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Posts Tagged ‘S-Bahn’

Wie der Schwabe Ost-Berlin eroberte

Berlin Friedrichstraße. Hier können Schwaben ihre Geschäftspartner verfehlen
© FJK

In der S-Bahn ein nervöser Schwabe, das Handy an Ohr und Mund, der Blick auf das Nahverkehrsschema gerichtet. Aufgeregt und laut berichtet er, dass er sich jetzt in „Berlin-Karlschhorscht” befinde und nach Berlin-Friedrichstraße fahren müsse, ob man sich dort treffen wolle, und dann zählt er vor aller Ohren die Stationen von „Karlschhorscht”, was für ihn wohl ähnlich beängstigend klingt wie „Schteppe“, bis Friedrichstraße ab. Als das erledigt ist, geht er zurück zur Sitzbank mit seinen zwei Gepäckstücken und pendelt mit dem rechten beängstigend gegen meine Sitzbank. Er hört damit wieder auf, aber nur, um heftig mit dem Oberschenkel zu vibrieren. Mein Gott, was ist denn so aufregend! Berlin ist letztlich eine normale Stadt, die S-Bahn ein praktikables Verkehrsmittel. Muss man denn alle Leute im Wagen verrückt machen? Kann man sich nicht zügeln? Der Schwabe rennt abermals durch den Wagen, steigt wieder ein ins Selbststudium des Berliner Nahverkehrsschemas. Hat er sich vielleicht doch verzählt, vorhin, als er die Zahl der Stationen angab? Stimmen Karte und Wirklichkeit überein oder hat die, nein nicht die, sondern der Stasi, der sicherlich nicht tot ist, ihm, dem Schwaben, einen Falle gestellt? Er greift wieder zum Handy und ruft die Firma, die Basis seines Trachtens und Fühlens, an. Ja, hallo, ich muss noch mal „de Herrn Vetter spreche”. Nach Minuten bangen Wartens stellt sich heraus, dass der Herr Vetter nicht an seinem Platz ist. Macht nichts. Ruf ich später noch mal an. Dann meldet sich aber der Herr Vetter seinerseits. Ich wollt mich nur noch mal für die Verpflegung bedanke, trompetet unser schwäbischer Held glücklich durch den Berliner S-Bahnwagen, war allesch wunderbar. Wir sind jetzt kurz vor Friedrichstraße, dem Ziel der Ziele. Ich muss aussteigen und kann nicht mitverfolgen, wie der Held aus Schwaben seine Verabredung auf dem östlichen Territorium Berlins verfehlt. Denn dass er sie verfehlen muss, ist sicher.

Helden des Ostens (8): Rentnerinnen in Fahrt

Tritt ein in die Bahn. Vielleicht triffste ja Bekannte.
© FJK

1988. Morgens in der S-Bahn. Zwei Rentnerinnen, ein Blumenstrauß.

Ich bin ja nu ooch achtzig. Warum sollst du dit nich ooch schaffen. Vielleicht schaffste ooch wie der inner Zeitung, 115 Jahr wurde der. Ick sare, der hat bestimmt die Biere mitgezählt, die er jetrunken hat.

Mein Mann is jetzt 25 Jahre tot. Ick frage mich, wo sind die Jahre hin, wie hab ick die umme Ecke jekriegt.

Mein Mann wird jetzt ooch zwanzig Jahre tot, ja, wo sind die Jahre jeblieben! Mein Schwager ooch, der starb wegen Herzinfarkt, der starb nur zwanzig Minuten, denn war er tot.

Meine Tochter ist jetzt ooch jefahren. Ich dachte, sie darf nicht, aber denn durfte sie doch. Aber acht Tage, det is ja ne Strapaze, einen Tag hin, eenen Tag zurück anne holländische Grenze, aber wenigstens hat se’s jesehen. Dann war se aber froh, wo se wieder zu Hause war.

Det versteh ick. Is ja janz schön, aber denn: Wat soll ick da. Ick hab hier meine Kinder, ick hab hier meine Enkel, ick hab hier meine Gräber, wat soll ick da!

So geht’s uns ja noch gut. Wir können zufrieden sein. Die Ärzte, die probieren ja ooch nur aus, die wissen ja ooch nüscht. Denn sagense, wir probieren mal det und mal sehen, wie es denn is. Denn isset schon besser. Man macht det so, wie man selber fühlt und macht det so.

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War es Kunst?

Die Oper ist überall. Hier: Leipzig, Buchmessezeit
© ADe

Bin ich in der Bahn oder in einem Albtraum. Der Zug fährt los. Der Mann gegenüber schreit. Oder singt. Es ist ein magerer Bursche, vielleicht dreißig, spillrig, vorzeitiger Haarverlust, der Kopf hochrot, fleckig und verschwitzt, wie es bei dünnen Männern selten vorkommt. „An die Baum klettern”, das ist sein Text. Er singschreit ihn mal triumphierend, mal lyrisch, mal aggressiv. Er springt auf, schreitet zum Nachbarn links, „an die Baum klettern”, hackt dabei mit dem Arm durch die Luft. Dann bin ich dran, ich spüre seinen Atem und höre den abgewandelten Text „an der Baum klettern”, und immer wieder „an der Baum klettern”. Den nächsten Halt nutze ich, um mich umzusetzen, ich habe Egon Friedells Kulturgeschichte Griechenlands dabei und begreife keinen einzigen Satz. Ich sehe den Burschen jetzt aus der Distanz, er schreit triumphal „an den Baum klettern”, diese Formulierung scheint ihn grammatikalisch nicht zu überzeugen, er gibt sie auf und kehrt wie erlöst „an der Baum klettern” zurück. Extreme Stimmungsschwankungen. Manchmal scheint er sich wie Rumpelstilzchen in der Luft zerreißen zu wollen, und jetzt bietet er einen Zweiklang an, „Baum Arschloch, Baum Arschloch”.

Ostbahnhof endet der Zug. Die Wartenden am Bahnsteig sind ein neues Publikum, es geht jetzt so: „ein schlanker Baum, ein schlanker Baum”. Die Anschlussbahn fährt auf dem Nachbarbahnsteig, der Sänger hüpft die Treppe runter, „an der Baum klettern”, und plötzlich ist er verschwunden. Ruhe kehrt ein.

Kein Mensch hat auf ihn reagiert. Was war das? War es richtig, den Mann zu ignorieren, wie wir alle es getan haben?

Kann das nicht ein Freiluftexperiment gewesen sein? Eine zeitgenössische Oper mitten in der Stadt? Die Inszenierung verlässt den Kunsttempel und begibt sich in den öffentlichen Raum? Ging es um Interaktion, hätten wir Mitakteure sein können? Warum haben wir das Duett verweigert? „An der Baum klettern” – „Keiner Baum wachsen. Keiner Baum wachsen. An der Wand schleichen.” Warum sind wir so unkreativ? Bei der nächsten Gelegenheit werden wir moderner sein. Vielleicht. Womöglich.

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Der Schlaf des Gerechten (8)

Wer schläft sündigt wahrscheinlich nicht © Fritz-Jochen Kopka

Wer schläft sündigt wahrscheinlich nicht
© Fritz-Jochen Kopka

Am Ostkreuz versucht ein Typ verzweifelt, sich anrempeln zu lassen, um dann explodieren zu können, zweimal hat er’s fast geschafft, aber die Leute ziehen kurz die Schulter ein oder machen einen Ausfallschritt, und die tickende Zeitbombe vom Dienst muss es weiter versuchen. In der S-Bahn dann liegt direkt neben der Tür ein Mann und schläft den Schlaf des Gerechten. Gerechter als er kann keiner sein. Man sieht seinem Gesicht an, dass er schöne Träume träumt. In seiner Nähe befindet sich keine leere Schnapsflasche, sondern ein gemütlicher Becher Coffee to go, Hose und Schuhe sind die eines Freizeitsportlers. Die Schuhbänder hat der Gerechte sorgfältig gelöst, nachdem er den Kaffee getrunken hatte und die Schläfrigkeit nach ihm griff. Sicher ist er zu warm angezogen für die S-Bahn, besonders die Schlumpfenmütze sorgt dafür, dass seine Ohren sich röten. Besser als frieren ist das allemal. Warum kommt mir jetzt das Benn-Gedicht in den Sinn, in dem es heißt: Sie aber lag und schlief wie eine Braut am Saume ihres Glücks der ersten Liebe? Wahrscheinlich doch, weil sich auch beim Anblick dieses Mannes der Eindruck einer schönen Harmonie einstellt. Es ist die frühe Abendstunde. Auf den Bänken neben dem Gerechten hat sich eine schwedische Jugendgruppe niedergelassen. Andere Länder, andere Sitten, scheinen die unaufgeregten Schweden zu denken, so lebt man also in der Partystadt Berlin, man schläft im Fahren neben der Tür. Als sie die Bahn Jannowitzbrücke verlassen, steigen sie behutsam über den Schläfer hinweg. Die Party hat noch nicht begonnen. Ach, wenn ihr doch alle so schliefet …

Der Pyrrhus-Sieg des Ökofreaks

Irgendwat is immer mit der Bahn

Irgendwat is immer mit der Bahn

Die Bahn fährt nur bis Ostbahnhof. „Aus diesem Zug alle aussteigen”, heißt es dann aus dem Lautsprecher, und die Leuchtschrift mahnt: Bitte nicht einsteigen. Es dauert eine Weile, bis auch der Letzte noch den Zug verlassen hat. Ein uniformierter Mitarbeiter geht prüfend durch die Wagen und gibt dem Fahrer das Zeichen. Alles in Ordnung. Die Bahn klingelt ab und fährt an, aber dann kommt noch ein bärtiger, hagerer Ökofreak angerast und schafft, was man normalerweise nie schafft: reißt die Tür auf, springt in den Wagen, die Bahn stoppt, die Tür schließt wieder, die Bahn fährt weiter und der Freak landet nun auf irgendeinem Abstellgleis. Hier zeigt sich die Fragwürdigkeit des Erfolgs.

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Ein Hero aus dem Schwabenlande

Wie soll man sich hier zurechtfinden

Wie soll man sich hier zurechtfinden

In der S-Bahn ein nervöser Schwabe, das Handy an Ohr und Mund, den Blick auf das Nahverkehrsschema gerichtet. Aufgeregt berichtet er, dass er sich jetzt in „Berlin-Karlschhorscht” befinde und dass er nach Berlin- Friedrichstraße fahren müsse, ob man sich dort treffen wolle, und dann zählt er vor aller Ohren die Stationen von „Karlschhorscht”, was für ihn wohl ähnlich beängstigend klingt wie „Schteppe“, bis Friedrichstraße ab. Als das erledigt ist, geht er zurück zum Platz mit seinen zwei Gepäckstücken und pendelt mit dem rechten gegen meine Sitzbank. Er hört damit wieder auf, aber nur, um heftig mit dem Oberschenkel zu vibrieren. Mein Gott, was ist denn so aufregend! Berlin ist letztlich eine normale Stadt, die S-Bahn ein praktikables Verkehrsmittel. Muss man alle Leute im Wagen verrückt machen? Kann man sich nicht zügeln? Der Schwabe rennt abermals durch den Wagen, steigt wieder ein ins Selbststudium des Berliner Nahverkehrsschemas. Hat er sich vielleicht doch verzählt, vorhin, als er die Zahl der Stationen angab? Stimmen Karte und Wirklichkeit überein oder hat die, nein nicht die, sondern der Stasi, der sicherlich nicht tot ist, ihm, dem Schwaben, einen Falle gestellt? Er greift wieder zum Handy und ruft die Firma, die Basis seines Trachtens und Fühlens, an. Ja, hallo, ich muss noch mal dä Herrn Vetter spreche. Nach Minuten stellt sich heraus, dass dä Herr Vetter nicht an seinem Platz ist. Macht nichts. Ruf ich später noch mal an. Dann meldet sich aber der Herr Vetter seinerseits. Ich wollt mich nur noch mal für die Verpflegung bedanke, trompetet unser schwäbischer Held glücklich durch den Berliner S-Bahnwagen, war allesch wunderbar. Gut zu wissen für uns alle.

Wir sind jetzt am Hackeschen Markt. Ich muss aussteigen und kann nicht dabeisein, wenn der vorzüglich verpflegte Held aus dem Schwabenlande seine Verabredung auf dem östlichen Territorium Berlins verfehlt. Denn dass er sie verfehlen wird, ist sicher.

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So gleichen sich Alptraum und Wirklichkeit

Am Hackeschen Markt stieg ich aus. Vom hinteren Aufgang kam eine junge, sportliche Frau angerannt. Der Tag war regnerisch. Die Bahn klingelte ab, aber die Frau wollte noch rein. Sie erwischte den Griff der letzten Tür und wollte rein springen, aber dann rutschte sie aus und fiel auf den Rücken. Der Hand ließ irgendwie die Tür nicht los. Die Tür schloss, der Arm war bis zum Ellenbogen im Wagen, die Frau lag draußen. Und erst jetzt sah sie, was los war. Todesangst breitete sich aus. Wir winkten wie verrückt in Richtung Fahrer, aber die Bahn fuhr an. Die Todesangst eskalierte noch mal, wir brüllten und fuchtelten mit dem Armen, die Frau wurde ein Stück mitgeschleift, sechs Leute versuchte von beiden Seiten mit Leibeskräften die Tür aufzuziehen. Da hielt die Bahn an. Die Frau war wieder frei. Sie wurde aufgerichtet. Was noch hinzukam: Sie war schwanger. So etwas möchte man nicht einmal im Alptraum sehen. Ermutigend war nur die Solidarität der Leute, die zufällig an diesem Ort standen. Keine Fotografen, keine Voyeure dabei. Vier Menschen umringten die Frau. Kein Gejammer, keine Vorhaltungen. Eine Frau sah der Verunglückten in die Augen und sagte: Atmen Sie ganz tief, ganz ruhig ein.

Wenn es irgend geht, können wir uns selbst helfen. Zuvor helfen wir uns, indem wir nicht auf fahrende Bahnen aufspringen. Niemals. Eines der Gesetze der Großstadt. Wenn wir die Zeit nicht haben, haben wir gar nichts.

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S-Bahn-Abenteuer

Die nächste S-Bahn kommt bestimmt

Die nächste S-Bahn kommt bestimmt

Donnerstag lasse ich mich auch durch mich nicht mehr abhalten und fahre in die Stadt, es sind nur zwanzig Minuten bis zum Alexanderplatz. Am Ostbahnhof gibt es einen Zwischenfall. Drei Seniortouristen betreten die wartende S-Bahn und wollen forsch ihre Fahrkarten entwerten, ein Mann und zwei Frauen, die offenkundig des Schutzes des Mannes im Moloch Großstadt bedürfen. Als er im Wagen keinen Entwerter entdeckt, wird der knorrige Senior ungnädig und fragt die Insassen in ihrer Gesamtheit um Rat.

Es gäbe so viele Möglichkeiten zu antworten. Warten Sie nur auf den Schaffner. Oder: In Berlin fährt man eigentlich immer schwarz. Oder: Man beißt einfach ein Loch in den Fahrschein. Oder: Man lässt seinen Fahrschein von einem Passagier seiner Wahl mit dem Kugelschreiber abzeichnen.

Wir aber sind ohne Arg und sagen hilfsbereit: Draußen, auf dem Bahnsteig, und zeigen dem Führer der kleinen Gruppe die roten Apparate. Der Held aus der Provinz schüttelt nur das Haupt über solche Umständlichkeiten (Scheiß-Berlin)(Und sowas nennt sich Hauptstadt). Er bedeutet den Frauen, sich zu setzen, strafft seine Gestalt und sagt, dass er noch einmal hinausgehen werde, um die Entwertung der Fahrscheine persönlich vorzunehmen. Die Frauen haben aber Angst ohne ihn im bösen Berlin und folgen ihm nach. Und schon fährt die Bahn ab. Über das weitere Schicksal der kleinen Gruppe in der großen Stadt ist uns nichts bekannt.

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Der Russe kauft die Berliner S-Bahn

Reicher Russe beim S-Bahn-Kauf. Kohle in der Reisetasche (links unten)

Reicher Russe beim S-Bahn-Kauf. Kohle in der Reisetasche (links unten)

Das war ein Aprilscherz vor zwei Jahren. Inforadio berichtet, dass die S-Bahn an ein russisches Konsortium verkauft wird. Lustig? Der Berliner regt sich mächtig auf. Wut, Angst und Schrecken bemächtigen sich seiner. Er ist zwar keineswegs zufrieden mit der S-Bahn. Züge fallen aus, die technische Sicherheit ist nicht gewährleistet, irgendwas ist mit den Bremsen, ach, irgendwas ist eigentlich immer. Türschäden, drangvolle Enge, zu wenig Personal, das einzige, was funktioniert, sind die Fahrpreiserhöhungen. Aber die S-Bahn in der Hand der Russen? Unmöglich. Da fällt dem Berliner plötzlich ein, dass er seine S-Bahn liebt. Die traditionsreichen gedeckten gelb-roten Farben. Dass sie doch eigentlich immer da ist, seine S-Bahn. Dass er sich in ihr unter Berlinern und Gästen doch immer auch aufregen und amüsieren kann. Dass er Gelegenheit bekommt, die berühmte Berliner Schnauze zu hören und selbst hören zu lassen. Die Obdachlosenzeitungsverkäufer! Die Betrunkenen! Die Liebespaare! Die Dünkelhaften! Die Geschäftigen mit ihren Laptops! Die Schwatzhaften mit ihren verdammten Handys! Die Schmatzer mit ihren Äpfeln! Die Hungrigen mit ihren stinkenden Dönern! Die Hilflosen, denen er den Weg und die eigene Überlegenheit zeigen kann! Die Kontrolleure, die er  hier doch sofort erkennt! Der Pendelverkehr! Der Ersatzverkehr! Das alles ist doch Heimat, Freunde!

Und das sollte nun, an einem 1. April vor zwei Jahren, dem Russen gehören! Marode Züge, marode Gleisanlagen. Machorkageruch. Katjuschagesänge. Chaos. Anarchie. Nur die Trinker freuten sich und glaubten fest daran, dass es in den Wagen Freiwodka geben würde, zumindest im Einführungsjahr.

Die Abstoßungsmechanismen waren so groß, dass der Berliner vergaß: Es ist ja 1. April.

Dafür kauft der Russe jetzt die Schlecker-Kette. Dagegen hätten wir wohl nichts. Schon gar nicht die leidensfähige Schlecker-Frau.

Joyce in der S-Bahn

Berlin Alexanderplatz. Alle noch zu dick angezogen.

Am 23. Februar ist es mild in Berlin, die Leute nehmen das Wort Frühling in den Mund, und die S-Bahn ist total überheizt. Ein Rentnerehepaar hat sich der Mäntel, Mützen und Schals entledigt und sitzt auf den Bänken wie auf dem heimischen Sofa, hochroten Hauptes. Die Hitze in der Bahn stimmt die Leute verdrießlich.  (Erstaunlich, was sich die Deutsche Bahn einfallen lässt, um den an sich vorbildlichen S-Bahn-Verkehr zum Ärgernis zu profilieren: zu kalte Züge, zu heißen Züge, Türschäden, man kommt nicht rein, man kommt nicht raus, sich über Jahrzehnte hinziehende Bauarbeiten, Pendelverkehr, Fahrscheinkontrollen nach dem Fußballspiel, dämliche Ansagen; mal legt sie das Programm „Unerwünschte Nähe” auf, und wenn sie dann gar keine Idee mehr hat, erhöht sie die Fahrpreise, purer Aktionismus) Der Rentner, dem der Schweiß ausbricht, äußert sich aber nicht über die Bahn, die ihm gehörig einheizt, sondern über Privatsachen. „Ich hätt nicht gedacht, dass der Wolfgang so’n Angsthase ist. Weiter geht’s. Alles nicht so schlimm.” Und die Rentnerfrau wackelt mit dem Kopf. Dann müssen sie umsteigen, wie wir alle, denn die S-Bahn pendelt. Vorher sich wieder ankleiden. Man hilft sich gegenseitig. Mann und Frau sollen zusammenstehen, über den Honigmond hinaus.

Ich sitze in der Bahn und lese den „Ulysses”, sieht hoffentlich nicht angeberisch aus. Wäre auch falsch. Anthony Burgess zum Beispiel nennt James Joyce einen Schriftsteller für das Volk. „Joyce’ Ziel war es, den gewöhnlichen Menschen zu erheben, und der beste Weg dazu war es, den gewöhnlichen Menschen selbst reden zu lassen… Diese Vorliebe, wenn nicht gar Obsession, für das Alltägliche ist es, die Joyce dem einfachen Leser wärmstens anempfiehlt. Niemand in seinen Büchern ist reich oder hat Beziehungen nach oben…, kein Schauplatz, den wir betreten, ist exotischer als eine Kneipe oder eine öffentliche Bibliothek.”

Mir gegenüber sitzt ein Mädchen mit halb geschlossenen Augen, in die Klänge des iPods vertieft, schon etwas exotischer als eine öffentliche Bibliothek. Passagiere betreten mit Erobererblicken die Bahn, eine Frau pflanzt sich neben mich, knallt die Tasche auf den Sitz, reißt sich den fetten Mantel vom Leibe, um ihn sich unterzulegen, damit sie’s gemütlich hat („Fühlen Sie sich nur wie zu Haus”), ja, sie möchte, dass das schmale Mädchen sich noch kleiner macht, damit sie, die Dicke, sich nicht einschränken muss, aber das Mädchen reagiert nicht. „Hat Kopfhörer auf”, sagt die Dicke, „so was Dämliches”. An dem Mädchen prallt zum Glück alles ab („der Teenager im höchsten Stadium seiner Unerreichbarkeit”), mein solidarisches Lächeln nimmt sie allerdings entgegen, die dicke Frau kann sich nicht räkeln in der Bahn, wie sie es gern möchte.

„Ein Bruder wird so leicht vergessen wie ein Regenschirm”, heißt es gerade im „Ulysses”. Alles passt zu allem. Wenn ich bloß wüsste wie. Der Ulysses erzählt ja in zwei dicken Bänden einen Tag im Leben des Anzeigenakquisiteurs Leopold Bloom. Ein Tag, der so lang ist wie ein Leben und so groß wie die Welt. Solche Tage erleben wir alle.

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