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Posts Tagged ‘Prenzlauer Berg’

Aus den Weiten des Netzes kommt nichts zurück

Vorjahrescollage April – Mai – Juni ’21

Suggestion im Biesenhorster Sand
© FJK

Was kannst du mit der Zeit, die du hast, aber gerade nicht brauchst, besseres tun als schlafen. Der Mond schien in meiner Kindheit so hell, dass ich im Bett lesen konnte. Die Helfer richten mehr Schaden an. Selten hat man herablassendere Verlierer gesehen. Hier kommen auf einen Menschen fünf Ratten. Merkwürdigerweise gefällt mir eine lesbische Szene. Auch mit der Witwe, mit der er mal ein Techtelmechtel hatte. Sie trug einen kleinen prallen Rucksack. Sollen denn die Leute an der Einsamkeit sterben? Ich rufe auch kein Schwein an. In Karlshorst hatten eifrige Menschen christliche Botschaften auf die Bürgersteige geschrieben. Sie atmet den Geist des Aufbruchs. Der Laschet wirkt wie ein leicht verwirrter Herr aus dem Seniorenheim. Pack schlägt sich, Pack verträgt sich. Ich liebe hübsches Fleisch, aber zuviel ist zuviel, und die Bewegung ist der Materie so wesentlich. Das ist ’ne Puffmutter. Nichts für mich. Du verstellst deine Stimme. Etelka Grauermann geb. von Stangeler hat sich mit einer unglaublichen Menge über Jahre gesammelter Schlaftabletten das Leben genommen. Was musste man nicht alles machen, um zu überleben. Sie sind Kandidat Nummer sieben. Offensichtlich geht die Behörde davon aus, dass die Impf-Einladung überwiegend in die Hände hilfloser Personen gerät. Sie empfand es als ungerecht, dass Frauen sexuell belästigt wurden, sie aber nie. Jetzt weiß sie anscheinend auch nicht mehr, welchen Geschlechts sie ist. Im Vorraum der Sparkasse lag ein Mann im Schlafsack. Der Mann seiner Tochter ist am Herzinfarkt gestorben, weil er seine Medikamente nicht genommen hat. Wer nicht frisst, soll auch nicht lesen. Der Habeck ist ein echter Kavalier! No good deed goes unpunished. Seine Ästhetik ist das intellektuelle Schwadronieren. Der Held der Revolution, wenn es denn eine war. Warum gehen wir blöden Männer nicht zum Arzt? Übergewicht schießt Tore. Die Assis fanden es gut und schlürften ihr Bier.

Warum bietet mir Amazon in Abständen Beliebte Liebesromane an? Der Ritter S. ist ein Antiheld, der eine Demütigung nach der anderen einstecken muss, worüber er sich aber dank seiner Charakterlosigkeit hinwegsetzt. Absolvierte eine veritable Bonzenentwicklung und -karriere. Die Beschichtung seiner Bratpfanne ist beschädigt. Trinker sind empfindlich und vor allem vermeint keiner von ihnen einer zu sein. Wann werden sie wieder anfangen, von einem Dürrejahr zu sprechen. Was haben die Westdeutschen nur immer mit diesem „Schnick-Schnack-Schnuck”? Und dann noch zum Tagesspiegel Tagesspitzel sagen und zum Prenzlauer Berg Prenzelberg! Verheugen kann meine Abneigung mittlerweile nachvollziehen. Hast du ihn vor deinem geistigen Auge, wenn man von sowas bei dir reden kann? Wir waren schon nachhaltig, als die das Wort noch nicht kannten.

Mit dem Spaten über die Steinplatten schaben. Viel Elend und Siechtum. Gewöhn dir das doch endlich ä mal ab! Alles macht ihr schlechte Laune. Außer ihr Hund. Ich glaube, dass sie ihn erledigt haben, indem sie ihm zwei Preise verliehen. Ich melde mich erst wieder, wenn du hundert wirst. Herr Müller ist der ältere in der Beziehung und der eher leidende Teil. Seine Frau fährt immer noch Auto. Aus den Weiten des Netzes kommt nichts zurück. Im Sommer Angst wegen des ausbleibenden Regens, im Winter wegen der ausfallenden Heizung. Das Ungerechtigkeits-Potential einer Frau ist auch für den erfahrenen Partner noch überraschend hoch. Keinen Menschen gab es, der ihm gesagt hätte: Nimm dich in acht, Giovanni Drogo! Außerdem war meine Oma der Meinung, dass alle Schlagersängerinnen schamlose Weiber sind. Ich komm eher aus’m Völkerrecht. Burschikose Frauen haben Konjunktur in Deutschland. Morgen geht die Welt zugrunde, wenn ihr uns heute nicht regieren lasst. Die Tagediebe von der BSR, sechs Mann, sechs Höllenmaschinen. Er wollte frisches Bier vom Fass. Die Kneipe hieß Blattlaus. Er war eine vulgäre Verkörperung einer außenpolitischen Neuorientierung, die die Weltmacht unter seinem Nachfolger fortsetzt. Jogger zogen vorbei, luftige Frauen. Bei den Männern scheinen Hochwasserhosen Mode zu sein. Du hast ja Glück, dass dir deine Sachen im späten Stadium der Pandemie noch passen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass der uninspirierte Kommentar zu den Spielen auf den Rasen übergreift. Im Deutschlandfunk bessert mein Chefredakteur seine Rente auf. Hat der jetzt ’ne andere? Genosse Jablonski auf dem Weg in die Mucki-Bude. Der ehrliche Finder hat sich seinen Finderlohn gleich entnommen. Die Erinnerung an ihre Disko-Jahre war magisch.

Zitate: Eugen Verheugen, Denis Diderot, Call Center, Van Morrison, Lexikon Literarischer Geslalten, Heimito von Doderer, Herbert Herbert, Dino Buzzati, Annalena Baerbock, Nikolas Busse

Die die Göttin ihrer Bilder ist

November 23, 2020 2 Kommentare

Freier Blick auf freie Bilder
© FJK

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Momentum

Man kann froh sein, wenn überhaupt noch was stattfindet neben dem, was man selbst stattfinden lässt, und so ist man auch dankbar für eine Ausstellungseröffnung mit kleinem Besteck. Ellen Fuhr bei Helle Coppi, Berlin Mitte, Auguststraße. Keine Rede, keine Musik, kein Wein, aber eine Kanne und eine Turm von Bechern, vielleicht für Kaffee. Maximal 16 Besucher dürfen rein, aber als wir kommen, stellt sich das Problem nicht mehr.
Ellen Fuhr ist 2017 mit 59 Jahren gestorben; man begreift es nicht. Man begreift es noch weniger, wenn man ihre Bilder sieht, in denen so viel Kraft steckt. Man sieht da, was man in der Realität nur ahnt, das Eruptive der Großstadt, sie nimmt alles auseinander und setzt es neu wieder zusammen, Trassen, Brücken, Treppen = Auf- und Abstiege, Brandmauern, Hochhäuser, Stahl, Stein und Beton, die schrägen Winkel, die scharfen Kanten, die Kurven, der Text der Stadt, Gesichter, die plötzlich auftauchen und dich verfolgen, die Schluchten, der Dreck, der dir in die Fresse fliegt, und es liegt doch alles in der Hand der Malerin, die die Göttin ihrer Bilder ist. Die Hinterlassenschaft von Ellen Fuhr. Es ist mehr Döblins als Zilles Berlin, die Selbstbehauptung in der Verlorenheit. Für den Himmel bleibt wenig Raum. Und immer wieder dieses Berliner U-Bahn-Blau. Die Stadt war ihr Thema. Die Stadt. Das Meer. Der Kopf. Und das Glück. Die Köpfe: Das sind wie immer wenige kräftige Linien, du bist der Meinung, du kennst diese Leute, und du kennst sie wirklich, Simone Signoret, Elvis Presley, Christa Wolf, immer hat Ellen Fuhr das einzigartig Individuelle erfasst.
Im Gespräch mit Urszula Usakowska-Wolf hat sie erzählt, dass sie schon immer gezeichnet hat, schon als Kind, und dass sie die Erfahrung machte, dass die Leute das, was sie zeichnete, besser verstanden als das, was sie sagte. In der DDR war sie eine Künstlerin, die von den Radierungen, die sie verkaufte, gut leben konnte. „Es passierte nichts, man hat sich verkrochen, man hat seine Künstlerfreundschaften gepflegt, ich habe damals Kette geraucht, man hat sehr viel getrunken, man hat sehr viel gejammert. In Dresden war es noch schlimmer als in Berlin … da war schon eine sehr starke Selbstbemitleidung. Das war dann in Berlin nicht mehr so. Es gab im Prenzlauer Berg … damals noch eine sehr romantische und melancholische Grundstimmung, das war ein Lebensgefühl dort Wir kannten uns alle untereinander. Das hatte etwas von einer Schrebergartenkolonie.”
Als der Westen kam, dachte sie daran aufzuhören. Angeblich war nun alles falsch, was sie gemacht hatte, das gegenständliche, figürliche Malen, aber wie Neo Rauch konnte sie sich sagen: Was bin ich denn, wenn ich nicht male!, und so haben wir diese Bilder, diese Wirbel, diese Dynamik, diese Hinterlassenschaft, an einem Sonnabend im November und für immer.

Es war einmal im Buchhandel

Pankow, Florastraße. In der Buch Disko
© JuE

Ich bin durch mit der Tour durch den Berliner Buchhandel. Sieben Buchhandlungen mit vier Zwischenschritten in Friedrichshain, Mitte, Pankow, Prenzlauer Berg, Schöneberg und Kreuzberg (klingt fast so, als sei Berlin ein Gebirge). Die Buchhandlungen hießen Shakespeare & Sons, Hundt Hammer Stein, Bibliotheca Culinaria, Buch Disko, Einar & Bert, Chatwins (Reisebücher) und Hammett (Krimis). Am Anfang, bei Shakespeare & Sons in der wilden Warschauer Straße, sagt Verheugen finster: Das könnte ein Danaergeschenk sein. Da wusste ich, dass ich die Tour allein machen muss. Ich hatte für jede Buchhandlung einen Gutschein und manchmal noch einen Extra-Gutschein für ein Bistro, einen Schnapsladen oder eine Teestube. Wahrscheinlich gefällt meiner Familie nicht, dass ich meine Bücher im Netz bestelle, beim Monopolisten. Darum kamen sie auf diese Idee, mit den Gutscheinen und den Buchhandlungen, die Tickets für die Bahnen waren dabei, die Routen waren aufgelistet, die Ausschnitte aus dem Stadtplan aufgeklebt. Es konnte nichts schiefgehen, und ich könnte sagen: Meine Familie rettet den Buchhandel. Es war Juni. Die Stadt war überhitzt. Die Sonne gab nicht nach. Ich verteilte die Tour auf vier Tage. Ich bin nicht nur Fatalist, ich bin auch einer, der sagt, ich muss mich nicht mehr beeilen. Wenn du dich beeilst, macht du nur Mist und verlierst Zeit. Oder so: Du machst dann nur das Schlechteste aus deiner Zeit. Am Ende hatte ich zwölf neue Bücher, auf die ich mich freue. Zwei davon lese ich gerade. Ich kann ja nicht alle gleichzeitig lesen, obwohl Verheugen mir das nachsagt. Ich komme auf alles zurück.

 

Von der Niedlichkeit der Welt

September 29, 2016 1 Kommentar

Und als alles perfekt war, wollte niemand mehr den Garten betreten © Christian Brachwitz

Und als alles perfekt war, wollte niemand mehr den Garten betreten
© Christian Brachwitz

Die Gartensaison neigt sich dem Ende entgegen, wobei für den wahren Gärtner immer Saison ist. Zu Ostern gab es noch keine Blätter an den Bäumen, aber es gab in einem Garten wie diesem bemalte Ostereier und natürliche Osterglocken. Wenn ich mir diese Bäumchen anschaue und die komplexe Künstlichkeit, die auf dieser Scholle obwaltet, dann kann ich mir schwerlich vorstellen, dass sie jemals Blätter oder gar Früchte tragen könnten, die Bäumchen. Könnte mir nicht mal vorstellen, dass aus den Bäumchen Bäume werden. Aber das ist meine persönliche Blödheit. Dieser Blödheit passt es nicht, dass man der Natur zu sehr in ihre Angelegenheiten hineingepfuscht hat. Von der Niedlichkeit der Welt. Die treffen wir auch da, wo die Zugezogenen zum Prenzlauer Berg Prenzelberg sagen und die einheimischen Nachmacher ihnen alles nachmachen. Man macht eine Sache nicht besser, indem man sie verniedlicht. Aber es gibt diese Tendenz im Menschen, alles klein zu machen, damit er es streicheln kann. Meinetwegen. Jeder nach seiner Fasson.

Im Osten ein König

Oktober 16, 2015 5 Kommentare

Zeit der harten Herzen © Christian Brachwitz

Zeit der harten Herzen
© Christian Brachwitz

Als der U-Bahnhof Eberswalder Straße einmal eine Kleinigkeit von vier Jahrzehnten U-Bahnhof Dimitroffstraße hieß nach Georgi Dimitroff, dem Helden des Reichstagsbrandprozesses … Das konnte man nach der Wende nicht so lassen, denn der Bulgare Dimitroff war nicht nur ein unbeugsamer Mann und ein rhetorisches Genie, sondern auch ein Stalinist. Geschenkt. („Was haben Sie eigentlich gegen Stalin?”) Der Akkordeonspieler aus dem Prenzlauer Berg hat sich in Hitze gespielt. Die Jacke hängt am Treppengeländer, der Krückstock, der den Gehbehinderten stützt, lehnt an der Wand, der niedrige Karren wird den Stuhl und das Instrument tragen, wenn der Mann seinen Standort wechselt, weil die Passanten allzu ungnädig sind unter dem sogenannten Magistratsschirm. Der kleine Gewerbetreibende aus dem Westen ist in Ostberlin ein König und seine Gattin eine große Dame. Das Elend im Osten behagt ihnen gar nicht („der Akkordeonspieler hat ja noch nicht mal einen Hut auf dem Kopf”), sie haben noch nicht gelernt, dieses östliche Elend so zu übersehen wie das im Westen. Die Münder sind hart oder dumm. Sie haben Geschenke mitgebracht, die sind für die Verwandtschaft, die soll mal sehen, was man sich alles leisten kann, wenn man tüchtig arbeitet im richtigen System. So. Das reicht jetzt. Wir sind heilfroh, wenn wir wieder zu Hause sind.

Lob des Mülls

Berlin Prenzlauer Berg 1979. Soeht aber älter aus. © Christian Brachwitz

Berlin Prenzlauer Berg 1979. Sieht aber älter aus.
© Christian Brachwitz

Es war einmal im Prenzlauer Berg. Mit Hilfe eines alten Sessels und einer Holzkiste erklommen die Kinder den Müllcontainer. Die Straße machte einen Bogen. Die Autos waren froh, dass sie so weit gekommen waren. Das Haltestellenschild wurde ignoriert. Der 1. FC Union Berlin erbrachte mit Kreide den Nachweis seiner Existenz. Der Tag war grau. Die Sonne kam nicht durch. Irgendetwas wie Zuversicht auch nicht. Gab es nicht diese Frau, die das Fenster aufriss und in den Hinterhof schrie: Elendsbuchte, keene Zuversicht? Ja, die gab’s. Alle zwei Wochen dieselbe Aktion.

Da lohnt es sich, wenigstens noch auf den Müll zu gehen. Leute, die ihre Wohnung ausräumen, werfen in Hektik und Not immer was weg, was man gebrauchen kann. Vielleicht sogar Schätze. Die Blumen sind erst der Anfang.

Ich sehe, wie alte Leute stundenlang vor den drei Tonnen des Hauses stehen und den Müll untersuchen. Ich kenne die voluminöse Künstlerin, die sich auf der Suche nach Fundstücken für ihre Werke zu weit über den Rand des Containers beugte, hineinfiel und nicht allein wieder rauskam. Da hat man dann wenigstens was zu erzählen. Jahre lang. Dieselbe Geschichte. Kann man sich immer wieder ausschütten vor Lachen. Und was ich nicht schon alles gefunden habe im Müll …

Hier überlegen wir, was mit den Blumen zu machen wäre. Der Junge schenkt sie dem Mädchen? Das Mädchen schenkt sie seiner Mutter? Die Mutter wirft sie auf den Müll?

Die Straße sieht ooch aus wie Müll. Is aber keener.

Kann morgen ein Sieger sein

Wir spielten, bis es dunkel war © Fritz-Jochen Kopka

Wir spielten bis die Nacht über uns hereinbrach
© Christian Brachwitz

Das Foto ist zwar von 1983 (Berlin, Prenzlauer Berg), aber zeit- und raumübergreifend aktuell. Zu meiner Zeit und in meiner Stadt spielten wir Fußball auf der Straße und im Torweg, auf dem Brunnenplatz und auf der Schützenwiese und nicht zuletzt am Sumpfsee. Erst wurde gezählt, wieviel Jungs wir waren, und dann wurde gewählt. Mieze Mau, Schubi, Flatter Schröder, Männlein Koch, Nieschen Holz, so hießen und wurden genannt die üblichen Verdächtigen. Es wurde mit allem Einsatz gespielt. Zu meinen unauslöschbaren Kindheitserinnerungen gehört, wie ich abends auf dem Küchentisch saß und meine Mutter vorsichtig meine Beine wusch und anschließend die Verletzungen besonders an den Knien mit Wundpulver und Mullbinden verarztete. Sie wusste aber, dass gegen die Fußballleidenschaft kein Kraut gewachsen war.

Ich wüsste zu sagen, wer die besten Fußballer auf diesem Bild sind (die beiden, die den Fuß auf dem Ball haben). Ich wüsste auch zu sagen, warum sie alle glücklich aussehen (bis auf den Kleinen, der irgendwie über seine Sonderrolle nachdenken muss): Sie spielen ohne Schiedsrichter. Sie müssen sich nicht sogenannten Tatsachenentscheidungen unterwerfen. Sie genießen das Privileg, sich selbst zu einigen. Keiner kann des Feldes verwiesen werden. Und wer heute verliert, kann morgen schon ein Sieger sein.

Schlesingers Haus

„Ich rede nicht über eine beliebige Straße, ich rede über die Duncker.”

Am Sonnabend wurde in der Berliner Dunckerstraße eine Gedenktafel enthüllt, was selten oder nie vorkommt in der Duncker, einer unbedeutenden Street in einem unbedeutenden Teil des Prenzlauer Berg (falls es sowas geben kann). Auf dem Weg dahin sahen wir die blauen Schafe (was durchaus doppeldeutig zu verstehen wäre) vom Helmholtzplatz, die Tischtennisspieler in einer Häuserlücke, marodierende Politessen, aufschlussreiche Schilder, wir begegneten auch schon einigen Protagonisten der bevorstehenden Enthüllung, einem Verleger, einem Leierkastenmann und einer Witwe.

Dunckerstraße 4. Hier verbrachte Klaus Schlesinger Kindheit und Jugend. Das sagt nun eine Tafel aus weißem Porzellan. Es gäbe noch einige Tafeln, die von Schlesingers Leben erzählen könnten, denn er wohnte auch in der Brunnenstraße, in der Leipziger Straße, in der Potsdamer Straße, in der Jägerstraße, in der Torstraße und in einige anderen Berliner Straßen, die mir gerade nicht einfallen wollen. Wenn es überhaupt einen wirklichen Nachfahren des Berlin-Alexanderplatz-Döblin gibt, dann ist das Schlesinger. Er war im Zivilberuf zwar nicht Arzt wie Döblin, aber in seiner geteilten Wohnung in der Brunnenstraße befand sich eine Arztpraxis. Schlesinger war Chemielaborant, er schrieb eine Großreportage, die „Hotel oder Hospital” hieß, des weiteren lauter Bücher, die ihre zähen Helden haben neben der unverzichtbaren Hintergrundfigur: Berlin.

Nahebei: die blauen Schafe vom Helmholtzplatz

Nahebei: die blauen Schafe vom Helmholtzplatz

Ich zucke immer ein bisschen zusammen, wenn man nicht Schlesinger sagt, sondern Klaus. Denn Schlesinger war ein Charakter, der immer gefährlich werden konnte, er mochte keinen Stillstand, er wollte immer was bewegen, er konnte aggressiv und poelmisch sein, gewisse Schriftstellerkollegen sagten ihm eine gewisse Hysterie nach, was auch heißen sollte, man müsse das bei seinen Aktionen in Rechnung stellen.

Christoph Links, der Verleger und Redner, zeigt an diesem verhangenem Nachmittag, dass man Klaus sagen und Schlesinger trotzdem ernst nehmen kann. Der Mann, der die besten Berlin-Bücher nach Döblin schrieb, Bücher, die man wieder hoch schätzen wird, auch wenn  viele sie im Moment aus den Augen verloren haben, da bin ich mir ganz sicher. Ich wusste nicht, dass es so viele Berührungspunkte zwischen Schlesinger und Links gab, einmal, als seine Eltern verreisten, verbrachte der noch halbwüchsige Links drei Wochen bei Schlesinger, und der unterrrichtete Links über sein Berlin, die Kneipen, in denen sich einst die Kommunisten, und jene, in denen sich die Nazis trafen, und die Orte, wo sie sich trafen, um sich die Köpfe einzuschlagen. Er zeigte den Platz des weggebombten Hauses, wo heute die Tischtennisspieler spielen, und er erzählte die Legende der vorderen, der einzig wahren Dunckerstraße, und der hinteren, jener unbedeutenden Dunckerstraße der Zugereisten. Zwei Welten. Wie Schlesinger meistens in zwei Welten lebte und in Szenen. In der Schmugglerszene, der Szene aufbegehrender Literaten, der Hausbesetzerszene.

Ooch Szenetypen ausser Duncker

Ooch Szenetypen ausser Duncker

Wir standen da, bei Kaffee und Kuchen, bei Rot- und Weißwein („Jean Paul”), und Klaus Schlesinger, gestorben 2001, hatte uns abermals die Zungen gelöst. Stolze Kindergartenmütter, Retterinnen der Hauptstadt, der Bundesrepublik und der Welt, wie man weiß, fuhren durch uns hindurch. Wir konnten nicht aufhören von Berlin zu reden, dem östlichen, westlichen und dem geeinten, und wenn jemand nicht viel über Schlesinger wusste und fragte, mit welchem Buch er anfangen solle, sagten wir: Auf alle Fälle „Alte Filme”, das mochte er selbst wohl am meisten, dann natürlich „Berliner Traum” und „Die Seele der Männer”, wo er eine unvollendete Nachkriegsjugend in Berlin beschreibt: seine. Die er auch zu der unseren macht. Was Schlesinger über den Lehrling Brehm sagte, sagte er gleichzeitig über Berlin. Ich gestatte mir, mich selbst zu zitieren aus einem Text über Schlesingers nachgleassenes, fragmentarisches Buch:

„Man ist schon in Männergespräche involviert und kann mitreden, wenn es darum geht, wie sich ein Mann (wiewohl noch unschuldig, aber das bleibt geheim) vor Geschlechtskrankheiten schützt. Man versucht unauffällig Einblicke in Ausschnitte zu bekommen. Die rote Ilona, die angeblich besonders heftig nach Maiglöckchenparfüm riecht, wenn sie ihre Tage hat. Betriebsfeste, drängende Unterleiber, Pärchen, die mit roten Köpfen den Saal verlassen. Man fährt mit der Linie 40 zum Fußballspiel und wird um seine Brieftasche erleichtert, in der sich 120 Ost- und 5 Westmark befinden, aber dennoch hat sich Bolle ganz köstlich amüsiert. Berlin, eine Stadt, die sich aufrappelt. Eine Stadt, die aus zwei Teilen besteht, aus Boxern, Billardspielern, Ladenbesitzerinnen, Gewerkschaftsvertrauensmännern, Abenteurern. Der Mensch existiert gleichzeitig in zwei gesellschaftlichen System und findet das normal. Alle erwarten noch oder wieder etwas vom Leben. Arbeit, Liebe, Vergnügen und steigende Löhne.”

Feierlicher Moment, gelassen interpretiert

Feierlicher Moment, gelassen interpretiert

Wahnsinnsfilm

© Fritz-Jochen Kopka

Wenig später war alles viel bunter

Frauen tanzen mit Frauen. Trinker trinken mit Trinkern. Halbtote begegnen Halbtoten. Neben der zertrümmerten Mauer spielt Herbst in Peking We Need Revolution. Und immer wieder sehen wir die Kreuzung Schönhauser//Pappel-/Kastanienallee/Eberswalder/Dimitroff-Straße. Der sogenannte Magistratsschirm. Die U-Bahn, die hier weit über der Erde fährt und somit Ü-Bahn heißen müsste. Die DDR ist zusammengebrochen. Die Westen ist noch nicht ganz da. Die erfahrenen Loser wissen schon, dass sie wieder die Loser sein werden. Die jungen Loser wissen es noch nicht. Und manche bekommen gar nicht mit, was los ist. Genug Geld für Bier wird doch immer noch da sein, oder? Bange Gedanken. Sonst braucht man doch nichts.

Was sind das für Schuppen! Was sind das für Tapeten! Was für ein Licht! Egal, das Tanzbein geschwungen und mitgesungen: Wir nehmen alles so hin, wie es kommt. Wir können’s ja nicht ändern. Die Dummen werden wir immer wieder sein. Wie lassen uns nicht unterkriechen! Den Humor lassen wir uns nicht nehmen.

Das alles haben wir vergessen. Die U-Bahn fährt ungerührt zwischen Pankow-Vinetastraße und Thälmann-Platz.

Die Näherinnen stellen in ihrer Textilbude („modisch – schick – flott”) die Unverkäuflichkeit ihre Ware fest: Im Moment is kein Modell bei, dass ich anziehen würde. Die Röcke und Modelle sind nicht absetzbar, da die einfach nicht modisch sind, ich muss das mal so sagen.

Das nächste Geschäft: Wir haben den Laden selbst aufgebaut, 41 Jahre, und jetzt werden wir fertig gemacht vom Westen. Also, wir haben ganz klein angefangen, und jetzt geht alles flöten.

Altenheime, Rentnertanz, die Haare mit Wasser gekämmt, die Krawatte sorgsam gebunden, gekonnt ist gekonnt: Da kriegt’ ich denn noch ne andere Frau, war’n Jahr mit ihr zusammen, war Pech jewesen ooch wegen den allgemeinen Krebs. Wie et is. Den Ärmsten beißen immer die Hunde. Wir haben uns beide inner Volkssolidarität kennengelernt.

Wer jung ist, macht Projekte, ob im Knaackklub oder im besetzten Haus: Sind wir bemüht, Informationen rauszugeben zwecks Häuserkampf. Wir haben ne Druckmaschine, die is aber noch nich hier, weil das Transportproblem noch nicht gelöst ist.

Ost trifft West zum Prater-Ball. Wahnwitzige Maskeraden. Nobel geht die Welt zugrunde.  Die Sängerin singt versuchsweise: Ich wollt nur mal mit dir reden, oder ist es eher ein Murmeln?

Gönnerhafte Westfrau fragt Ostfotograf: Habense dich denn schon auf Stasi überprüft? Und, sauber? Unbelastet? Und schon so ’ne tolle Kamera? Für wen arbeitest du überhaupt? Wird alles von Springer eingenommen.

Im Wiener Café spielt eine rumänische Combo Schwarze Augen und Rosamunde. Rosamunde, schenk mir dein Sparkassenbuch. Ein Bartträger feiert Geburtstag und möchte von allen Frauen umarmt werden. Da sitzt auch Mühle, die Szenegestalt mit dem nihilistischen Charme und der häuslichen Strickjacke. Sieht immer aus, als fröstele ihn. Wird gebeten, noch mal die Geschichte zu erzählen von einer Prämie, die er bekam, 36 000 DDR-Mark. Honorar war das, berichtigt Mühle, Honorar. Davon hat er sich ein Segelboot und seiner Frau einen Mantel gekauft. Und der Rest? Das andere ging durch die Kehlen meiner Freunde und durch die meinige auch.

Im Wiener Café ist der Mensch nicht irgendwo, sondern unter Prominenten. Ich war die Verlobte von Manne Krug. Kann ich beweisen. Ich verkehr mit Manne noch eenmal im Jahr mit seine Frau. Jetzt bin ick glücklich. Jetzt werde ich ma wat von Trude Herr singen.

Mühle bettet sein benebeltes Haupt an die Brust von Mannes Ex-Verlobter. „Da ist es, wo man schöner ruht als in dem Freudenbett der Königin …”

Die Westmark ist da. Frau Ziervogel geborene Konnopke, weiß nicht, was auf sie zukommen wird mit ihrer Currywurstbude. Alles ist ungewiss. Die Jalousie geht hoch. Die ersten Kunden stehen schon da mit dem neuen Geld. Für Konnopke wird’s weiter gehen, soviel steht fest.

Das ist der Film „Berlin Prenzlauer Berg 1990”. Petra Tschörtner ist zwischen 1. Mai und 1. Juni mit der Kamera durch Etablissements, Betriebe und Straßen gelaufen. Häuser angeschaut, Verfall, mit Leuten geredet, das Mikro hingehalten. Ein Wahnsinnsfilm, sagen die Leute heute. Ein Wahnsinnsleben damals zwischen den Welten. Man kann den Film unter kraftfuttermischwerk.de/blogg/?p=41300  anschauen. Wir sehen Menschen, die mehr sagten als „Wahnsinn” in dem Moment, als sie Grenzen überwinden konnten.

Petra Tschörtner ist in diesem Jahr gestorben, 54 Jahre alt. Sie hat eine Spur gelegt.

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