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Archive for Januar 2014

Wie die Bilder historisch werden

Von der Wanne ins Ställchen – ein Kinderleben © Christian Brachwitz

Von der Wanne ins Ställchen – ein Kinderleben
© Christian Brachwitz

Der Fotograf spricht: „Beide Bilder” (das zweite folgt hier nächste Woche) „sind 1978 in Halle an der Saale fotografiert. Es gab keinen besonderen Grund, dies zu tun. Überall ist man der Fotograf, der eben Bilder macht. Und heute sind es historische Dokumente, denn zumindest hier hat jeder ein Bad, ob er es benutzt oder nicht …”

Ja, man könnte die Menschen einteilen in solche, die ihre Badewanne benutzen, und die anderen, die sich lieber unter die Dusche stellen. Die Zeiten aber, in denen man kein Bad und keine richtige Badewanne hatte, sind historisch, völlig richtig, und ein Kind wurde damals in die Zinkbadewanne getunkt; und selbst da hielt man das Wasser flach, vielleicht aus Sicherheitsgründen. Der Junge kann noch nicht schwimmen. Historisch ist auch, dass dann, wenn sie größer wurden, alle Kinder schwimmen konnten, was heute nicht mehr der Fall ist.

Ich erinnere mich an Salingers „Franny und Zooey”, das hochbegabte Geschwisterpaar aus der großen Glass-Familiy. Zooey ist Schauspieler und liegt stundenlang in der Badewanne. Von dort aus führt er Gespräche mit Franny, liest Briefe und raucht. Das Badewasser wird lau bis kalt und sieht, je länger Zooey da liegt, geliebt aus, Zigarettenasche, Papier, Frühstücksreste. Wir wissen auch von dem Nachtarbeiter Voigt, der bis weit in den Tag hinein schläft und, wenn er aufsteht, sich erstmal in die Badewanne begibt, wo er so lange bleibt wie Zooey. Auch das ist mehr oder minder historisch. Die Haut wird rillig, wenn man lange in der Badewanne ist, man könnte Angst haben, dass sie sich auflöst. Manche Leute sind verrückt nach den vielen, auch luxuriösen, Sorten Badeschaum, der sich mächtig in der Wanne auftürmt. Kein Wunder, wenn man im Schlager „Komm in meine Liebeslauge” versteht, obwohl es ja Liebeslaube heißt.

Und wenn wir auch im Jahr 1978 und in Halle an der Saale sind: Alles, was ein Kind benötigt, ist vorhanden. Die Zinkbadewanne, der Pinkelpott, das Schaukelpferd, das Ställchen, ein Ball und viele, viele Schuhe.

Ein Stalinist, wie stolz das klingt

Journalismus kann streng didaktisch vorgehen, wenn jemand sich im Besitz der absoluten Wahrheit glaubt, das ist dann ein Stalinismus, den wir nicht nur im proletarischen, sondern auch im bürgerlichen und sogar im aristokratischen Milieu auffinden können. Der FAZ-Schreiber von Altenbockum belehrt die Opposition darüber, dass sie sich nicht über die wenigen Minuten zu beschweren habe, die ihr an Redezeit im Bundestag zur Verfügung stehen. Es gehe nicht um die Quantität, sondern um die Qualität der Rede. „Es ist ein mechanistisches und zugleich boulevardeskes Verständnis von Opposition, das sich in den Berechnungen über die Redezeit zeigt …”, so lehrt er, und weiter: „im Bundestag wird die Arbeit – somit auch die der Opposition – nicht im vielbeachteten Plenum geleistet, sondern in den „Parlamenten im Parlament“, in den Fraktionen und Ausschüssen.” Von Altenbockum möchte der Opposition, und besonders der Linken, helfen und zeigt ihr den Königsweg für ihre Arbeit auf: „Gesine Lötzsch als Vorsitzende im Haushaltsausschuss ist für die Linke-Fraktion zehnmal mehr wert als die Show, die Gregor Gysi im Plenum abzieht.” Schlecht getarnt, dieser vergiftete Rat. Und noch mehr tolle Tipps: „Grüne und Linkspartei sollten sich an der FDP ein Beispiel nehmen …” Das hätte er wohl gern, der weise Mann. Den Oppositionsparteien fehle ein Gegenentwurf zur großen Koalition, weiß von Altenbockum – so mechanistisch wie boulevardesk – dann noch zu vermelden. Welchen Sinn macht ein Gegenentwurf, wenn kein Entwurf vorhanden ist?

Passende Antworten hat es postwendend im Netz gegeben. Zum Beispiel die hier von Robert Bendix: Ach wie wunderbar wäre es, wenn der Autor dieses Artikels auch sich selbst
 mit wenigstes EINEM qualitativ lesenswertem Artikel pro
 Jahr die gleichen „Beschränkungen“ auferlegen würde,
 wie er sie „geifernd“ der kläglichen Rest-Opposition in 
dem scheindemokratischen Gebilde „Bundesrepublik“
 Deutschland so gerne auferlegen möchte…!

In die Printausgabe hat es der lehrreiche Kommentar von Jasper von Altenbockum nicht geschafft. Ist eben doch ’ne Qualitätszeitung, die FAZ.

Ronaldo in diesen Tagen

In der „Zeit” war ein Interview mit Ronaldo, dem dreifachen Weltfußballer, dem Mann, der Deutschland das Finale der WM 2002 vermasselte und den deutschen Torwart (Oliver Kahn) zur Verzweiflung brachte. Nach seiner aktiven Zeit erfuhr man nichts mehr, man wusste nur, dass er sehr dick wurde und kaum noch zu erkennen war. Durch dieses Interview höre ich zu meiner Überraschung, dass Ronaldo in London lebt und Marketing studiert. Daneben ist er Fifa-Botschafter für die Weltmeisterschaft in Brasilien. Aber Ronaldo spielt nicht mehr Fußball, auch nicht zum Spaß. „Mein Problem ist, dass ich mich nur noch unter Schmerzen bewegen kann.” Das geht mir gleich mal an die Nieren. Ronaldo krempelt die Hosenbeine hoch und zeigt seine Knie. Am rechten wurde er vier Mal operiert, am linken zwei Mal. Ich erinnere mich, dass Ronaldo sehr schnell war, auch mit dem Ball am Fuß, er war geradezu unaufhaltsam. Anscheinend muss man für alles, was einen heraushob, bezahlen. Der Stoffwechsel funktionierte nicht mehr normal. „Irgendwann habe ich aufgehört, darauf zu achten, wie viel ich esse.” Wie auch andere Menschen, die die höchsten Höhenlagen kennengelernt habe, spricht Ronaldo ziemlich ungerührt von Dingen, von denen gewöhnliche Leute schweigen, zum Beispiel über seine Angstattacken oder auch darüber, wie seine Familie sein Konto plündert. Besonders gerührt hat mich der Schluss des Interviews, das Cathrin Gilbert und Hanns-Bruno Kammertöns geführt haben, der immer gute Sachen über Fußball macht. Ronaldo erzählt, dass sein Vater ihm immer Bücher geschenkt hat. Er wollte, dass sein Sohn nicht nur an Fußball denkt. Und so las Ronaldo „Die Verwandlung” von Kafka und „Krieg und Frieden” von Tolstoi, was er schwierig fand, „… ich habe mich durchgekämpft.” Ein Kämpfer bleibt ein Kämpfer.  

Saarbrücken an Krücken

Januar 27, 2014 2 Kommentare

Das Saarland hat sich vorgenommen, zweisprachig zu werden, mit irgendwas muss man ja glänzen. Mit ihrem Tatort glänzen sie jedenfalls nicht, auch wenn das viele erwartet haben, als der Saarländische Rundfunk Devid Striesow als Kommissar gewann. Wir erinnern uns: Sie haben Striesow als skurrile Type angelegt, als Vespa fahrenden Kauz und Yoga übenden Clown, der dann doch immer mal einen Geistesblitz hat. Das ist besser geworden. Striesow pendelt jetzt nur noch zwischen Kommissar und Kind; das ist erträglich. Er leidet etwa an seiner subalternen und hölzern reden wie rennenden Kollegin Lisa Marx, für die den Autoren kein einziger erträglicher Satz einfällt (höchstens eine Sprachhülse wie: Gefühle werden im Allgemeinen überbewertet, die längst wieder aus der Mode gekommen ist, aber woher sollen Szenaristen sowas wissen?) Minimiert, aber nach wie vor unerträglich ist die Staatsanwältin, dumm, dominant, karrieristisch. Sowas kann man machen, aber es hat echt keinen Charme, und dann geht es eben nicht. Die Dialoge sind miserabel: „Wir müssen reden!” „Horst, komm auf’n Punkt!“ „Keine Suggestivfragen bitte!” „Ich dich auch!” „Außer Spesen nichts gewesen.” „Und dann ist die ganze Sache außer Kontrolle geraten.” Man schreibt doch ein Drehbuch nicht, indem man im Sprachmüll herumwühlt.

Dafür haben sie in Saarbrücken das große Talent, unangenehme Typen zu casten. Immerhin sind sie aktuell und machen auf die Gefahren des Internet aufmerksam. Da hat jemand den Verdacht des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger, ein Flashmob wird aktiviert, ein Mensch wird erschlagen. Die Täter bekommen kein Gesicht. Total unangemessen der Versuch, Punkte zu machen, indem man eine große Familientragödie inszeniert: Suff, Untreue, Geliebte, Tochterleid, Rachegefühle. Viel überflüssiges Personal. Also ausmisten, sich auf ein Kernteam konzentrieren und klare Strukturen schaffen. Leichter gesagt als getan.

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Zwei Giganten

Der Tag, an dem Wawrinka Nadal besiegt. Da ist die grandiose durchgezogene Rückhand, vielleicht die beste auf der Tour, da sind auch gewaltige Vorhandschläge, wenn der Return des Gegners nur eine gewisse Höhe hat, und Stan the Man schlägt 19 Asse (vielleicht auch mehr). Nadal nimmt eine medical out time, Zuschauer regen sich auf, Wawrinka diskutiert mit dem Hauptschiedsrichter, aber es stimmt schon. Nadal hat was. Wahrscheinlich ist es der Rücken. Dazu die offene Wunde an der Schlaghand. Der zweite Satz geht sang- und klanglos verloren, Nadal, der leidenschaftliche Kämpfer – hinter vielen Bällen rennt er einfach nicht mehr her und seine Aufschläge sind lasch. Er leidet, fühlt seine Ohnmacht und ist den Tränen nah. In solchen Moment wird sein Kindergesicht wieder sichtbar. Gibt er nun auf? Er wartet, bis die Schmerztabletten wirken und das tun sie auch. Nadal gewinnt, was keiner erwartet hat, den dritten Satz. Wawrinka hat seine Linie verloren und nutzt seine Breakchancen nicht, macht im entscheidenden Moment leichte Fehler. Dann gelingt ihm im vierten Satz das Break zum 4:2, aber Nadal kontert mit dem Rebreak und das zu Null. Und wieder macht Wawrinka das Break, 5:3, und das ist es dann. In seinem Aufschlagspiel hat er, dank seiner Aufschläge, keine Mühe mehr.

Bei der Gratulation zu Sieg und Championship der Australian Open legt Nadal beinah zutraulich seinen Kopf an die Schulter Wawrinkas, die ehrliche Pose der Unterlegenheit an diesem besonderen Tag. Zweifellos haben hier zwei Giganten miteinander gekämpft. Auch wenn der eine von ihnen, Wawrinka, mit seinen verstrubbelten Haaren und seiner amüsanten roten Nase, zunächst nicht wie ein Gigant ausschaut.

On Tour (2)

Bielefeld Altstadt. Abends ist mehr los

Bielefeld Altstadt. Abends ist mehr los

Zu meinen Dejá-vu-Erlebnissen in fremden Städten gehört, dass ich ständig Leute sehe, die ich zu kennen glaube. Ich habe sogar eine ganz lebendige Erinnerung an sie. Stimmt natürllich nicht. Hängt aber damit zusammen, dass es in Deutschland (in anderen Ländern sicher auch) einige Grundtypen gibt, die immer wieder auftauchen. Man selbst gehört wahrscheinlich auch so einem Grundmuster an.

Zwölf Minuten Besinnung

Zwölf Minuten Besinnung

Zwischen zehn und elf am Abend suchte ich ausgehungert und durchgefroren ein Thai-Restaurant auf. War ziemlich leer, aber doch erfüllt von der beherrschenden Stimme eines Mannes, der Reisetipps nach Thailand gab. Bangkok, bevor sie den Flughafen dicht machen, Taxi, kann ich euch ’n Tipp geben, scheißegal. Der Gegner sitzt auf den Dörfern und ist noch gar nicht da. Wenn die sich in Bewegung setzen. Scheißegal. Es war der Wirt. Wie sollte der sich in seinem Lokal nicht zu Hause fühlen. Ein fülliger Riese mit dünnem blonden Haar. Eine Seele von Mensch, vom unvermeidlichen scheißegal abgesehen. Die Serviette war zur Lotosblüte gefaltet. Die Köchin hatte der Wirt aus Thailand geholt. Vermutlich auch die detailreiche Reliefschnitzerei an der Wand? Aus Nord-Thailand, sagte der Wirt. Schöne Arbeit.

Mit Begeisterung nennen die Bielefelder ihre Stadt ein Dorf. Gründe gibt es genug für einen Wirt, wenn sein Restaurant am Abend leer ist.

Im Hotel hielten sich vorwiegend riesenhafte, grobknochige Westfalen auf, die zur Erschütterung meiner Vorurteile allerdings schwedisch sprachen. Dafür las ich das Westfalen-Blatt. In Minden waren einem Musiklehrer zwanzig Geigen gestohlen worden. Er kam nach Hause und sah die Bescherung. 120 000 Euro futschicato. Immerhin waren die Diebe, die die Fenster aufgehebelt hatten, gnädig und ließen einige Instrumente zurück, damit der Mann weiter arbeiten konnte. Eine falsche Ärztin wurde in Detmold zu fünf Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Sie hatte Patienten mit falschen Krebsdiagnosen geschockt und für die Behandlung, was man in Anführungsstriche setzen muss, fette Summen kassiert. In einem Bielefelder – ich sag mal – Restaurant kam es in den frühen Morgenstunden eines gewöhnlichen Tags zu einer Schlägerei, an der mindestens zehn Männer und eine Kellnerin beteiligt waren, die schlichten wollte. Sie schlugen und sie traten sich. Eine Gruppe jagte im PKW davon, die andere, bekleidet mit Anzügen und Krawatten, machte sich zu Fuß vom Acker. Der Polizei, die sie stellen konnte, erzählten die vornehmen Herrschaften, dass sie im Lokal Stress gehabt hätten.

Haben immer Hunger und Lust, Kohle auszugeben

Haben immer Hunger und Lust, Kohle auszugeben

Aufstiegschancen

Aufstiegschancen

Die verborgene Seelen-Botschaft der Märchen wird – immer dienstags – vorgetragen. Pfarrer Armin Piepenbrink-Rademacher hält in der Altstädter Nicolai-Kirche Sprechstunde. Die Leute sitzen oder stehen vor den Cafés, einesteils der milden Witterung wegen, vor allem aber dürfen sie hier rauchen. Rekonstruierte Renaissance-Giebel. Spitzgiebel. Solchen Städten sieht man an, dass es ihnen oft gut ging, dass davon etwas bleibt, und dass es ihnen jederzeit wieder gut gehen kann. Ein Mann mit einer roten Jack-Wolfskin-Jacke spricht angeregt und undeutlich mit einer Gruppe Tauben, ohne übelzunehmen, dass sie ihn keiner Antwort für würdig halten. Vor dem traditionsreichen Café Knigge stehen Schülergruppen, um sich mit Überflüssigem zu versorgen. Die Altstadt die Altstadt die Altstadt. Eine einzige Fußgängerzone, kleine Straßen, die ineinander laufen. Königs Feinkosthaus (seit 1891), Buchhandlung „Eulenspiegel”, das Kachelhaus, Brauhaus Joh. Albrecht. Häuser mit langer Tradition und schönen Angeboten. Am Abend sitze ich am Tresen des Brauhauses, das dem Industriebier den Kampf angesagt hat. Die Kampfparolen sind: naturbelassen, unfiltriert, handwerklich gebraut mit Holledauer Siegelhopfen und bayerischem Malz aus Kulmbach. Die Sorten heißen Messing  (hopfig-herbes Helles), Kupfer (malzig-mildes Dunkles) und Leineweber (süffig Mildes). Wenn man so instruiert ist, schmeckt man das auch alles heraus. Feldsteingewölbe, Säulen, Rundbögen, Musikerbildnisse an den Wänden, Frakturschrift, die Technik sieht sehr hausgemacht aus. Heute ist Haxentag. Und nicht umsonst. Die Bielefelder zelebrieren hier ihren Feierabend, genauso wie gegenüber im Kachelhaus, wo kein Tisch mehr frei ist. Herford, ein paar Zugminuten von Bielefeld entfernt, ist eine Textil- und Möbelstadt. Über den Abfallconatinern am Bahnhof eine naive Stadtmalerei, Häuser; Fenster, Türme, Bäume, in großen Fladen fällt der Putz von der Wand und macht das Bild modern. Wenn man so will. Durch Bad Oeynhausen donnert der Verkehr von der Autobahnabfahrt Hannover nach Holland. Riesige Trucks. Eine andere Welt bietet der Kurpark, beinahe unwirklich diese Parklandschaft mit ihren schlossähnlichen Bauwerken. Die Currywurst schmeckt, wie sie immer schmeckt, fern von Berlin. Minden, Restaurant Böhmerwald. Böhmische und Grillspezialitäten, als wenn das eine das andere ausschlösse. Ein feines Restaurant. Zu jeder Bestellung und zu jedem Danke sagt der Restaurantchef: gerne. Nur einmal nicht, als er sich entschuldigt, dass er den Salat zu spät bringt. Wir haben auch schon gelitten, sage ich. Da muss er einfach nur lachen.

Street Art Herford

Street Art Herford

Der Text der Stadt

Was nicht zusammen gehört – oder doch? © Christian Brachwitz

Was nicht zusammen gehört – oder doch?
© Christian Brachwitz

Es gibt eine Broschüre von Michel Butor, „Die Stadt als Text”, 27 Seiten, nicht mehr, aus dem Französischen von Helmut Scheffel, Literaturverlag Droschl Graz-Wien. „Wenn ich zum ersten Mal in eine fremde Stadt komme, … werde ich begleitet, empfangen, verfolgt von Text.”, schreibt Butor, der einer der Helden des Nouveau roman ist und bleibt. Man hat ihm schon was von der fremden Stadt erzählt, er hat einiges über sie gelesen. Man kommt nirgendwohin mit einem leeren Kopf. Und dann sagt Butor: „Unter Text der Stadt verstehe ich zunächst die Unmenge an Aufschriften, mit denen sie überzogen ist.” Schilder, Reklamen. Einen solchen Fall haben wir auch hier. Selbst die Normaluhr ist Text der Stadt. Wir wissen, dass die Bild-Zeitung gern Prominente für sich werben lässt, gerade auch solche, die Bild eher kritisch gegenüber stehen. Was will das Blatt damit anderes sagen als: Wir kriegen euch alle! Wir haben ja auch den Kanzler bekommen, Gerhard Schröder, der mit seinem flapsigen Statement: „Zum Regieren brauche ich Bild, BamS und Glotze” der öffentlichen Meinung ohne Not einen Haken verpasste. Und sie kriegen wirklich alle: den Voyeur, den Hämischen, den Patrioten, den Chauvi, den Onanisten, den Populisten, die Betschwester.

Bild sieht sich auf einer Höhe mit Martin Luther, sie sieht sich als den Mutigen, der eine Wahrheit ausspricht. Gleich neben ihrer Eigenwerbung steht der Behälter für Restmüll. Das alles, auch Gottes Spielregeln für eine gerechte Welt, gehört zum Text der Stadt, an dem wir alle Tage vorübergehen. Wenn mich nicht alles täuscht, spiegelt sich im Glas der Bild-Reklame der Fotograf als unscheinbare, aber allgegenwärtige Hintergrundfigur. So kommt zusammen, was nicht zusammen gehört.

On Tour

Baum in Bielefeld. Die dünnen Striche sind keine Stricknadeln. Sind Zweige.

Baum in Bielefeld. Die dünnen Striche sind keine Stricknadeln. Sind Zweige.

Wenn ich auf Reisen gehe, ist eine kleine undramatische Apotheke im Gepäck. Ich weiß, dass mich Dejá-vu-Erlebnisse erwarten. Das ständige Verlaufen in fremden Städten, obwohl ich mir die Routen ausgedruckt habe, die zwar richtig, aber realitätsfern sind. Im entscheidenden Moment fehlt immer ein Straßenschild wegen irgendwelcher Kaufhäuser, die ihren Auftritt ungestört vortragen wollen.  Die finster-verwirrende Bahnhofsviertel. Jugendgruppen wie in alten Spielfilmen. Nichts zu tun und unternehmungslustig. Irgendwas muss doch passieren. Ineinander verschachtelte Fußgängerzonen. Die Schlussverkäufe haben bei einer gewissen Klientel Betriebsamkeit, wenn nicht Hektik heraufbeschworen. „Denn der Lohn der Sünde ist Tod, die Gnadengabe Gottes aber ewiges Leben in Christo Jesu”, steht auf einem Schild. Der Mann, der es sich umgebunden hat, missioniert in aller Seelenruhe. Bäume, deren kahle Zweige gespinstartige Skulpturen bilden.

Ich beginne die Stadt, die ich durchstreife kreuz und quer, zu mögen. In diesem Fall Bielefeld. Im nächsten Herford. Bad Oeynhausen. Und dann Minden. Das war nicht eingeplant. In meinem Kopf formt sich der Satz: Der alte Westen hat doch einiges zu bieten.

Berliner Rand

Oh, so schön ist Hellersdorf

Oh, so schön ist Hellersdorf

Die U-Bahn endet schon in Kaulsdorf Nord. Ich überlege, ob ich es riskieren kann, die Wartenden auf dem Bahnsteig zu fotografieren. Da ist ein junger Unförmiger, der – mit allerdings sonorer Stimme – selbstgefällig ins Smartphone quatscht. Eine Dame mit einem lebhaften Vorschulkind. Eine große Frau mit einem großen Mund isst ein Baguette. Der Mund ist so abartig groß, dass er beim Kauen das ganze Gesicht in Bewegung setzt. Das sieht sehr unsympathisch aus. Ab und zu prügelt die Frau die Krümel von ihrem Mantel, ich möchte auf keinen Fall mit ihr in einem Wagen sitzen, denn sie ist noch lange nicht fertig mit dem Baguette. Die Sprechstundenhilfe (Schwester Jennifer) fragt mich, wann meine Blutwerte zuletzt untersucht wurden. Ehe ich dazu komme zu lügen, schaut sie nach und sagt, 17. 12. 2012. Ich sage, mir ist eher wie 2013. Nein, nein, sagt sie, nicht vor einem Monat. Vor einem Jahr! Na ja, sage ich, wenn’s mal nicht so voll ist. Oder ist es immer so voll? Nein, ist es nicht. Im Pfennigland gibt es keine Glühlampen mehr. Das ist ja hoffnungslos und macht mir sofort schlechte Laune. Verdammte Europäische Union. Bei Kaiser’s sehe ich Johnny mit einer langen Liste, weil er wieder für seine Schutzbefohlenen einkauft.  Ich geb dir auch mal einen Zettel, dann kannst du auch für mich einkaufen, sage ich. Er hebt noch einmal an, die Sache mit den alten Leuten, um die er rührend besorgt ist, zu erzählen. Der alte Herr ist inzwischen allerdings schon gestorben. Auch Johnnys Hilfsbereitschaft konnte ihn nicht retten. In der Apotheke gerate ich an die unscheinbare junge Frau, die heute auch noch Herpes hat, worüber ich taktvoll hinweg sehe. Der Takt ist meine Spezialstrecke. Moment, sage ich und krame nach dem Rezept, keine Hektik, sagt sie, ist eben Winter, sage ich, klamme Finger, sagt sie, vor allem dicke Klamotten, sage ich. Sie sucht lange im Computer nach den Medikamenten, dann hat sie sie und sagt, das kostet Sie nichts, dann hilft’s wahrscheinlich auch nichts, sage ich, manchen kann man’s auch nie recht machen, sagt sie, ist leider so, sage ich. Draußen schleicht unser alter Jochen vorbei mit zwei großen Tüten, das ist nicht dein Revier, sage ich, und wieso er so viel eingekauft hat, Brötchen, sagt er, Vorratswirtschaft, das reicht jetzt für fünfzig Tage.

Das Publikum unseres Missvergnügens. Zu einem Liedermacher-Konzert waren wir lange nicht mehr. Zuletzt, Jahre her, standen wir uns im Kesselhaus der Kulturbrauerei die Beine in den Bauch und nahmen mit gehobener Augenbraue die Anwesenheit der wenigen übriggebliebenen Ostpolitiker zur Kenntnis, die zu den Menschen herabgestiegen waren, zum Wahlvolk, und meinten, sich so einen Beifall verdient zu haben. Aber dafür können ja die Liedermacher nichts, nein, können sie wirklich nicht, na, vielleicht ein bisschen. Jetzt ging es in die Freiheit 15 in Köpenick. Von den Leuten in der Straßenbahn wusste ich sofort, wen wir gleich beim Konzert wiedersehen würden. Die Freiheit 15 leuchtete rot über die dunkle Spree herüber. Am Ufer saßen ein paar Jungs, die sich eine Kneipe nicht leisten konnten. Die Freiheit 15 wird offensichtlich privatwirtschaftlich betrieben. Garderobe pro Kleidungsstück 1 €, pro Tasche auch 1€ und pro Regenschirm 10 €, ne, der Regenschirm ist ne Erfindung, die sich aber anbot. Außerdem wird ausgeschenkt. Und der von sich selbst recht eingenommene Kulturbürger weiß das zu schätzen. Ein Sektchen, ein Weinchen, ein Bierchen werten die Kultur doch gründlich auf. Wobei Bierchen: Es sind riesige Humpen, die hier gestemmt werden, man könnte sie auch Maß nennen. Der Liedermacher kann darauf reagieren. Wir müssen eine Pause machen, sagt er zu gegebener Zeit. Aus – ich will ganz offen zu euch sprechen – vier Gründen. Der erste: Flüssigkeit fassen. Der Mensch, haben Wissenschaftler herausgefunden, soll ja am Tag 23 Liter Flüssigkeit zu sich nehmen. Und vielleicht haben einige Kunstfreunde bis jetzt erst drei Liter zu sich genommen. Dann sollten sie in der Pause schnell die restlichen 20 Liter trinken. Wir hatten Glück, dass wir in der letzten Reihe zwei freie Stühle bekamen. Wir hatten Pech, dass sich hinter uns ein feister Enthusiast stellte, dessen Beifall mir in den Ohren dröhnte. Einer von denen, die zeigen wollen, dass sie jede Anspielung verstanden haben und dies mit einer fetten Mann-Frau-Lache ausdrücken. Skiunfall der Kanzlerin, Flughafendebakel Schönefeld oder Scheißefeld, alles kapiert, alles belacht …

Heute erwische ich Jochen schon wieder im falschen Quartier. Er schiebt vor dem Netto einen Einkaufswagen mit vier Kästen böhmischem Bier zum Auto. Jetzt reicht’s, sage ich, ich habe doch schon gestern gesagt, nicht dein Revier …, aha, Vorratswirtschaft. Nein, sagt er, Vorratswirtschaft war gestern, das hier ist der tägliche Bedarf.

Rache ist Blutwurst

Oben ohne, totzdem kein Fall für die Kripo. Bahnhofstraße in Bielefeld.

Oben ohne, trotzdem kein Fall für die Kripo. Bahnhofstraße in Bielefeld.

Viel haben wir ja noch nicht, nörgelt der aus dem Urlaub zurückgekehrte Kommissar Perlmann.

Das wird sich jetzt ändern, wo du wieder da bist, lächelt Kommissarin Blum.

Sie duzt ihn, er spricht die Chefin mit Sie an. Das war schon immer so am Bodensee.

Im Tatort aus Konstanz wurden uns zwei Schurken präsentiert, die ihre, ich will nicht sagen: gerechte, Strafe erhielten und die Täterfrage konnte bei reichhaltiger Motivlage lange offengehalten werden. Erst spät erkannten wir, dass wir einem Rachefeldzug beiwohnten. Rache ist Blutwurst. Leberwurst ist Zeuge. Trotzdem war der Film gemütlich. Gemütlicher als ein Krimi, aus welcher Region auch immer, sein sollte. Könnte es sein, dass die Konstanzer uns zu oft schlechte Menschen zeigen wollen, die selber schuld sind, wenn sie umgebracht werden? Und könnte es weiter sein, dass die Filmkünstler in der Bodenseeregion große Mühe haben, das Milieu schlechter Menschen glaubwürdig und eindrucksvoll zu inszenieren? Wenn man diese Fragen mit ja beantwortet, müsste man ihnen raten, sich in Zukunft andere Schwerpunkte zu suchen.