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Archive for Februar 2019

Wir nennen es vorbildlich (aber auch bescheuert)

Der männliche Arbeiterer drängt sich in den Mittelpunkt und in den Vordergrund, wie Männer das ja immer tun
© FJK

Heute in der Früh im Deutschlandfunk Kultur. Das Jurymitglied für die Sachbuchbestenliste ist voller Lob für die originellen Themen der ausgewählten Bücher, und er selbst, es handelt sich, wenn das gestattet ist. um einen Mann, lässt sich auch nicht lumpen: Er spricht von weiblichen Autorinnen. So viel Ehrerbietung für die gendergerechte Sprache und die Frauen überhaupt ist löblich. Dass man sich dabei keine Gedanken um das grammatische Geschlecht, Genus, und das natürliche Geschlecht, Sexus, macht – geschenkt. Aber ehrlich: Gibt’s denn auch männliche Autorinnen? Oder sächliche Autorinnen? Diverse Autorinnen, ja, die gibt’s, in Massen sogar.

Ich kann mir nicht helfen. Vor lauter Angst, in dieser erhitzten Stimmung wenn nicht der sexuellen Belästigung, so doch der sexuellen Herabwürdigung bezichtigt und vielleicht noch vor Gericht gestellt zu werden, reden wir doch oft ziemlichen Quatsch. Weibliche Krankenschwesterinnen. Da hätten wir das Femininum gleich drei Mal. Krieg ich dafür einen Orden?

Der Ersatz ist eine kleine Chinesin

Wir haben jetzt auch den Freiluftknast
© FJK

Vorjahrescollage Juli – August – September

Schöner Himmel und Halsschmerzen in Chemnitz. Nach dem Spielverlauf war klar, dass Akinfejew im Elfmeterschießen Heldentaten vollbringen würde. Aber was nützt ihm das, wenn er doch meistens im Bett liegt. Jedes Mal dasselbe Drama. Angela bleibt und Jogi auch. In Russland spielen sie weiter. Wir brauchen tiefgreifende Veränderungen, damit alles bleiben kann, wie es ist. Ich habe andere Erinnerungen als Schulze. Ich war sogar Ultramarathonläufer. Ich esse immer noch Bratwürste und Schweinekamm. Das ist kein Hausmüll. Da kannst du richtig Ärger kriegen. Der Hals, der Magen, die Glieder. Nirgendwo ist eine Menschenseele zu erblicken. Die Enkelin kommt in eine Hippie-Schule in Moabit. Horrorsachsen. Bei der Abreise wird mehrmals kräftig gehupt. Hässliche Berliner bei aldi. Mein Mann ist ja so praktisch! Sowas wie Sie hätte bei uns nicht mal Ställe ausmisten dürfen. Der Tag hatte kein Licht. Ab und zu hörte man die Martinshörner der Feuerwehr. Ich weiß nur noch, wie ich einer Frau „Stalinistin, Stalinistin” hinterhersang. Das gewöhnliche Leben kehrt zurück in unsere Stuben und Gärten. Glutenfreier Donnerstag. Er spielt mit Matchbox-Autos. Selten hat ihn in letzter Zeit etwa so gefesselt. Familienfeiern gehen selten glücklich aus. Alles andere war mit Touristen geflutet. Der Zwerg, der sein Mütchen an Putin kühlte. Mit schweren Beinen und knapper Luft. Das sieht schon sehr nach Himmelfahrtskommando aus. Die Haltestelle sah aus wie tot.

Der Dozent doziert. Die Gräfin lacht. Die Müllabfuhr lärmt. Der Förster sucht einen Stellplatz für seinen Opi (sprich Opel). Dass da nun ständig einer im Unterhemd auf einem E-Sitzroller mit verbiesterter Abenteurerfratze durch die Gegend rast. Das kann ja nicht nur Gewohnheit, da muss auch Charakter dabei sein. Hackfleisch hochwerfen, Bulette auffangen, Danke Dachwohnung. Wessen Familie war ärmer? Die Jugend hat keinen Respekt mehr. Alles kriegen sie. Tränensäcke, gefurchte Stirn, skeptischer Blick. Geheimratsecken, braunes Haar. Ich will aber kein Nichtraucher sein. Er war so begeistert, dass man fürchten muss, er könne schwul werden mit seiner Opernbegeisterung. Für den Zuschauer ist es ohne Belang. Die Taten der Männer sind unsichtbar. Meine Frau war längst am Liepnitzsee. Der Himmel verdunkelte sich dramatisch und brachte nur einen kurzen Schauer zustande. Die Hitze entschuldigt vieles, aber nicht alles. Es wird eine große Dürre kommen. Ich will sie ja nicht ins Gefängnis bringen. Ente wollte schon nachschauen, ob er tot ist.  Eine Kiste mit Müll, Schrott und Trödel vors Haus stellen mit dem Schild „Zum Verschenken”. Dieses Gesicht. Diese Frisur. Diese verschränkten Arme. Dieser Blick. Ein Erweckungserlebnis war es nicht. Andrea sieht den Garten sterben. Der Schriftgelehrte empfängt den Schornsteinfeger. Das Gespräch ging immer weiter, auch nachdem man schon x-mal mach’s gut gesagt hatte. Die Busse kommen nur, um hier zu enden. Frauen gehen mit vorgestreckten Armenurch die Menge wie durchs Meer, als müssten sie das Wasser vor sich zerteilen. Zwei Rentnerinnen, ein Blumenstrauß. Das Geräusch schwerer Nutzahrzeuge. Sie werfen sich Gundermann-Zeilen an den Kopf. Sie haben das Prekariat genau studiert. Deutschland den Deutschen. Motten raus.

Man soll auch den nicht unterschätzen, der man mal war. Demut sei das, was man sich im Alter wünschen solle. Mich erreichten sie zu spät. Kein Wunder, wenn sich die Deutschen über die Medien aufregen. Vorliebe für barocke Schnörkel. Verweigerung des Armeedienstes. Verwirklichung des Traums, die Ostsee zu überqueren. Die Kunden sind begeistert und verstört. Manometer, brüllt der Schriftgelehrte. Der wohnt im Karlsgarten. Dort haben sich viele Paare zerstritten, scheiden lassen und zogen aus. Alle sprachen alle mit du an. Muss man sich den ganzen Tag das Rentnergequatsche anhören, dachte der Rentner. Was wird bloß Herbert dazu sagen, dass ihr euch hier so betrinkt. Der Mann der langen Küsse. Diese Stimme wird langsam zum Alptraum. Wir wohnten in einem kleinen Hotel in einem Hinterhof. Die Autoindustrie trägt zur Verbesserung der Luftqualität bei. Es geht zu wie auf der Schwank-Bühne. Seine Friseurin ist krank, der Ersatz ist eine schöne kleine Chinesin. Das Herz, wird gesagt, ist ein relativ dummes Organ. Me too. Die Frauen beschreiben sich da als viel zu eindimensional. Vor allem, wenn es um den Sex bei und mit den niederen Ständen geht. Die Ärzte wissen nicht, was los ist. Entweder sie gehen gleich in die Grube oder erst noch ins Heim. Es besteht keine Verbindung zum Internet. Die Leute verlangten Ordnung, und Putin hat das verstanden.

 

Sun of Wintertime

Diogenes am Alexanderplatz
© FJK

Es ist ein sonniger Tag in der Stadt, und kalt ist es auch. Der Mann, der sich in unseren Wagen setzt, kann vierzig, aber auch 65 sein. Genauer möchte eine Schätzung nicht sein, die gerecht sein ist. Er trägt ein Basecap und eine Zahnlücke oben vorn. Der Klingelton lässt ihn aufleben, aber wie. Er schreit, lacht und weint ins Telefon, ist zwar, wie man hört. Pole, fühlt sich aber wie zu Hause. Ganz so schlechte Gastgeber können wir nicht sein.

Die Zeit der Spatzen kommt noch

Berlin Alexanderplatz, von der Februarsonne geflutet. Wirte haben mitten im sogenannten Winter Tische und Stühle vor die Tür gestellt. ’ne gute Sache für die Alex-Sperlinge. Sie haben sich auf die Tische gestellt und sehen den Touristen diszipliniert beim Essen zu. Betteln oder Klauen haben sie nicht nötig. Es wird genug übrigbleiben. Auf der Schattenseite des Bahnhofs hat sich ein junger Philosoph im Schneidersitz auf einen Stapel Pappen in einem Karren niedergelassen wie Diogenes in seiner Tonne, er, raucht und denkt. Ich werde seine Kreise nicht stören, stattdessen auf dem Bahnsteig Verheugen aufgabeln und mit ihm zum Hauptbahnhof fahren.

Tritt ein ins Nichts

Als überzeugter Nicht-Reisender kennt er den noch nicht und will ihn auch nicht kennenlernen. Etwas mehr Interesse nötigen ihm auf dem Weg zum Museum die virtuellen Häuserfassaden ab; auf etwas mehr oder weniger Künstlichkeit kommt es in unserer künstlichen Welt nicht an.

Aug um Auge

Im Hamburger Bahnhof gehen wir die Treppe rauf zur Ausstellung „How to talk with birds, trees, fishs, shells, snakes, bulls and lions”. Also. Die Beziehungen des Menschen zu anderen Lebewesen; vorstellbare und unvorstellbare Interaktionen. Verheugen kann sich häufig des Gefühls nicht erwehren, dass moderne Künstler (und Philosophen) Scharlatane sind, die ihn nur veräppeln wollen. Seine Geduld ist endlich, wir haben nicht viel Zeit. Ich finde aber, dass die Ausstellung atmosphärisch angenehm ist und zum Verweilen durchaus einladen könnte. In der Otto-Mueller-Ausstellung hocken Schülerinnen auf dem Boden und erledigen mit Zeichenblock und Smartphone ihre Kurs-Aufgaben, erfassen, kopieren, beschreiben, was auch immer. Verheugen findet drei Bilder, die ihm Respekt abnötigen,.

Die Richtung ändert sich. Aus der Ausstellung „How to talk…”

Unser Museumsbesuch endet im Ausstellungsteil „Der Elefant im Raum”, Werke aus der Sammlung Marx. „Ausgehend von der englischsprachigen Redewendung ›the elephant in the room‹ verweist der Elefant im Ausstellungstitel auf jene Kräfte und Größen, die zwar nicht Teil der Skulpturen sind, ihre Präsenz im Raum jedoch maßgeblich mitbestimmen und damit wesentlicher Bestandteil des erweiterten Kunstbegriffs der 1960er-Jahre sind.” Verheugen äußert sein Unverständnis und seine Ungerührtheit von dieser Präsentation, lernt aber eine Teppichweberin kennen, die es wagt, ihm die Stirn zu bieten: Ich muss sagen, ich bin dafür offen.

It’s a long way to art

Der Stadt-Tag endet im „Mantée”, Hannoversche Ecke Friedrichstraße, ein eher unscheinbares Restaurant, das durch seine aufgeweckt-sympathischen Kellnerinnen, die einfallsreichen Menüs und die günstigen Preise auch einen Skeptiker wie Verheugen überzeugt, vom Biere ganz zu schweigen.

Die offensive Schwester

Wie unterschiedlich können Schwestern sein
© Christian Brachwitz

Schwestern teilen alles, von Sandalen und Söckchen mal abgesehen, die sind schon noch unterschiedlich.

So sah das aus, auf Rügen 1985. Der grob gepflasterte Hof, das durchstoßende Unkraut, die schwere Stalltür, die feuchten Mauern – so hätte es fünfzig Jahre vorher auch schon aussehen können. Manchmal haben wir nichts gegen die stehengebliebene Zeit.

Die Mädchen haben sich in den entferntesten Winkel gedrängt, Wand und Tür geben ihnen Halt und Schutz. Der Dorffriseur hat sie hübsch gemacht. Auch wenn er vom Dorf ist, versteht er sein Fach.

Und auch wenn sie die gleichen Frisuren, die gleichen Pullis, die gleichen Ohrhänger und die gleichen Röcke tragen – wie unterschiedlich können Schwestern eigentlich sein! Der skeptisch auf den Fotografen gerichtete Blick und der nach unten oder mehr noch innen gewandte! Die im Rock versteckten Hände, das mit Farbe verschmierte Gesicht. So was könnte man ja gerade lustig finden! Für dieses Mädchen ist es ein äußerst ungünstiger Moment. Aber sie hat ja ihre offensive Schwester, und wenn es gut läuft, ergänzen und helfen sie sich ein Leben lang.

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Die Mädchen wollten tanzen

Die Mädchen wollen tanzen. Die Jungs sitzen müßig am Bahnhof.
© FJK

Vorjahres-Collage April – Mai – Juni

Es kann nicht sein, dass du nicht weißt, wie man Mugge schreibt. Lebenslügen. Sie irren zwischen gestern und heute herum. Haben verdrängt, was sie wirklich wollen. Auf Frauenraub antwortet man mit Frauenraub. Am Ende gewinnt Bayern mit seiner einfachen Spielweise. Ich sah die größten Trinker meiner Generation. Er spricht ein dämonisches Sächsisch, aber er hat keine Leser. Dein Gedächtnis ist gemeingefährlich. Von dem Preis habe ich nie was gesehen. Ungute Gefühle im Halbschlaf. Die blasierte Fresse Fleischhauers. Der Weise Uhu ist wieder da. Drei Greisinnen hängen an seinen Lippen. Vorstadtangeber, Raucher, Biertrinker. Vergebliche Bekämpfung der Beulenpest. Bilder der Unbeweglichkeit. Lust an der knappen Zeit. Warten ist eine Kulturtechnik. Das dauerhafte Grundrauschen der Welt. Wir lesen nur Zeitung. Selbst, wenn sie sich gut gelaunt geben., spürt man die Nähe der Hysterie. Er gehörte zu den Leuten, die mit ihrem Leben etwas Besseres anfangen konnten als arbeiten. Der alte Horst ist von den Scheintoten auferstanden. Keep the balance. Er redet gerne darüber, was er mal für ein Säufer war. Sind wir hier nicht in einem Fellini-Film? Es geht um den freien Geist der Improvisation. Wir haben schon viele Tiere gerettet. Der Trinker. Der Nachtarbeiter. Der Außenseiter. Frauen, die ihn ernähren, weil seine Texte zu gut sind, als dass damit Geld verdient werden könnte. Die Mädchen wollten sich nicht unterhalten, die wollten tanzen. So schön hat er sich seinen Lebensabend früher wohl gar nicht vorstellen können. Als hätte kein Sonnenstrahl ihn je erreicht.

Er stahl die Sammeltassen aus dem Küchenschrank seiner Mutter und verkaufte sie. Zwei junge Frauen stehen direkt unter der Anzeige Rauchen verboten und rauchen. Kinder haben sie auch; wahrscheinlich wegen des Kindergelds. An der Straßenbahnhaltestelle ein sportliches Fahrrad, von dem sie bis auf den Lenker alles abmontiert hatten. Ich hatte einen komplett anderen Film erwartet. Ich bin allein. Keiner versteht mich. Ist es mein letztes Jahr? Das Saturierte quillt ihm aus allen Knopflöchern. Die Kleingärtner sind wieder da mit ihrem dezenten Übergewicht und allem Schönen, was blasierte Leute Kitsch nennen. Die Lüge ergibt sich zwangsläufig aus der Wirklichkeitsverweigerung. Sie war 104 und lebte im Heim. Nüchternheit hat auch was Berauschendes. Jeder ist seines Glückes Schmied. Und seines Unglücks auch. Wolfgang, so musikalisch er ist, tanzt doch recht steif. Viele Männer verhalten sich so, wenn sie gerade ihre Periode haben. Alles läuft aufs Neutrum hinaus. Ich habe die ganze Zeit ein Lächeln im Gesicht. Das hemmungslose Lachen der Hochschwangeren.

Der Schriftgelehrte weiß die Anworten. Auch wenn es keine Fragen gibt. Löw lebt in seiner Nivea-Blase. Alle sind dick, schwanger und stecken sich schon in der Bahn die Lulle ins Maul. Scharapowa siegt kampflos gegen Serena, die eine Verletzung des Brustmuskels zu beklagen hat. Die Kultur der Schadenfreude ist nach wie vor präsent. Hochbeete scheinen Mode zu sein. Die Alten wollen sich nicht mehr bücken. Sie sind Teil des Systems des Berliner Unvermögens, auch wenn sie noch so mokant lächeln. Der Hehler ist schlimmer wie der Stehler, belehrt die Mutter ihren Sohn. Gemächliches Berliner Leben mittags um eins. Man hat viel vor und macht so gut wie nichts. Der Nazi zieht ab in seinen breiten Nazihosen. Nicht mal das Hundemonster taucht auf. Wir wählen die Vogelschiss-Partei. In den heißen Tagen starb Philip Roth. Arbeit am Mythos. Da gibt es schon wieder ein irres Gelächter. Die Erzieherinnen plaudern, die Kinder brüllen. Durch die Fußball-WM wird Putins Herrschaft um Jahrzehnte verlängert. Die Götter sind unmoralisch. Und doch sind sie Götter. Messi verzweifelt an Island. Bei Spiegel online konnte man lesen, dass die deutschen Spieler ihren Trainer abgöttisch lieben. Nicht nur die Alten werden älter, auch die Jungen. Ich habe sie an ihrem Busen erkannt. Wir stellen jetzt alles in Frage. Nur uns selbst nicht. Schlimm genug, wenn Männer im Nieselregen Schirme brauchen. Sollen deutsche Politiker Putin die Ehre erweisen und sich mit ihm auf der Tribüne zeigen? Am Tag nach dem Ausscheiden entfernt der Deutsche alle Deutschlandfahnen von Haus und PKW.

Angry Young Man

Detail des Covers, das Manfred Butzmann für die Ausgabe von Volk und Welt gemalt hat. Originelle Farbgebung, denn Arthur Seaton war schon noch ein Weißer. Und ein Bad Boy natürlich auch.

Ich wollte noch ein Wort über Albert Finney verlieren, der jetzt, 82jährig, starb. „Sonnabendnacht und Sonntagmorgen” sah ich als 17jähriger in unserem kleinen Kino in unserer kleinen Stadt. Seitdem habe ich Finney nie mehr aus den Augen verloren und ebenso wenig Alan Silitoe, der den Roman geschrieben hatte, auf dessen Basis der Film entstand, Silitoe, der auch „Die Einsamkeit des Langstreckenläufers” schrieb, allein der Titel ist Legende. In „Sonnabendnacht…” spielte Finney den Dreher Arthur Seaton, der sich am Wochenende ins wahre, ins offene Leben stürzt. Kneipen, Schlafzimmer, Angeln am Fluss. „Aufgespeicherte Leidenschaften explodierten am Samstagabend, die Wirkung von einer Woche monotoner Hetze in der Fabrik wurde in einer einzigen Entladung guter Laune aus dem Körper geschwemmt.” Seaton sprich Finney, natürlich ein Angry Young Man, hatte die Aura der Furchtlosigkeit. Wenn er trank, hatte er keine Angst vor der Hölle am nächsten Tag. Wenn die Frauen der Kumpel seinem hochmütigen Charme erlagen, kümmerte er sich nicht darum, dass man ihm zu dritt oder viert auflauern würde. Er steckte die Prügel ein, die er verdiente und teilte in aussichtsloser Lage noch selber ordentlich aus. Er war ein Rebell, ein Einzelkämpfer, rücksichtslos, mit guten Instinkten, auch für die richtige Frau, so dass ihm das Schicksal vieler junger Rebellen blühte: Zähmung in der Familie. Trotzdem: „Er wird noch manchen Stein werfen”, hieß es in einer etwas blauäugigen Rezension.

Wenig später spielte Albert Finney Tom Jones nach Henry Fieldings Roman, das war die pure Lebens- und Abenteuerlust, und wieder Finney mit diesem unverschämten Charme, ein heller Film, ganz anders als „Unter dem Vulkan”, 1984, nach dem Roman von Malcolm Lowry, in dem Finney den trunksüchtigen britischen Ex-Konsul Geoffrey Firmin in einer mexikanischen Kleinstadt spielt. Eine Bewegung, eine Geste, werde ich nie vergessen. Yvonne hat den Konsul verlassen, er beschwört sie zurückzukommen, verspricht, trocken zu bleiben, erträgt die Einsamkeit nicht, sitzt in der Kneipe, lässt sich volllaufen mit Mescal und erblickt im Augenwinkel wie im Traum seine Frau, Yvonne, nein, sie ist wirklich da, ist zurückgekommen, und er, der alle Schwüre gebrochen hat, wiederum nicht stark genug war, macht eine zweigliedrige, irgendwie runde, sich selbst einkassierende Armbewegung, die alles erklären soll. Das Drama der Einsamkeit, die Attacken des Dämons Alkohol, seine Schuld, ihre Unschuld, die sich aber auch austauschen lassen, denn ganz ohne Unschuld ist auch er, ganz ohne Schuld ist auch sie nicht.

Um deine Gesellschaft können wir die Toten beneiden, Albert Finney.

Adel als Sympathieträger

 Baltischer Himmel
© JuE

Wenn ich Eduard von Keyserling las, geschah das meistens in der Bahn. Ich hatte mir für wenig oder gar kein Geld fast das gesamte Werk des Aristokraten auf den e-Book-Reader geladen, Erzählungen und einige Romane. So saß ich in der S-Bahn und las die Erzählungen „Das Landhaus” und „Am Südhang”. Bei all den Baronen, Gräfinnen, Leutnants, Stallknechten und Milchmägden kam schnell ein Kitschverdacht auf, der sich aber unverzüglich in Nichts auflöste. Keyserling (1855 – 1918) entstammte nun mal der baltischen Adelswelt und kannte alle diese Gestalten von nahe, so dass er deren müden, abgründigen Kosmos wie kein anderer beschreiben konnte. Von den Romanen klickte ich „Abendliche Häuser” an, ein Titel, der mir gefiel. Die abendlichen Häuser sind die Schlösser und Herrenhäuser derer von der Warthe, von Egloff, von Dachhausen und von Port. Dort sitzen und seufzen sie, es gibt Empfänge und Konzerte, Glückspiele und Beschwörungen der Vergangenheit. Besonders befremdlich, wie sich der junge Baron nach einer frostigen Kutschfahrt von seinem Diener mit Kölnisch Wasser abreiben lässt. Positiv befremdlich der Name Fastrade von der Warthe; das ist die junge Baronesse, eine eigensinnige, kluge Frau, die sich durchaus gegen den alten Baron zu behaupten weiß und zu meiner Verwunderung (aber auch Genugtuung) die Werbung des doch recht haltlosen Baron Dietz von Egloff annimmt, der im Spiel nach und nach die Wälder des Familienguts verliert. Das klingt natürlich schon sehr kitschig, liest sich im Einzelnen aber doch anders. Und weil es eben kein Kitsch ist und sein darf, kann Fastrade den letztlich sympathischen Dietz nicht retten; zu ihrem eigenen Schaden oder auch nicht, wer weiß das schon.

Keyserling lässt sich am besten durch sich selbst beschreiben. So beginnt der 1914 erschienene Roman:

„Auf Schloß Paduren war es recht still geworden, seit so viel Unglück dort eingekehrt war. Das große braune Haus mit seinem schweren, wunderlich geschweiften Dache stand schweigsam und ein wenig mißmutig zwischen den entlaubten Kastanienbäumen. Wie dicke Falten ein altes Gesicht durchschnitten die großen Halbsäulen die braune Fassade. Auf der Freitreppe lag ein schwarzer Setter, streckte alle vier von sich und versuchte sich in der matten Novembersonne zu wärmen. Zuweilen ging eine Magd oder ein Stallbursche über den Hof langsam und lässig. Hier, schien es, hatte niemand Eile. In der offenen Stalltüre lehnte Mahling, der alte Kutscher mit dem weißen Bart, und gähnte. In der offenen Gartenpforte stand Garbe, der Gärtner, und verzog sein glattrasiertes Sektierergesicht und blinzelte in die Sonne. Dann begannen die beiden Männer aufeinander zuzugehen, mitten zwischen Stall und Garten blieben sie stehen, sprachen einige Worte zueinander, schwiegen, spuckten aus, ließen wieder einige Worte fallen.”

Graf Keyserling erblindete in Folge einer Syphiliserkrankung und war mit 45 Jahren schon ein Greis. Als Keyserling starb, rückte Thomas Mann ihn in die Nähe Fontanes, auch, indem er den Balten von dem Märker abgrenzte: „Es fehlt bei Keyserling die Breite, das Behagen, der lange Atem, die gesunde Furchtlosigkeit vor dem Langweiligen … Sein Werk ist schmaler, graziler, später, wählerischer, es hat nervöseren Puls; der Blick auf das Leben ist kälter geworden, die Ironie geistiger, das Wort präziser, der Gesamthabitus ungemütlicher, künstlerischer und weltläufiger – man spürt die Europäisierung der deutschen Prosa seit 1900.”

Wir Glücklichen haben es, wenn wir wollen, mit lauter Meistern zu tun.

Atemmasken werden verteilt

Schon zehn nach zwölf, aber kein Problem
© FJK

Vorjahres-Collage Januar – Februar – März

Schwefelschwaden zogen durch die erste Nacht des neuen Jahrs. Es war nicht auszumachen, welcher Art das Vergnügen war, das die Akteure empfanden. Nicht alle, die auf der Festmeile sind, sind Idioten, aber alle Idioten sind auf der Festmeile. Die einsame Gestalt des Buchhändlers, ein introvertierter Einzelkämpfer verborgen in Parka und Kapuze. Ein Betrunkener verließ die Bahn, schwankte, gestikulierte mit ausgebreiteten Armen und sang Ein Freund, ein guter Freund. Die Kolumnistin sieht sich mal wieder auf Augenhöhe mit Bill Gates. Traumberuf: Rentner. Noch besser: Westrentner. Schießen im Nebel. Wer sich noch erinnern kann, wo die Scheiben stehen, gewinnt. Die besseren Kinder rufen Achtung, ein Jogger. Die dümmeren stehen einfach im Weg. Es gab Tee und Kuchen. Ein Schnaps war auch auf Nachfrage nicht im Hause. Was machen sie, wenn ein Notfall vorliegt! Mit André Schürrle kam das Unglück zum BVB. Es kostete 38 Millionen €. Schlaganfall. Der Notruf in der Chefetage. Ich beginne, mich für’s Fasten zu interessieren.

Sie musste aus einer angefangenen Flasche einen Schluck Wasser nehmen und lange im Mund behalten, durch die Zähne gleiten lassen und schließlich runterschlucken. Sie schloss die Augen, um nicht zu sehen, was die Heilerin tut. Es könnte sein, dass von jemandem in ihrer Familie schlechte Einflüsse ausgehen, sagte die Heilerin. Ein Reclam-Bändchen von Ilja Ehrenburg. Wahnsinn, sowas konnte man früher ohne Brille lesen. Es ist fast zu viel Harmonie unter uns, man kann beinah sagen Euphorie. Deutschlandradio Kultur mit der allfälligen Elendsberichtserstattung. Bei Edeka streikt die Kasse. Schulz wird endgültig zur tragischen Gestalt. In der SPD nennt man das menschliche Größe. Die vierte Staffel: Das Alter meldet sich nachdrücklich: Freundinnen im Seniorenheim, Begräbnisse, Enkelkinder. Er trinkt nicht alleine, und Leute, die mittrinken, kennt er keine. Dem Wirt sterben die alten Gäste weg und junge kommen nicht nach. Der Mann ist dem Augenschein nach doppelt so groß wie die Frau, und er wiegt auch mindestens das Doppelte. Scheißmusik und Scheißgequatsche. Der langhaarige Kellner, der nach Höherem strebt, berechnet uns zwei Bier zu wenig. Das lassen wir ihm ausnahmsweise durchgehen. Als Schiedsrichter würde ich Robben nie einen Elfer geben, und wenn die Gegner ihn mit Fäusten im Strafraum niederstreckten. Ein typisch altersloser Literaturwissenschaftler im lichten Blond, der auch eine Matrone sein könnte. Die Kranken entdecken im Alter Körperkultur und Sport. Die Sparkasse – vier Mitarbeiterinnen kommen mir mit erhobenen Armen entgegen, sie haben keinen Strom. No money today.

Sieht schlimm aus bei den Hausärzten. Treppenhaus und Flur voller Röchelnder, Hustender, Stöhnender. Atemmasken werden verteilt. Für den Menschen in der Großstadt bezeichnend, sagt Georg Simmel, sind Blasiertheit, Reserviertheit mit latenter Aggression auf Grund der Reizüberflutung. Der Mann von Christine heißt Olaf und malt Tierbilder. Eine ungeschickte junge Polin mit dickem Po als Kellnerin. Bin ich denn der einzige Sensible hier? Die Floristin meint, es sei jetzt nicht mehr so heftig mit dem Andrang am Frauentag. Die Tradition lässt nach. Die gefühlt hundertste Frank Schöbel-Jubiläums-Show. Das Publikum voller aufgekratzter, glücklicher, übergewichtiger Beifallsklatscher. So weit sind wir: Dass die Verrückten die Normalen Spinner nennen. Der Bratwurstverkäufer war Russe, der Kunde war auch Russe. Sie verständigten sich auf einsilbige Art, als wollte der eine nichts mit dem anderen zu tun haben und der andere nichts mit dem einen. Ich ging mit meiner (russischen) Bratwurst zur Karl-Marx-Allee. Er sagte zum Beispiel Öl-Schkizze zu Bildern seiner Frau und nannte die Preise. Er war stolz auf diese Preise, als hätte er die Bilder selbst gemalt. Eine jodelnde Ulknudel aus der DDR. War im Nachhinein natürlich auch widerständig und hatte dabei eigene TV-Shows. Warum schrieb die gläubige Katholikin und Pfauenfreundin so böse Geschichten? Nicht alle Toten sind tot. Schräg schneit’s auf uns hernieder. Es ist still im Lokal. Ein alter Herr erscheint, um zwei Bier und zwei Schnäpse zu trinken und zwei Sätze mit der Kellnerin zu wechseln. Nicht lange nach ihm erscheint ein ähnlicher alter Herr, der Mittag isst, Bier trinkt, Sätze mit der Kellnerin wechselt.

Die blockierte Stadt

Probe in der Akademie
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In der Akademie der Künste am Pariser Platz wird ein Buch über 900 Tage Hunger vorgestellt. Das Blockadebuch von Ales Adamowitsch und Daniil Granin. Anlass: Vor 75 Jahren durchbrach die Rote Armee die Belagerung der Stadt Leningrad durch die deutsche Wehrmacht. Aufbau hat die erste vollständige deutsche Fassung des Buchs herausgebracht. Am Anfang steht ein ungeheuerlicher Satz: „Der Führer hat beschlossen, die Stadt Petersburg vom Antlitz der Erde zu tilgen.” Ein faschistisches Großexperiment. Die Vernichtung einer Bevölkerung nicht durch Erschießen, sondern durch Verhungern und Erfrieren. Neunhundert Tage, 21600 Stunden, von denen der Hungernde, Frierende jede Minute spürt. Die Menschen haben alles verzehrt, was irgendwie Überleben versprach, sie haben alles verfeuert, was etwas Wärme gab, Möbel und dann auch Bücher. Nach den Broschüren und Zeitungen „zuerst die deutschen Klassiker”. Da geht ein Lächeln durchs Publikum. Ebenso erfahren wir von dem Familienvater, der – schon völlig kraftlos – einen Stapel Bücher aus einer verlassenen Wohnung zu retten versucht. 900 Tage Albtraum. Eine gespenstische Stille und Dunkelheit liegt über der Stadt. Die geborstenen Fensterscheiben sind mit Matratzen und Gerümpel verstopft. Am Ende sind eine Million Menschen verhungert oder erfroren. Es zeigt sich, dass die Aktiveren, die Retter der anderen, selbst die größeren Aussichten haben zu überleben. Schreckliche Momente, wenn sie beschreiben, dass ein Mensch, mit dem du eben noch gesprochen hast, vor deinen Augen stirbt.

Jeanine Meeapfel (die Präsidentin der Akademie), Ingo Schulze, Ulrich Peltzer, Kathrin Schmidt, Karin Kiwus, Gustav Seibt und Volker Braun lesen die Augenzeugenberichte. Die Töchter von Adamowitsch und Granin sind unter den Zuhörern. Die Veranstaltung hat großes Format, schon durch die Abwesenheit von Pathos. Das ist geschehen. Das haben Deutsche gemacht. Das darf nicht vergessen werden.