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Archive for Oktober 2019

Mit der Faust

Irgendwo im Osten

Land unter oder irgendwo im Osten
© FJK

Vor einem Jahr erregte das erste Buch eines jungen Sachsen Aufsehen im Literaturbetrieb: „Mit der Faust in die Welt schlagen” von Lukas Rietzschel. Wenn ich den Text jetzt so lese, ist eben das schwer nachzuvollziehen. Die Power des Titels setzt sich im Werk nicht fort. „Da waren eine Grube und ein Schuttberg daneben.” So fängt das an. Vater, Mutter und zwei Söhne erfüllen sich den Traum vom Eigenheim. Die Jungs heißen Philipp und Tobias (Tobi), die Eltern kommen als Herr und Frau Zschornack vor, als Elektriker und Krankenschwester. Der Vater entschwindet irgendwann mit der Nachbarin und das Wort Traum ist fehl am Ort, die Figuren Rietschels träumen nicht, sie arbeiten, gehen zur Schule, besuchen die Verwandtschaft, zünden Silvesterraketen und hauen eben mit der Nachbarin ab. „Mutter sagte den ganzen Abend nichts.” Die interessanteste Gestalt ist wohl  Uwe, der dem Vater der Jungs beim Hausbau hilft, Uwes Frau ist zu einem besseren Leben im Westen geflohen und hat Uwe auch noch angezeigt (häusliche Gewalt), Uwe trinkt und steht unter Stasiverdacht, ist so isoliert und heruntergekommen, dass er sich mit seinem PKW ins Wasser fährt. 

Rietschels Ambition ist die Einfachheit, keine Reflexion, keine Grübelei, klare, oft elliptische Sätze. Was hat nun dem Roman sein Renommee eingebracht? Da habe ich einige Zeit gebraucht, um dahinter zu kommen, aber es ist wohl so: In diesem Buch findet sich genau jene Trost- und Ereignislosigkeit, die sich der Westler vom Osten wünscht und die ihm hier von einem, der es wissen muss, frei Haus serviert wird. Es erscheint keine Figur, die in der Lage wäre, über den Tellerrand hinauszuschauen oder dieses auch nur wollte. Geistig-kulturelle Ödnis und Übergewicht. Wie die Eltern so die Söhne. Philipp ohne Antrieb, ohne Plan, bestenfalls Mitläufer. In Tobi findet sich die Fremdenfeindlichkeit des Ostens. Er schließt sich einer Gruppe an, die ab und zu Anschläge auf Flüchtlinge begeht. Im Kopf dieser jungen Männer spielt sich etwas Eigenartiges ab: Die Abgehängten sehen sich als eine Elite, die die Zeichen der Zeit begreift. Die Ausländer nehmen uns unser Land weg. Wir sind die Einzigen, die das verstehen, die Einzigen, die handeln, die dumpfe Masse schläft und wenn sie aufwacht, ist es zu spät. Daher speist sich wohl unter anderem das Selbstbewusstsein der Wahlgewinner im Osten, auch wenn sie es noch nicht auf den ersten Platz schaffen. 

Phoenix, Clown und Killer

Joker unter uns
© FJK

Dienstagabend Berlin. Alexanderplatz. Ist das jetzt noch Oktoberfest oder schon Weihnachtsmarkt? Keine Blasmusik. Der Sound kommt aus Südamerika. Die Touris sind intensiv mit ihren Selfies beschäftigt. Ich ich ich. Vor diesem oder jenem Hintergrund. Das schick ich jetzt mal nach Hause und überallhin, damit jeder weiß, wo ich bin.
Die Stadt ist auch in der Dunkelheit noch rotweiß. Diese irrsinnigen Absperrungen. Wo ich bin und wohin ich komme, überall sind die Straßen aufgerissen. Ich glaube nicht, dass die Autoindustrie die meisten deutschen Arbeitsplätze bietet, die meisten Arbeitsplätze müssen etwas mit Rohren zu tun haben. Mit Straßen, Rohren und Leitungen, die produziert und verlegt werden.

Ich ich ich

Nichts Genaues sieht man nicht

Im Kino International, das auch mit Bauzäunen versperrt und eher labyrinthisch zu erreichen ist, klärt meine Nachbarin mich Ahnungslosen auf, was es mit Batman, Joker, Gotham City und The Dark Knight auf sich hat. Ich sehe solche Filme normalerweise nicht (was ein Fehler sein könnte). Der neue Film, „Joker”, erzählt die Vorgeschichte: Wie Joker oder Arthur Fleck zum bösen Gegenspieler von Batmann, zum Killer wurde. Das Kino ist voll, die Werbung ist endlos. Ganze Gruppen, Schwarze, Weiße, Gelbe, Braune, haben sich eingefunden, und niemand, jedenfalls niemand in unserer Nähe, hat einen Eimer Popcorn dabei. Ab und zu geht ein Handy-Licht an, aber an sich nimmt uns der Film schon gefangen; ich merke die beträchtliche Überlänge nicht.
Die schlauen Medien behaupten, der Film komme in Deutschland zur rechten Zeit heraus; nach den antisemitischen Morden in Halle. Er erkläre uns angeblich, wie es zu solchen Taten kommt. Es sind die Versager, die Verlierer, die unsere Gesellschaft gebiert, die irgendwann durchdrehen und zuschlagen. Wenn es so wäre, müsste es noch viel mehr Mord- und Totschlag geben. Und die Geschichte des Jokers ist viel zu speziell, als dass sie sich vereinnahmen ließe.
Joaquin Phoenix ist der Joker, einer der ersten Schauspieler unserer Zeit. Ich habe ihn beleibter in Erinnerung, er muss schmerzhaft gehungert haben für diesen Film. Wir sehen ihn oft, wie er sich für seine Clownsauftritte schminkt, der nackte Oberkörper, der Rippenbogen steht extrem ab, wie eine Waffe. Er ist ein Comedian, dessen Witze nicht zum Lachen herausfordern, die aber irritieren könnten, wenn nicht alles so überdreht und überhitzt wäre in Gotham City. Für die Leute, die Straßen und Bahnen bevölkern, ist er das willkommene Opfer. Sie schlagen ihn mit seinem Werbeschild zu Boden und bearbeiten ihn mit Füßen.
Was sagt er: „Ich habe ausschließlich negative Gedanken.” Was sagt er noch: „Mein ganzes Leben war mir nicht klar, ob ich überhaupt existiere.”
Ich habe das schon einige Male an mir beobachtet, und ich gebe zu: Es gefällt mir, wenn der Gepeinigte endlich zurückschlägt. Aber damit ist eine Grenze überschritten. Dann kann er nicht mehr anders, und dann wird es mir doch zu viel. Dieses Zurückschlagen wird Arthur Fleck erst möglich, nachdem seine Kollege Randall ihm eine Pistole zugesteckt hat. Die ist die Erklärung dafür, dass der Joker nach den ersten Toten diesen Randall besonders grausam mordet. Mit dem Besitz der Pistole hat sich das Schicksal des sanften psychisch Kranken gedreht, danach ist nur noch der Zwerg vor ihm sicher: „Du bist der Einzige, der jemals gut zu mir war. Hau ab.”
Das Fernsehen bringt die absurde Gestalt, weil sie Quote bringen könnte, auf die Bildschirme. Der Clown wird Massenphänomen. Der Aufstand der Versager hinter Clownsmasken bricht los.
Im Kino kommt die Gefahr akustisch von allen Seiten, das bewegte Bild nur von vorn. Am Ende gibt es einige Versuche, in Beifall auszubrechen. Aber das wäre nicht das richtige Statement für diesen Film von Todd Phillips mit einem Joaquin Phoenix, dessen Leistung irdisch und überirdisch ist.
Ich gehe durch die dunkle Schillingstraße zur Bahn. Gotham City steht für New York. Die Stadt, die trotz Müll- und Rattenplage nicht aufhören kann, sich zu amüsieren. Kann aber genauso für Berlin stehen, auch wenn die Straßenschluchten hier nicht so abgründig sind, die Stufen nach unten nicht so steil und die Clowns ohne Masken rumlaufen.

Die Unfertigkeiten seiner Welt

Oktober 12, 2019 1 Kommentar

Kleines Chaos in Ilmenau
© Christian Brachwitz

Was ich zur Eröffnung der Brachwitz-Ausstellung in der Galerie Helle Coppi sagte:

Brachwitz begehrte, in Babelsberg Kamera zu studieren. Wurde abgelehnt, ging nach Buna Schkopau und ins KWO Berlin, wo er sich Fotoarbeiter nannte, kam zum Sonntag, der kulturpolitischen Wochenzeitung, die keine Botschaft, aber einen Boten hatte, der sich allerdings Kurier nannte, und dann, 1983, 84, fuhren wir los, nach Köpenick und kreuz und quer in Berlin, nach Hertefeld im Löwenberger Land, nach Gransee, nach Königs Wusterhausen, Halle, Zwickau, Neubrandenburg, nach Kalbe/Milde und Tangermünde, nach Eisenach, in Dörfer, die es vielleicht nicht mehr gibt. Nach überall. Während ich im Hotel die Texte sortierte, ging Brachwitz auf die Straße. Da hatte er keinen Auftrag und kein Konzept, sondern nur noch das Prinzip unbeteiligter Wahrnehmung und ein gewisses Lächeln, das die Leute für ihn einnahm. Kann ein Mensch freier sein und das in der DDR.

Später stahl das Theater oder konkret Alexander Lang ihn der Straße, er war nun ein Theaterfotograf. Es war auch nicht so schwer, ihn zu klauen. Der Chefredakteur der Zeitung kriegte doch jedes Mal einen Zinken, wenn er Brachwitz’ Bilder sah: Da sind doch gar keine Genossen drauf! Keine Helden der Arbeit! Keine Erbauer des Sozialismus! Trotzdem rutschten die Bilder ins Blatt. Sie zeigten Alltagsmenschen, die man nicht aus der Welt schaffen konnte und nicht aus der Republik. Das war der Sieg des Reellen über die Ideologie, der unauffällige Triumph der Ohnmacht über die Macht, wobei man, wie wir jetzt wissen, beide Begriffe in Anführungsstriche setzen muss. Aber die Straße versuchte Brachwitz zurückzuholen. Die Straße, ihr Licht und ihr uninszeniertes Theater. Wo der Alltagsmensch er selbst ist und auch Darsteller einer erwünschten Rolle. Kinder noch ungenierter als Erwachsene. Frauen noch ambitionierter als Männer. Homos noch exaltierter als Heteros.

Von uns diskreten Unberühmten ist Brachwitz, Jahrgang 53, der Nachhaltigste. Ich erkenne fünfunddreißig Jahre alte Bilder sofort wieder, sie sind historisch, aber auch gegenwärtig, und manche sind Ikonen geworden. Die Wege der Kindheit sind weit. Muss man sie nicht unendlich nennen: Der Junge auf dem Fahrrad, das Mädchen mit dem Puppenwagen, beide in leichter Schräglage. Kippt die Welt, zur Seite, nach rechts? Der Schritt des Halbwüchsigen ins Neubaugebiet. Hat man je so etwas Unfertiges, Unaufgeräumtes gesehen. Ja. Alle Tage. Der dämonische Glatzkopf auf einer Brache in Ilmenau vor einem maroden Wirtschaftsgebäude mit fahrig nachverputzten Fugen. Reste einer Umzäunung. Ein abgestorbenes Bäumchen. Einen Totbaum zerrt der Dämon zum Feuer. Im Einsamen köcheln die Aggressionen. Was soll das nur werden, wenn es fertig ist. Aber es wird ja sowieso nicht fertig. Brachwitz fotografierte die Unfertigkeiten seiner Welt. Die Dialektik des Unfertigen.

Das ist nun die Gelegenheit, vom bedauerlichen Siegeszug der Farbe und vom glorreichen Untergang von Schwarz-Weiß mit allen seinen Graustufen zu reden. Jeder Fortschritt hat seine Nachtseite. Die Welt wird auf dem Farbfoto farbiger, als sie je sein kann. Deshalb sage ich, im Schwarz-Weiß-Bild steckt mehr Wahrheit. Oder sagen wir nicht Wahrheit, das Wort ist so abgekämpft, sagen wir Erkennbarkeit. Im Schwarzweißbild ist mehr Erkennbarkeit, vor der uns das Farbfoto schützt. Schönen Dank auch. Und der Untergang des Schwarz-Weißen ist glorreich, weil: Die Bilder sind ja da. Die Bilder bleiben. Auch nach weiteren fünfunddreißig Jahren werden wir Brachwitz’ Bilder wiedererkennen. Sofort. Unverzüglich.

Das Ohr am Gleis

Irgendwo in der Altmark
© Christian Brachwitz

Wir sind vor den Toren von Kalbe/Milde, einer ziemlich kleinen Stadt mit einem ziemlich großen Kulturhaus in der Altmark, und wir sind unter Kindern. 1983. Das Mädchen legt das Ohr auf die Schiene, das rechte Ohr verschließt sie mit der Hand. Sie ist hochkonzentriert, scheint sicher zu sein, dass eine imaginäre Ferne ihr eine Botschaft senden wird. Was entfernt sich von uns, was kommt auf uns zu. Sie wird es ihren skeptischen Freunden mitteilen, auch wenn sie nicht weiß, ob sie die richtigen Worte finden wird, damit sie ihr glauben. Das ist ja das Problem aller Propheten.

Dieses und einige andere Fotos von Christian Brachwitz auf schönen Silbergelatine-Abzügen sind ab morgen, dem 10. 10. In der Galerie Helle Coppi (www.coppi.de), Auguststraße 83 in Berlin Mitte zu sehen. Außerdem Malerei von Sibylle Prange und Skulpturen von Michael Jastram. Beginn der Eröffnung 18 Uhr.

Es gibt auch Erfolge

Oktober 7, 2019 2 Kommentare

Güstrow. Gegenüber dem stämmigen Bahngebäude befand sich das Café Zuch, Café Einheit, Café Pfefferminzlikör
© FJK

Die Presse (FAS) überraschte am Wochenende mit einem Bericht vom Siegeszug des ostdeutschen Pfefferminzlikörs. Nordbrand Nordhausen und Schilkin Ostberlin hauen jede Menge des Likörs heraus. „Er fließt in Szeneclubs, er fließt auf Abifeiern, er fließt auf Musikfestivals und Studentenpartys. Die Punk-Band Feine Sahne Fischfilet lässt ihn bei ihren Konzerten gleich aus Fässern in die grölende Menge fließen.” Als größtes Phänomen gilt bei der Geschichte, dass der Westen fast genauso viel Pfeffi säuft wie der Osten, im Jahr 2018 nämlich 5,7 Millionen Flaschen gegenüber 6,0 im Osten. 2003 waren es noch 1,6 Millionen Flaschen im Osten und 100 000 im Westen. Um die Einheit steht es also besser, als wir dachten, der Getränkemarkt liefert die wirklich harten Fakten.

Mich gruselt es etwas. Ich habe meine Erfahrungen mit dem Pfeffi. Als ich noch ein Oberschüler in Güstrow war, fiel es meinem beim Straßenbau tätigen Freund ein, im Café Zuch, später Café Einheit, später Café Weiß-ich-nicht-mehr einen Nachmittag mit Pfefferminzlikör zu gestalten. Er bezahlte, ich trank mit. Die Toilette war eine Treppe tiefer. Ich musste schon sehr aufpassen, um da nicht runterzufallen. Nachdem ich mich erleichtert hatte, blieb ich erst mal lange auf dem Treppenabsatz sitzen. Der Pfefferminzlikör, den ich in mir hatte, saugte die Luft in mich hinein, so dass ich das Gefühl hatte, platzen zu müssen wie ein Luftballon. Das waren die ersten und einzigen Pfeffis meines Lebens.

Jahre später trafen wir in einer Zwickauer Bahnhofskneipe junge Trinklustige beim Pfefferminzlikör an. Warum? Der hat doch viel zu wenige Prozente! Ja, sagten die Männer, aber der Pfeffi hat wenigstens einen schönen kräftigen Geschmack! Korn und Wodka, da spürst du nur den Alkohol, aber keinen Geschmack.

Da konnte man nicht mehr argumentieren.

A Taste of Isolation

Soldat, kommst du nach Königs Wusterhausen, mach dich auf das große Schweigen gefasst
© Christian Brachwitz

Welche Überschrift passt zu diesem Bild. Ich biete an: A taste of isolation. Oder: Das Schweigen. Oder: Hierarchie. Oder: Königs Wusterhausen 1982. In dieser Haltestelle haben sich mal fünf Personen angefunden, die sich nichts zu sagen haben. Das ist schon selten in der Kleinstadt und überhaupt. Novemberstimmung. Es riecht auch nach Mottenpulver. Die Greisin mit dem Topfhut ist sich sicher, dass man bei Anwesenheit eines Soldaten besser nicht schwatzt. Kann Ärger bringen. Es stört sie die Reisetasche des Soldaten, die sich so breit macht auf der Brüstung, und sie weiß, dass es einem Soldaten untersagt ist, die Hände in die Manteltaschen zu stecken. Beim Kaiser war das jedenfalls so. Die Königs Wusterhausenerin mit Brille und Kopftuch wendet dem Soldaten konsequent ihren militanten Rücken zu. Der Rest der disparaten Gemeinde brütet vor sich hin. Was war. Was ist. Was wird. Warum bin ich allein.

Die Mäntel bei der Nationalen Volksarmee wurden Pferdedecken genannt, wegen des groben, schweren Materials, aus dem sie gewebt waren. Wenn man diesen Mantel länger als eine Stunde trug, bekam man Rückenschmerzen. Es war ein ganz spezifischer punktueller Schmerz zwischen den Schulterblättern, den ich vorher nicht kannte und der nach der Armee immer wieder mal auftauchte, ein bleibendes Geschenk. Aber unser Soldat hier ist Unteroffizier und trägt schon einen Mantel aus feinerem Material. Er trägt auch ein Hemd und eine Krawatte. Vielleicht ist er ein Zehnender, ein junger Mann, der sich für zehn Jahre verpflichtet hat. Er wurde nicht gescheucht. Er durfte befehlen. Er hatte Freiheiten und bekam vergleichsweise gutes Geld. Das wog die Isolation nicht auf. Von den Soldaten wurden die Berufsunteroffiziere verachtet wegen der vielen Tage, die sie zu dienen hatten. Von den Offizieren wurden sie mit Hochmut gesehen, weil sie nach zehn Jahren wieder Zivilisten sein würden. Dazwischen musste sich der Unteroffizier einen ganz eigenen Hochmut anschaffen. Er sparte eisern, er trug die Haare länger, als es den Soldaten gestattet war, vielleicht war er sogar Außenschläfer. Dieser hier ist unterwegs zu seiner Verlobten. Wir hoffen, dass er sein Kommen angekündigt hat.

Wie ich mich an ihn erinnere

Kunert bei Aufbau – so sah das aus

Auch wenn man nicht für Günter Kunert schwärmte, kaufte man seine Bücher in den Zeiten der Stagnation. In meinen Regalen sind mindestens sechzehn, meistens schmale Bände, vor allem Gedichte, ferner Geschichten, Reisebücher, Essays, Skizzen, Feuilletons, Erinnerungen, Hörspiele. Der erste Band, auch Gedichte, war „Der ungebetene Gast”, 1965. Ich war 21 und ambitioniert genug, ihn zu kaufen.

Kunert war immer in der Gegenspur, auf Seitenstraßen. Er attackierte Goethe und pries Kleist. Das gefiel den Kulturfunktionären nicht. Wer Goethe kritisiert, wird auch vor der Staatsführung nicht haltmachen. „Nur Goethe ist zu beneiden: nicht um/die Unsterblichkeit seiner Potenz/sondern wegen der kristallinen Substanz/seiner Seele: sie zerlegt/alles Erfahrene in ein harmonisches Spektrum/und filtert gewisse Farben heraus:/ die gebrochenen.” Das ist aus dem Gedicht „Beichte” des Bandes „Das kleine Aber” von 1975.

Kunert erlebte man auf Versammlungen im Schriftstellerverband oder bei Zusammenkünften des Aufbau-Verlags. Er vermochte die Situation mit leise gesprochenen, spöttischen Bemerkungen auszuhebeln. Danach wusste man nicht mehr so richtig wie weiter.

1996 rief ich ihn an in Kaisborstel. Zwanzig Jahre waren vergangen nach der Biermann-Ausweisung und der Petition namhafter Schriftsteller gegen den Beschluss der Partei. Ob er bereit wäre, über die Situation damals und die Folgen zu sprechen. Kunert zeigte sich verwundert. Warum habe ihn denn die Wochenpost vergessen und all die Jahre ignoriert. Ich konnte auf ein doppelseitiges Interview mit ihm verweisen und auf einen Glückwunsch zu seinem fünfundsechzigsten Geburtstag. Das war wohl wahr, und trotzdem hatte Kunert nicht zu Unrecht den Eindruck, das man ihn vergessen wollte. Ich fuhr also nach Kaisborstel, das letzte Stück Weges mit dem Taxi. Kunert wohnte mit Frau Marianne in der ehemaligen Dorfschule. Der Raum, in dem wir saßen, war irgendwie zu groß, das Licht zu dunkel, die Bilder an den Wänden (von Kunert) zu bunt. Kaisborstel, dachte ich, ist für den Berliner Günter Kunert auch nicht die Lösung und fragte ihn, warum er nicht nach Westberlin gegangen sei, als er die DDR verließ. „Ich hätte mich nicht so abnabeln können. In Westberlin hätte man doch jeden Abend die Aktuelle Kamera gesehen, jeden Tag über die DDR-Verhältnisse und sonstwas gesprochen, ich wäre in diesem Westberlin praktisch noch mit einem Bein in der DDR gewesen. Grauenvolle Vorstellung. Durch die Distanz habe ich Abstand von der DDR und allem, was sie bedeutete, gewinnen können und einen neuen literarischen Ansatz gefunden.”

Am Rande erwähnte er, dass er vermutlich der letzte DDR-Bürger sei. Er habe noch den Personalausweis und sei nie aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen worden, eben, weil man ihn vergessen habe.

Ich habe das Interview von 1996 zum Glück gerade wiedergefunden. Nach der Autorkorrektur fehlte die Passage mit dem letzten DDR-Bürger. Ich nehme an, dass Marianne, seine Frau, sie gestrichen hatte. Was Kunert witzig fand, darüber konnte sie nicht immer lachen.

Ich sehe Kunert wieder in dieser ausgedienten Dorfschule, wenn ich das Interview lese. Er war weit hinter den Illusionen, aber auch weit hinter Hass und Häme. Ich empfinde den Ton, den er anschlug, geradezu als kostbar und so bleibt er mir in Erinnerung.