sich schick ins Haar gesteckt hatte. Ist wahrscheinlich weniger cool als gedacht; finde ich gut. Der Staatsminister, um auf ihn zurückzukommen, tritt ans Pult und begrüßt seinen, ja, man kann wohl sagen, Freund Paul Auster mit warmen englischen Worten. Michael (oder Mike) Naumann spielt den Elder Statesman mit Mitteilsamkeit, Geselligkeit und Frohsinn; dem Publikum nähert er sich mit kurzen verbindlichen Gesten an, und am Ende seiner Einführung sagt er schlicht und deutsch: Ich liebe diesen Schriftsteller. Meine Begleiterinnen sind von Naumann angenehm überrascht, sie mäkeln dafür um so mehr am Moderator rum, der das Gespräch mit Paul Auster aus einer großen Vorbereitungsmappe heraus in, wie sie meinen, biederem Schulenglisch führt, ja, why not.

Auster in Schreibschrift

Wir wollen von Paul Auster reden. Ich glaube, „The Music of Chance” war der erste amerikanische Roman, den ich im Original las, morgens und abends in der S-Bahn, wo ich kein Wörterbuch dabei hatte, und es ging gut, das wird mich für immer mit Auster verbinden. So stellte man sich damals einen postmodernen Autor vor, einen Kafka der Jetztzeit usw. Gelegentlich dachte man, man habe Auster mit all seinen literarischen Tricks entschlüsselt, aber er hatte immer wieder Neues zu bieten. Und nun dieser Roman von 1200 Seiten. Er liegt, thick as a brick, in seinem Schoß, ein Fundament seiner Kreativität. Auster ist zur Zeit körperlich nicht in allerbester Form, die Beine sind eine Winzigkeit schneller als der Oberkörper, er kann nicht seine Lieblingsjeans tragen, doch sein eulenäugiger Charme ist überwältigend. Manchmal ist er selbst überrascht von den Bonmots, die ihm zufallen. Die linke Hand begleitet seine Worte mit munteren Gesten, während die rechte sparsam und ausgleichend eingreift.

 

Paul und Fritz (von rechts)         © J. T.

Paul Auster erzählt, dass ihn die Idee für dieses Buch beim Frühstück überraschte, sie war sofort in großer Deutlichkeit vor seinen Augen, während sie sich normalerweile nur zögerlich über längere Zeiträume ausformt. Zunächst sollte der Roman „Ferguson” heißen wie sein Protagonist Archie Ferguson, aber dann ereignete sich jener Vorfall in der Stadt Ferguson, ein weißer Polizist erschoss einen Schwarzen, es gab Proteste und gewalttätige Tumulte, der Titel wäre irreführend gewesen, und so wählte Auster „4321”, was meint, dass der Held uns in vier unterschiedlichen Lebensläufen gegenübertritt: Auster ist wieder bei einem seiner Lebensthemen, der Musik des Zufalls. Zufälle können dein Leben total durcheinanderbringen, es kann entscheidend sein, ob du die Hauptstraße wählst oder eine Nebenstrecke. Ein schönes Muster für den Erzähler: Was folgt aus einem unscheinbaren Detail? Die Verwicklungen ausmalen, das Beziehungsnetz zu anderen Figuren umknüpfen.

Man kam sich näher

Hanns Zischler liest gekonnt und souverän ein Kapitel aus der deutschen Übersetzung, Paul Auster eine Passage aus dem Original, er liest schnell oder eben in dem Tempo, das der Text braucht, man versteht vieles nicht, erkennt jedoch die Rhythmik, die Dynamik und die Poesie der Sprache – das wäre ohne die Anwesenheit des Dichters nicht möglich gewesen, der anschließend mit lässigem Charme und brennender Geduld wohl einige hundert Bücher signiert.

Glücklich wie ein Trottel

Juli 10, 2013 1 Kommentar

Die Andere Bibliothek in meinem Regal

Die Andere Bibliothek in meinem Regal

Lange aufgehalten habe ich mich bei Enrique Vila-Matas und seinem Roman „Dublinesk”. Kein Wunder. Das Buch tritt mit Inbrunst auf der Stelle, der Leser auch. Dagegen ist nichts zu sagen. Vila-Matas ist, was wir nicht wissen, einer der bekanntesten spanischen Autoren der Gegenwart. 1948 in Barcelona geboren. Nach dem Studium Filmjournalist. Einige Jahre in Paris. Dann wieder in Barcelona.

Mit dem in der Anderen Bibliothek erschienenen Roman saß ich einige Male in der S-Bahn, ein paar Mal im Wartezimmer des Zahnarztes, und ich lag ziemlich oft damit im Bett. Ich mochte Riba, Samuel Riba, der Vorname wird nur ein einziges Mal genannt, um den es geht und nur um ihn, den Literaturverleger, das Fossil.

Riba hat wegen ruinöser Bilanzen seinen Verlag geschlossen, aber, viel wichtiger, auch deshalb, weil es ihm nicht gelungen ist, was er aber von Anfang an wollte, einen genialen Autor zu entdecken. Ohne eine solche Entdeckung ist der Verleger nur ein Schatten. Riba, nun ohne Aufgabe, lebt weiter, als sei nichts geschehen, das Leben eines Verlegers, grundiert vom „Gemütszustand einer Endzeitpsychose”. Nicht selten referiert er den nicht unbeträchtlichen Katalog seiner Publikationen.

Wir lernen ihn kennen, wie er in Barcelona verstockt bei seinen greisen Eltern sitzt, er soll ihnen von seiner Reise nach Lyon erzählen, aber was soll er sagen, er hat das Hotel nicht verlassen und eine allgemeine Theorie des Romans geschrieben, gerade gut genug für den Papierkorb.

Endlich ist er zurück bei Celia, seiner Frau, begrüßt sie mit einem Kuss und „lächelt glücklich wie ein Trottel”, woran viel Wahres ist. Die glücklich Lächelnden erscheinen uns oft vertrottelt; wie kann man heutzutage glücklich lächeln.

Riba hat den Hang, das Leben wie einen literarischen Text zu lesen. Er leidet am Alter, an der Tatenlosigkeit, am Computer-Autismus, an sozialer Katerstimmung und am Alkoholverzicht, meditiert darüber, wie er sein Leben lebenswert macht, indem er es monotonisiert. Er beobachtet den Regen von Barcelona und plant eine Reise nach Dublin, um dort mit engen Freunden die Gutenberg-Ära zu begraben und den Bloomsday zu feiern.

Am Ende wird der trockene Alkoholiker rückfällig, verliert seine Frau und erlebt das Wiederauftauchen des Autors als unglaublich optimistisches Omen. „Immer taucht plötzlich jemand auf, an den man nicht im Traum gedacht hat.” So ist Leben? Besser: So ist Literatur. Der Literat zieht sich am eigenen Schopf aus der Depression heraus.

Ein Literat wie Riba hat nur mit der Literatur und mit Literaten zu tun, alles andere ist lästig und überflüssig (abgesehen vom Alkohol). Im Umfeld der fiktiven Gestalt Riba tauchen reale Literaten, Sänger, Maler, Schauspieler, Regisseure auf. Monica Vitti sagt: „Mein Haar tut mir weh.” Tom Waits öffnet die Tür seines Hotelzimmers und grunzt: „Hier passt keiner mehr rein.” Und Paul Auster erkundigt sich bei Riba: „Willst du etwas als Kaution hinterlegen?”

Eine Frage, die kein Mensch versteht, Riba zuletzt. Er weiß nur eins:

„Ich habe immer geglaubt, dass wir jemanden brauchen, sobald es dunkel wird.”

Auf fünf Bier mit Eugen Verheugen – 3: Talent

© Fritz-Jochen Kopka

„Was ich dem Leben vorenthalten habe, hat das Leben mir schon lange vorenthalten.”

Auf der anderen Seite der Straße steht Eugen Verheugen neben einem gewaltigen BMW-Bike. Das war doch sündhaft teuer, sage ich scheinheilig, aber Herr Verheugen zieht es vor, darauf  nicht zu reagieren.

Er hat die Lage vor Ort schon gepeilt. Im Haus Berlin sitzen nur drei sächsische Parteiveteranen. Er vermutet, dass ich da etwas empfindlich bin, wenn sie etwa zu zehnt am Tisch sitzen, die Vergangenheit vergessen und über alles genauestens bescheid wissen: über die Möärgel (die Merkel), die Bieroden (die Piraten) und den Räschen (den Regen im Zuge der Erderwärmung).Nein, ich habe nichts gegen sie, aber sie sollten nicht so schreien, sie sollten das Zweifeln und auch etwas Hochdeutsch gelernt haben, wenn sie nun schon so lange in Berlin erst als Funktionselite und dann als saturierte Rentner leben.

Kellner und Geschäftsführer winken uns an unseren Lieblingstisch. Haben Sie noch etwas Bier im Haus?, frage ich. Das ist der Humor, den man hier schätzt.

Die Ulysses-Lesung im Radio ist vorbei. Eugen zweifelt inzwischen, dass er das Werk seinerzeit vollständig gelesen hat. Was er nun hörte, kam ihm zu Teilen völlig unbekannt vor, war aber gut, hervorragend gelesen, durch die Lesung wird manches verständlicher und überhaupt erst bemerkbar. Im Moment lesen sie im Radio den neuen Roman von Paul Auster, Sunset Park. Der sei eben wie alle Austers.

Da kann ich mich nicht anschließen. Ich kenne nicht alle Austers, aber die New-York-Trilogie und Music of Chance habe ich doch in Erinnerung behalten, auch Mann im Dunkel, das ich in schlaflosen Krankenhausnächten im Original (Man in the Dark) las, machte mir Eindruck. Auch die Brooklyn-Revue war nicht übel. Ich hege den Verdacht, dass Siri Hustvedt, seine Frau, auch Schriftstellerin, Auster zu schaffen macht. Eine blonde Intellektuelle mit schwedischen Vorfahren, die bei zweideutigen Gesprächsstellen übertrieben lacht. Auster sieht so aus, als habe er es nicht leicht zu Hause. Die weißen Strähnen im schwarzen Haar, eine gewisse Eulenäugigkeit, somnambule  Züge. Ich täusche mich wohl nicht. Die Interviewerin Susanne Mayer zum Beispiel sitzt für die „Zeit” unweit des Sunset Park mit Auster im Gartenhof des Cafés Melissa und stellt fest, dass der Autor in seinen Sechzigern „trotz seines gerühmten Sex Appeals ein wenig ramponiert, sagen wir verschwitzt, wirkt”.

Und was ich auch noch sagen wollte. Ich habe gerade einen Erzählungsband von Alice Munro gelesen. Tolle Texte dieser Kanadierin, fremde Welten, gut komponiert und formuliert, aber wenn ich nachdenke, habe ich so gut wie nichts behalten. Vielleicht gibt’s in der Literatur auch so etwas wie Nachhaltigkeit.

Mit dem Begriff kann ich nichts anfangen, sagt Eugen, auch in der Wirtschaft nicht, was soll das sein?

Na, dass etwas zurückbleibt, nachwirkt, nicht sofort wieder verfliegt, wenn man es konsumiert hat. Bücher, die man vor dreißig Jahren gelesen hat und von denen immer noch was im Bewusstsein ist. Wie Fürst Myschkin, man ahnt es vom ersten Moment an,  die wertvolle Vase in der fremden Wohnung zerschlägt. Das Haus, in dem Augie March wohnt. Irgendeine seltsame Außentreppe.

Das ist normal, meint Eugen, das muss man nicht nachhaltig nennen.

In literarischen Dingen ist Eugen Verheugen schwer zu widersprechen. Er ist ein Schriftsteller, allerdings einer, der von sich sagt: Mein Schriftstellerleben liegt hinter mir. Das habe ich einfach so beschlossen. Wozu schreiben? Wer will das?

Er ist ein Schriftsteller, der nicht mehr schreibt, und wenn er doch schreibt, schreibt er an einem Roman über einen Schriftsteller, der einen Roman über einen Schriftsteller schreibt, der nicht mehr schreibt. Eugen Verheugen ist Minimalist geworden. Manchmal, sagt er, schreibt er ein Gedicht. „Gar nicht schlecht, würde ich sagen, und ich bin keiner, der zum Selbstlob neigt. Und wenn dann so ein Stoß Gedichte zusammen gekommen ist, dann zerreiße ich sie.”

Das ist barbarisch, sage ich.

Mein Schriftstellerleben liegt hinter mir, sagt Eugen Verheugen. Wer soll das lesen!

Irgendeine Rechnung im Leben ist nicht aufgegangen, wenn es denn überhaupt so ewas Konkretes wie eine Rechnung gegeben hat. Talent war da. „Aber ich habe ja nichts gemacht”, sagt Eugen. „Ich habe zu Hause gesessen und gelesen. Deshalb kenne ich auch mehr Bücher als du und alle anderen. Und ab und zu habe ich geschrieben. Nicht viel. Ich hätte mehr daraus machen können.”

Sagt man nicht, dass Talent verpflichtet? Hast du der Gesellschaft oder dem Leben oder auch dir selbst nicht etwas vorenthalten?

Du hast ja ’n Knall, sagt Eugen. Was ich dem Leben vorenthalten habe, hat das Leben mir schon lange vorenthalten. Ich habe mich einfach genauso bescheuert verhalten wie das Leben. Das ist mein gutes Recht.

Auf alle Fälle, sage ich. Aber ’n Knall hast du auch.

Ja, sagt er, diese Formulierung schätze ich sehr. Gerade, weil sie so irrational ist. Was soll das überhaupt sein in diesem Zusammenhang? Wir haben alle einen verdammten Knall.

Wir zahlen nach dem fünften Bier. Die Kellnerin, die den Kellner abgelöst hat, schenkt uns noch einen Grappa. Sie haben ja ’n Knall, sagt Eugen Verheugen, aber so leise, dass sie es nicht hört.

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