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Archive for August 2012

Woody Allen spielt wieder mit

© Fritz-Jochen Kopka

Der Fernsehturm macht wieder Unfug

Ist Woody Allen Egomane? Oder fällt ihm für die seltsame Gestalt, die er ist oder spielt, einfach am meisten ein? Jeder Satz, den er in „To Rome with Love” spricht, ist komisch. Ich könnte mich ausschütten, geht aber nicht, weil ich auf den nächsten Satz warte. Mag sein, dass Allen zu den Großen des Films gehört, die an sich selbst unentwegt komische Züge entdecken, während sie anderen Schauspielern mit so viel Respekt begegnen, dass das Gelächter für sie sich in Grenzen hält.

Wir wollten den Film OmU in den Hackeschen Höfen sehen, als der Kinoleiter, wie es sich gehört, zu einer zweisprachigen Ansage ansetzte. Man habe neue Projektoren, die noch nicht, aber bald, man weiß nicht genau wann, funktionieren. So fuhren wir ein Stück zurück zum Alex, wo eine orangene Hare-Krishna-Gruppe Musik machte und Geld einsammelte. An allen Ecken und Enden des Platzes angeschlagene Jugend-Grüppchen, zugedröhnte Bettelknaben und Obdachlose, die sich in die Büsche verdrückten. Im Saturn betrieben einige chinesische Kleinindustrielle Produktspionage auf niedrigem Niveau, indem sie die Toaster untersuchten und heimlich fotografierten. Ein paar Meter weiter tauchte die Dame mit den Hündchen auf, eine Russin wie bei Tschechow, es waren zwei Terrier, die aus einem Körbchen herausschauten und sich über die neuen 3-D-TV-Geräte wunderten. Das Hotelhochhaus sah aus wie eine Ruine, aber das war nur der Schatten, den der Fernsehturm auf die Fassade warf.

Das Cubix hat natürlich das Publikum, das es verdient. Die Kartenabreißer und Tresenkräfte möchten alle zum Film und versuchen, mit Faxen auf sich aufmerksam zu machen. Je dicker die Gäste sind, desto größer sind auch die Papiersäcke mit Popcorn, die sie in die Kinosäle schleppen. Das Paar neben uns hatte zum Glück nur eine Tüte, und pünktlich mit Beginn des Films stellte es das Knabbern ein.

Der Film gehört zu Woody Allens Tournee durch europäische Hauptstädte, die ihm günstige Bedingungen für seine Arbeit bieten, und das machen sie richtig, zu Allens und zu ihrem Nutzen und Vergnügen. Rom ist Volare und große Oper, ist Sightseeing und Liebe. Alle Paare bleiben trotz mannigfaltiger Irrungen und Wirrungen zusammen. Ist das  Altersweisheit bei Woody Allen? Bei seinen Einfällen scheut er sich nicht, in die Kiste fürs Grobe zu greifen, es kommt am Ende doch immer etwas Feines dabei heraus. Ob beim Bürohänfling, der plötzlich ein Medienstar ist, oder dem Bestattungsunternehmer, der unter der Dusche singt wie ein junger Gott und nicht zuletzt bei dem jungen Ehemann, der von einer Prostituierten in seinem Hotelzimmer aufgestört wird, die er in seiner Not als seine Ehefrau ausgibt, welche wiederum an der Seite eines Kinostars in eben jenem Restaurant auftaucht, wo der arme Antonio mit der Nutte und seinen reichen Verwandten tafelt und wie vom Blitz getroffen zusammenzuckt. So kann’s gehen. Im Kino wie im wahren Leben. Woody Allen ist hier ein Opernregisseur im Ruhestand, der stets und ständig an seinem Überschuss von Ideen scheiterte. Da kommt ihm der Bestatter, der nur unter der Dusche singen kann, gerade zu pass.

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Der Mann, der lachen kann

© Fritz-Jochen Kopka

Bootsanlegestelle Berlin-Köpenick – danke für die Beleerung

 TV-Notizen

Die Unsym-Patin, sagt der Schweriner Freund zum „Buch der alten Dame” von Gertrud Höhler und setzt fort: Die neue Steigerungsform von Hohl ist Höhler. Genau. Und wenn sie sich noch mal selbst übertrifft: am höhlsten, ergänze ich.

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Ich finde die Illner eigentlich ganz possierlich. Mehr wird ja wohl auch nicht verlangt.

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Wieder sah ich eine alte Folge des Literarischen Quartetts. Sie war von 1995, wirkte aber weitaus historischer. Bei manchen Leuten muss man den Mut zur Hässlichkeit loben, bei Helmuth Karasek wiederum den Mut zur Lächerlichkeit. Seine Arme scheinen nur aus Unterarmen zu bestehen, ich nehme aber an, dass er dafür nichts kann. Frei gewählt ist aber die schwungvolle Künstlertolle, die er sich wachsen und legen ließ, vielleicht aber auch wiederum nicht so frei, denn nur er selbst weiß, wie er mit einer Kurzhaarfrisur aussieht. Zur ballonhaften Figur (er könnte wohl schon etwas Sport treiben und ernährungsbewusst leben) kommt dann eine – der Westdeutsche würde sagen: quietschbunte – Motivkrawatte und das ständige Dazwischengequatsche mit immer derselben Weisheit, dass man nämlich nur in Deutschland zwischen E- und U-Literatur unterscheide. Zum Gesicht von Sigrid Löffler gehört der Zustand der Entgleistheit, den sie bekämpft mit dem Versuch eines wienerischen Lächelns, um zu zeigen, dass sie nicht beleidigt ist, was man aber nicht glauben kann. Der Gast Corino, nun, selten hat jemand ein Buch langweiliger zusammengefasst als er den Roman Mayday von Jonathan Lynn, indem er ständig von den Figuren als unserem Helden oder unserer Joanna spricht und kaum jemals das Attribut gewiss auslässt, ein gewisser soundso, kurz, Corino ist die personifizierte Sprachhülse, und Reich-Ranicki ist eben Reich-Ranicki, ein Poltergeist, dem der Zufall oder der liebe Gott einen Einfall schenkt, wenn er sich in Rage geredet hat.

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Essentials der Tennisreporter bei Eurosport: das Überflüssige, das Bedeutungsschwangere und das Banale.

Familienalbum

Ich gebe meiner Frau mittlerweile eigentlich immer recht. Denn auch, wenn sie nicht recht hat, spricht doch einiges für das, was sie sagt.

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Kindheitstrauma. Geburtstage, Weihnachten. Die verdammte familiäre Heuchelei. Ich wünschte mir ne Eisenbahn und bekam eine Geige. Ist doch ne Sauerei. Vielleicht wär ich mit der Eisenbahn ein glücklicher Mensch geworden.

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Du weißt aber schon, dass nicht ich es war, der das Wetter so heiß gemacht hat?

Ja. Weiß ich. Trotzdem nervt es mich. Und außerdem: Wer weiß schon, wie so was wirklich zustande kommt.

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Ich hab meinen Mann aus dem Internet.

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Wenn ich diese Freiheit nicht bekomme, nehm ich mir eben eine andere.

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Hören Sie? Was Sie da erzählen, interessiert mich nicht. Und die anderen Bürger von Berlin Lichtenberg auch nicht. Also bitte etwas leiser, ja?

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Hört ihr, wie schön ich husten kann?

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Dass er Humor hat, kann man dem Schriftgelehrten nicht absprechen. Er kann als einziger über seine Scherze lachen.

Ein Gespräch über Messer in der Schmiede

© Andrea Doberenz

Brücken nach Böhmen

Der Berliner kann im Urlaub zu Hause bleiben, er kennt sowieso nur einen Bruchteil der Stadt und könnte die freie Zeit nutzen, um seine Kenntnisse zu erweitern. Schon in nächster Nähe, der sich ständig verändernden Rummelsburger Bucht, registrieren wir als Neuheiten eine Hafenküche und einen Busport, in dem sich die Busse auch gründlich abseifen können. In einem Ostbloc ist eine Kletterwelt aufgebaut. Die Kletterer springen den imaginierten Berg regelrecht an. Boulder nennt sich so was. Felsblock. Eine Bar für die Zeit nach dem Klettern ist auch vorhanden.

Über die Elsenstraße gelangen wir, an einem Sportplatz mit Kunstrasen vorbei, nach Böhmisch Rixdorf, das ist unser Ziel. Ecke Richardstraße/Kirchgasse steht ein Paar, die Fahrräder zwischen den Beinen, den Stadtplan aufgeschlagen. Sie suchen wohl auch das Böhmische Dorf? Ja. Es soll in diese Richtung gehen. Der Mann zeigt über die Schulter nach hinten. Wie sind aber eigentlich schon alle da. Böhmisch-Rixdorf ist keine geschlossene Museumsanlage. Es gibt die niedrigen Häuser mit den spitzen Ziegeldächern, ansonsten lebt das Dorf in der Jetztzeit und ist ein Teil von Berlin-Neukölln. 1737 gab Friedrich Wilhelm I. böhmischen Glaubensflüchtlingen alle Möglichkeiten, sich in Rixdorf anzusiedeln. Das war großzügig und umsichtig, aber nicht uneigennützig, denn die im Krieg verwüsteten und immer noch verödeten Dörfer sollten wieder belebt werden, und die Rechnung ging auf.

© Fritz-Jochen Kopka

Auf dem Gottesacker liegen Schwestern und Brüder getrennt

Ein Trupp Kleinkinder spaziert die Richardstraße entlang, vornweg zwei Knaben, ein Weißer und ein Farbiger, Rentner-Mercedesse hinter sich herziehend, als feierten sie schon ihren Lebensabend. Wie in den Himmel gehängt weit oben ein begrüntes Ziegeldach. An einer Haustür die Inschrift: Der Kiez bleibt dreckig. Deutsch-Österreichische Küche im Restaurant Louis. Passt schon, sagt der würdige Kellner allenthalben, um am Ende zu fragen: hat’s gepasst? Die vorüberziehenden Kinder sind fast alle dunkelhäutig, sie streiten sich lautstark, aber ohne Arg. Destillate, Spezialliköre aus eigener Herstellung. Frank Zander veranstaltet eine Werkschau. Er malt ja auch und ist ein sozial empfindender Mensch.

© Fritz-Jochen Kopka

Als es noch böhmischen Dorfschulzen gab in Berlin …

In der Rixdorfer Schmiede kommt es zu einem langen Gespräch über Messer. Früher und im Märchen sahen die Schmiede wie Gewichtheber aus. Dieser hier ist ein schlanker sportlicher Mann mit einem schmalen Schädel und großen Ohren, durchaus ein Charakterkopf. Messer sind meine Profession, sagt er, und nichts ist einfach, wenn man Messer bewertet. Wenn jemand einen runden Geburtstag hat, dann kann man sich von Martin Böck ein Messer für den Jubilar schmieden lassen, ein Werkzeug ganz nach eigenen Wünschen und den Ratschlägen des Schmieds, das kostet dann 100 bis 150 €, aber es tut seine Dienste über drei Generationen; kann man das teuer nennen? So wie bei uns japanische Messer einen Hype erlebten, so setzt man in Japan auf Messer aus Solingen. Ein gutes Messer ist immer gut, woher es auch kommt. Der Rest ist Exotik. Why not. Messer aus mehreren Lagen verschiedener Stahlsorten, mehrfach gefaltet, beim Ätzen und Polieren entstehen eindrucksvolle Muster. Harter Stahl bleibt scharf, bricht aber leicht. Weicher Stahl bricht nicht, wird aber schnell stumpf. Manchmal rundet sich die Schneide, manchmal biegt sie sich auch leicht zur Seite. Dann ist der Wetzstahl gefragt, auch das ist wieder ein Kapitel für sich.

© Andrea Doberenz

That’s Berlin too: Statt Höhenflügen Pflanzversuche

Wir fahren weiter nach Tempelhof. Auf dem leeren Flugfeld verlieren sich Radfahrer, Läufer und Spaziergänger. Soviel Weite in der verdichteten Stadt. Ein bisschen Hüttenbau, ein bisschen Kunst, ein bisschen Gardening, die Pflanzen wachsen in Behältern, Kisten und Schuhen. Der Wind fegt unsere Fahrräder beiseite. In dieser Weite kannst du dich verlieren.

Das Buch der alten Dame

Wenn ein neues Buch über die Kanzlerin „Die Patin” heißt, ist schon klar, worum es geht: Aufsehen erregende Thesen, Auflage, Kasse machen. Das sollte Sache der Autorin und des Verlags bleiben, und nicht zum Thema der Jauch-Talkshow werden, wo sich ein paar Millionen Zuschauer über 90 Minuten mit diesem offensichtlich miesen, weil extrem anmaßenden Werk bekannt machen müssen. Die Autorin Gertrud Höhler, schwer vermeidbarer Talkshowgast der Republik, hält sich offensichtlich für zuständig beim Thema weibliche Karrieren, und die von Angela Merkel behagt ihr nicht, von Unionsfreundin zu Unionsfreundin. Man kann übrigens diese Jauch-Talkshow als kleinen CDU-Parteitag bezeichnen, denn auch die anderen Gäste, Ursula von der Leyen, Lothar de Maiziere und Wolfgang Herles sind Union, nur der Moderator selbst beeilt sich abzuwinken. Ja, was hat nun die Professorin und Beraterin Höhler vorzubringen… Sie möchte noch mal wichtig sein. Sie ist in Sorge um die Werte der CDU, aus der Angela Merkel einen Gemischtwarenladen gemacht hat, sie ist auch in Sorge um die Demokratie, die von der geheimbündnerischen Kanzlerin erdrückt wird, indem sie das Parlament ausschaltet und Gesetze bricht. Die Blaublüter von der Leyen und de Maiziere wiegeln ab. Der Tittlinger Herles pflichtet bei. Herles ist ja wohl die übelste Ausformung des alten Westens, feist, farblos, rechthaberisch, karrieristisch, unoriginell. Wenn man ihn sieht und hört, weiß man, warum das ZDF zwangsläufig ein so schlechtes Programm machen muss. Frau Merkel gehe es nur um Macht, nicht um Werte, sie ist DDR-geprägt, lässt die Dinge laufen, schweigt. Da ist Herles schnell einverstanden. Frau Merkel redet nicht, sie würde vielleicht gern reden, aber sie kann es nicht. Kann Herles reden? Hört sich nicht so an. Er weiß es nur noch nicht.

Gertrud Höhler nennt Angela Merkel „die Fremde aus Anderland”. Merkwürdiger Begriff. Frau Höhler findet ihn poetisch, da lässt sie mal wieder die Literaturprofessorin raushängen. Wie wäre es, wenn man sich darauf verständigte, dass Leute von einem gewissen Alter an nur noch über weiche Themen schreiben? So hätte Frau Höhler zum Beispiel ein Buch über Norbert Röttgen anfertigen können, den sie bewundert. Und, liebe Freunde von der ARD, bitte nicht mehr solche Sendungen in Zukunft. Die sind doch allzu privat.

Der Fußballnomade weiß mehr von der Welt

© Fritz-Jochen Kopka

Verflucht sei, was platt macht – Spiele nach dem Ende der Karriere

Lieber Fritz,

was für ein Fest: Everton besiegt ManU 1:0 – hoch verdient! Ich sah mir die 2. Halbzeit im Killywilly am Südplatz an, wo gestern die Jugend den Platz verdichtete, wie ich es noch nie sah. Sie lümmeln nun auf Bürgersteig und in den Hauseingängen herum, bringen ihre Getränke selber mit. Die Freisitze der Kneipen sind trotzdem voll. Neue Kultur? Socialsplit? Ich weiß es nicht. Ich saß drinnen an der Bar dieses „Irish Pub“, der aber SkySport1 hat. Das Bulmers kommt dort 4,30! Oh Böhmen, ich wünsch dich her… Es war jedenfalls eine Freude, den Evertonians zuzusehen. Sie waren wirklich besser. Und Ferguson ließ van Persie auf der Bank sitzen! Rätselhaft.

Lieber Ecki,

über den FC Everton weiß ich zu wenig, als dass ich mich über den Sieg freuen könnte. Es stimmt schon, ich muss meine fußballerischen Interessen ausweiten, dann nimmt mich das Hansa-Dilemma nicht so mit. Gladbach habe ich nur die zweite Hälfte gesehen, sie erinnerte mich an Dortmunds letztjährige Aufritte in der Championsleague. Die Newcomer haben’s da immer schwer. Und was mit Luuk de Jong im Sturmzentrum wird, das ist noch nicht abzusehen. Es wird das berühmte schwere zweite Jahr für Lucien Favre, gar nicht auszuschließen, dass es mit dem Rausschmiss endet wie bei Hertha, aber Gladbach ist ja wohl ein besserer Verein.

Ok Fritz,

der FC Everton ist der andere Verein in Liverpool, wenn man den FC Liverpool als den einen bezeichnen mag. Was zumindest vor Ort unentschieden ausginge. Die Blauen vertragen sich aber mit den Roten, was angenehm ist. Man kann also ohne die geringsten Bedenken zu einem Derby fahren. Was ich schon mal tat. Und Everton ist 1878 gegründet, mithin der ältere Club (LFC erst 1892) und der Verein, der am längsten in der Liga war, mithin also den Welt-Superlativ der meisten Heimspiele für sich reklamieren darf. Sie waren auch ein paar Mal Meister, zuletzt in den 80ern. Heute unvorstellbar, nach der großen Kapitalvereinnahmung des Fußballs. Der Goodison Park ist auch noch ein richtig schön verkommendes altes englisches Stadion. Meist Holz. Und es riecht nach Männerpisse, wenn man durch die Katakomben geht. Das Stadion steht mitten im Wohnviertel, und zur Anfield Road geht man einmal durch den Stanley Park und ist beim LFC. Überhaupt gefällt mir Liverpool ungemein! Eine völlig verkommene Stadt, die seit 50 Jahren vergeblich um Anschluss ringt. Außer beim Fußball. Und der Zuckerhafen ist noch intakt dank Tate & Lyle! Sonst: Deprimation allerorten. Nur Fußball und Beatles. Aber die wohnten auch lieber woanders.

Gladbach: schlimm! Aber auch Glückseier für die Kiewer, dieser abgefälschte Hammer, das Eigentor! Es wird wohl kaum reichen für Gladbach, das wär ja ein Wunder. Auch muss sich dieses Kollektiv erst finden, sind eben viele neu.

Gedicht und Schuh

© Fritz-Jochen Kopka

Verkooft jetzt Schuhe in Berlin-Mitte. Und was wird mit den Literaturpreisen?

Hans Sachs war Schuh-/Macher und Poet dazu. Da sehen wir eine Traditionslinie. Durs Grünbein war Poet und ist nun auch noch Schuhverkäufer. Wie gleichen sich ein Gedicht und ein Schuh? Das eine besteht aus Worten, das andere aus Leder und Gummi. William Carlos Williams sagte: „Ein Gedicht ist eine kleine (oder große) Maschine, hergestellt aus Worten. Nichts an einem Gedicht ist sentimentaler Natur; damit will ich sagen: es darf sowenig wie irgendeine andere Maschine überflüssige Teile enthalten. Seine Bewegung ist eine Erscheinung eher physikalischer als literarischer Art.”

Okay, Maschine, Schuh. Der Unterschied zwischen Gedicht und Schuh ist, dass der Schuh nur als Paar funktioniert. Das Gedicht geht eher barfuß.

Das ist der unernste Aspekt der Sache, es gibt auch einen halbernsten. Der heißt „Koloss im Nebel” , neuer Gedichtband von Durs Grünbein, besprochen von Fritz J. Raddatz in der „Welt”, deren Buchbeilage „Literarische Welt” sich, ganz schön lächerlich, im Untertitel „Ein Journal für das literarische Geschehen” nennt. Raddatz versteht nicht viel von Gedichten und Eisenbahnen, deshalb muss er, wenn er von Gedichten spricht, zu einer Grundsatzdiskussion ausholen und die lautet: „Die Deutschen lieben ihre selbstfabrizierten Mythen, lauwarm weichgespült mögen sie bitte nicht von den kühlen Wassern der Vernunft gereinigt werden.” Raddatz nennt als Beispiele dieser deutschen Mythen Neo Rauch, Helmut Schmidt, Robert Gernhardt, Theodor Heuss – seiner Meinung nach alles Nieten oder Schurken oder beides, aber vom ungebildeten deutschen Volk heiß geliebt. Es sollte doch lieber Fritz J. Raddatz lieben, das deutsche Volk, da wäre es an der richtigen Adresse, bei diesem notorischen Selbstüberschätzer, üblem Nachredner und Jammerläppchen. Okay. Was hat das mit Durs Grünbein zu tun? Er gehört nach Raddatz’ Meinung auch zu diesen hochverehrten Nieten. Die PR nenne ihn: „eine der markantesten Stimmen deutscher Dichtung unserer Zeit”.  Was weder für noch gegen den Dichter spricht. Ähnliches sagen doch alle Verlage von allen ihren Dichtern, weil sie denken, ein Buch verkaufe sich schlecht, wenn man nicht auf die Pauke haut. Raddatz hat offensichtlich davon gehört, dass das Wesen des Gedichts das Geheimnis sei, der sakrale Innenraum, den das Gedicht umschließt wie eine Frucht ihren Kern. Mag sein, dass daran etwas ist, wenn man es weniger parfürmiert ausdrückte. Raddatz zitiert, um etwas bodenständiger zu werden, Walter Benjamin, wie er überhaupt ständig zitiert, weil ihm selbst die Argumente fehlen, um es mit Buch und Autor aufzunehmen, er braucht Enzensberger und was der über Benn sagte, er braucht Osterkamp und die SZ. Grünbein aber wirft er sein Bildungsrenommee, die Belehrungssucht vor. Da sieht dann wohl jemand den Balken im eigenen Auge nicht. Und mit den aus dem Kontext herausgenommen Verszitaten Grünbeins vermag Raddatz natürlich nichts zu beweisen, außer, dass er unfähig ist, mit seinen selbst erklärten Weisheiten umzugehen, zum Beispiel der von der Geheimnishaftigkeit des Gedichts. In diesem Sinn sagt das Zitat über das Gedicht überhaupt nichts aus. Was genau ist mit Grünbein passiert, fragt Raddatz, und das genau kann er nicht beantworten. Er redet abermals von dem übermittelten „Bildungsplissee” und schließlich von einer angemaßten Omnipotenz. Grünbein kann zu allem und jedem ein Gedicht herstellen. Da erklärt der Verlag schon besser, wenn er uns mitteilt, dass Grünbein sich seinen Gegenständen in konzentrischen Kreisen nähere. Womit ein Dichter, wenn er älter wird, vielleicht auch wieder aufhören kann. Oder wird das mit dem Alter eher schlimmer?

Gegen Grünbein spricht allerdings der Umfang des Buchs. 200 Seiten für einen Gedichtband, meine Güte. 80 Seiten sind in Ordnung, aber 200? Ein Gedicht ist leider viel schneller gemacht als ein Schuh.

Berlin Alexanderplatz (2): That’s my song

© Fritz-Jochen Kopka

Reverend Shine und das rote Megaphon

Die S-Bahn hielt. Ale-xan-der–platz?, buchstabierte ein junger Russe fragend und sah mich an. Nein, antwortete ich charmant, Fritz-Jochen Kop-ka. Unten, am Brunnen, den man ungerechterweise Nuttenbrosche nannte, fragte ein Straßenkid: Hast du mal ’n Euro für ’ne Mini-Pizza? Ja, sagte ich, aber ich hab keinen Hunger.

Das sind alles so Sachen, die ich hätte sagen können, aber nicht wirklich gesagt habe, weil ich einerseits Humanist bin und andererseits keins auf die Fresse kriegen möchte. Ich erinnere mich an die Zeit, als es hier einen dünnen jungen Mann gab, der auf den Bahnsteigen die S-Bahnen abfahren ließ. Er gab mit seinen Armen die Signale, und die Bahnen fuhren. Ich meine, sie fuhren sowieso, und die Fahrer kümmerten sich nicht um diesen Mann, aber das konnte man auch anders sehen, und er sah das anders. Seine Arbeit verschaffte ihm Befriedigung, er sah fröhlich aus.

Dies ist der erste, immer noch bedeutendste deutsche Roman, in dem die Großstadt nicht nur Schauplatz und Rahmen, sondern Thema, Atmosphäre, aktive Dynamis und sprachproduktiv geworden ist, heißt es in Wilperts Lexikon der Weltliteratur über Döblins Berlin Alexanderplatz. Wenn ich es richtig sehe, interessierte Döblin weniger der Platz als vielmehr die abzweigenden Straßen. „Wie von gewissen alten Kirchen in manchen Städten strahlten von diesem Platz kleine finstere und zweifelhafte Straßen aus… Ich wandere die Münzstraße hinunter, hier gab es früher viele Lokale, auch zweifelhafte. Auch viel kriminelle Dinge sind hier passiert; es war ein ungeheuerliches Menschengewühl.” Diese Straßen sind jetzt dabei, ihre Finsterkeit zu verlieren. Sie sollen glänzen. Franz Biberkopf kommt aus dem Knast und denkt: die Strafe beginnt. Nein. Döblin sagt das voraus. Schuhgeschäfte, Hutgeschäfte, Glühlampen, Destillen. Warenhaus Tietz. Wo soll ick armer Deibel hin, denkt Biberkopf in der Sophienstraße. Kinoreklamen. „Wat machen wir?”, sagt Biberkopf. „Ick bin frei. Ich muss ein Weib haben.”

© Fritz-Jochen Kopka

Wohin schaust du, Johnny Jukebox, wohin geht deine Sehnsucht

Weiber gibt’s genug am Alexanderplatz. Sie stehen im Kreis um Johnny Jukebox herum, der an der Weltzeituhr steht und „Hallelujah” von Leonard Cohen singt. Es ist ein heiliger Moment. Nur der Mann im Rücken von Johnny Jukebox frisst stumpfsinnig seinen Superburger.

Auf einem Video bei Youtube steht eine Gruppe von Mädchen neben Johnny Jukebox, sie tragen vorwiegend gelbe Kleidung, und sie singen den Chorus seines Songs, und das tun sie verdammt gut. Es ist eine echte Vorführung. Johnny Jukebox lächelt und staunt. Es gibt hier keine Definition von Glück, aber das ist ein Beispiel. Da steht einer an der Weltzeituhr, Berlin Alexanderplatz, und singt sich die Seele aus dem Hals, und dann stellen sich die Mädchen neben ihn, die vielleicht aus Paderborn oder Speyer kommen, und sie sind sofort ein Team. Es ist Glück für Johnny Jukebox, und es ist Glück für die Mädchen. Wahrscheinlich werden sie diesen Moment ihr Leben lang nicht vergessen.

Vorletzten Freitag spielten Reverend Shine Snake Oil Co. auf dem Alexanderplatz. Die Band kommt aus Kopenhagen, zwei Musiker sind Amis. Der farbige Sänger, ich sag mal Reverend Shine, singt in ein rotes Megaphon. Es klingt nach Tom Waits. Der Reverend ist ein Entertainer, wie er im Buch steht. Er macht Spaß, er ist ernst, er streichelt das mittanzende Kind, er begrüßt im Publikum einen Musikerkollegen, alles ist leicht, und er ist ganz bei seinen Songs. Auch das ist ein großer Moment, der lange dauern kann, wenn man Zeit hat.

Was mir entgangen war

Man muss auch loben können, ja, und man muss auch den Bundestrainer loben können, da sollte man in der Lage sein, über seinen Schatten zu springen, und ich sehe mich dazu in der Lage. Seine, Löws, sogenannte Wutrede hat mir nicht behagt. Dabei ist mir ihr eigentliches Glanzstück entgangen, eine taktische Meisterleistung, wie man sie nur selten erlebt. Löw hat sich mutig vor sein Team geworfen, hat, wenn es für mich auch wenig überzeugend anmutete, alle Vorwürfe gegen die Kicker entkräftet, zum Beispiel, dass sie die Hymne nicht singen und folglich schlechte Patrioten seien, sich nicht für Deutschland ins Zeug legten, dass es ihnen, weiter, zu gut gehe, dass sie verwöhnt seien und wie Memmen agierten. Jogi, der Held, hat all das abgewehrt. Das finde ich … schlecht, das ist … fatal, diese Kritik ermüdet mich.

Wenn man es überprüft, waren alle diese Vorwürfe Arabesken, niemand hat ernsthaft behauptet, dass ein schlechter Hymensänger auch ein schlechter Fußballer sein müsse. Die Mannschaft ist nicht wirklich kritisiert worden. Die Kritik richtete sich gegen den Bundestrainer, der gegen Italien statt mit der nahe liegenden und richtigen, mit einer gewollt originellen und konfusen Mannschaftsaufstellung aufwartete. Indem der Bundestrainer nun selbstlos die Spieler gegen Kritik verteidigte, rückte er aus dem öffentlichen Bewusstsein, dass die Kritik in der Hauptsache ihm gegolten hatte. Ein Meisterstück! Das stimmt mich hoffnungsvoll: Er ist eben doch ein großer Taktiker.

Für Löw spricht auch, dass die Spieler zu ihm stehen, gerade erst machte sich Sami Khedira für ihn stark. Dabei muss man allerdings berücksichtigen, dass Jogi Löw Kritik der Kicker an seinem Vorgehen nicht verzeiht. Da kommt garantiert, und sei es nach Jahr und Tag, der Bumerang zurück. Einige Spieler wissen ein Lied davon zu singen. Aber auch das spricht nur für Löws taktische Fähigkeiten und also für ihn.

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Ein Bundestrainer beklagt sich bitter

In ungewohnter Schärfe konterte der Bundestrainer (den wir fast schon vergessen hatten) die Kritik an der Nationalmannschaft, wurde uns versprochen. Und wir waren gespannt. Sollte Joachim Löw in den sechs Wochen nach der enttäuschenden Fußballeuropameisterschaft ein anderer Mensch geworden sein? Nicht mehr der etwas tranige, in Gedanken immer leicht abwesende „nette Herr Löw”, der „deutsche Fußballingenieur”, der seine Härte eher unentdeckt hinter den Kulissen zeigt, sondern ein polemischer, leidenschaftlicher Mann, der die besseren, scharfsinnigen Argumente hat?

Die Kluft zwischen Ankündigung und Lebenswirklichkeit war deprimierend. Da saß ein verunsicherter Mann, einer aus dem Kreis der Erniedrigten und Beleidigten, der sich wider allen Anschein im Recht wähnt, in der Siegerrolle, der Mann, der nach der kläglichen Niederlage gegen Italien noch verkündete, er übernähme die volle Verantwortung, ohne dann eine einzige Konsequenz daraus zu ziehen. Das war kein energischer Boss, sondern ein Mann, der seine Contenance verloren hatte und seine Stimme erhob, die  einen unangenehm ziegenhaften Sound bekam. Dafür kann er nichts, wohl wahr. Aber er spielte eine Rolle, die ihm nicht stand, das hätte er wissen können, so wie wir wissen, dass sich Menschen nicht wirklich ändern.

Es war nicht nur (scheinbar) die Stunde des Bundestrainers, es war auch die Stunde seiner Hofberichterstatter, der beiden Michis vom Sportteil der FAZ, Horeni und Ashelm. Jugendfreunde, wir schätzen es nicht, veräppelt zu werden. Wir haben Augen im und Ohren am Kopf. Merkt euch das. Knallharter Verteidiger, säuselt Horeni, eine Rede voll Ernst und Engagement, die man getrost eine große Rede nennen kann, schleimt er. „Der Bundestrainer, der konzentriert jeden zentralen Punkt der wochenlangen Diskussionen aufarbeitete, … präsentierte sich bestens präpariert.”

Dabei saß da ein Bundestrainer, der hilflos nach einem großartigen Wort suchte und immer bei „Das finde ich … schlecht” oder „Das ist … fatal” landete. Und um die zentralen Punkte (wenn es denn davon überhaupt mehrere geben kann) mogelte er sich herum. Ob die Spieler die Hymne mitsingen oder nicht, ist peripher, das weiß jeder, ob mit der Legende von den flachen Hierarchien die Führungspersönlichkeiten verloren gegangen sind, ist eine Scheindiskussion. Der Bundestrainer Löw erlebt die Gnade eines Zeitraums, in dem wir ein Überangebot an jungen, erstklassigen Mittelfeldspielern haben. Auf diese Gnade versteht er nicht zu reagieren, er hat keine Idee für dieses Reservoir. Stattdessen hält er, wie schon bei den Meisterschaften zuvor, an Spielern fest, die nicht fit sind. Er findet keine Lösung für das eher begrenzte Personal im Sturm und auf der Außenverteidigerposition. Zu diesen Punkten letztlich kein Wort. Stattdessen sitzt vor den Journalisten ein überforderter Mann, der – wie in einem alten Kinderbuch – gleichsam immer wieder sagt: Ich schimpfe euch aus… Ich schimpfe euch aus.

Und die Hofberichterstatter jubeln: Das war sehr mutig. Das war brillant.

Das sagte Löw auch noch: „Fakt und grundsätzlich ist auf jeden Fall eins: Unser Weg … stimmt.” Woran erinnert mich das so … fatal?

Man verdirbt sich sonst den Charakter

Was ich da sah und was ich im Vorfeld hörte, ließ mich an die Wiederkehr des ewig Gleichen denken. Die Olympischen Spiele sind vorüber, der Fußball scharrt mit den Hufen. Wir armen Hansa-Rostock-Schweine sind schon wieder deprimiert, und die Hertha legt auch in der zweiten Liga einen Fehlstart hin. Die erste Liga beginnt mit dem, wie jeder weiß, bedeutungslosen Supercup, es sei denn, Bayern München gewinnt diesen Supercup, dann ist er natürlich bedeutungsvoll und ein Omen für die Saison. Sie, also die Münchner Bayern, führten schon nach 12 Minuten 2:0 gegen Meister Dortmund, und da konnte man sehen, wie tief die Demütigung bei ihnen sitzt, nachdem sie fünfmal in Folge gegen die Borussen verloren hatten. Sie bewegten sich plötzlich, als könnten sie vor Kraft kaum laufen, und so fand Dortmund, das am Anfang in der Innenverteidigung etwas schläfrig war, langsam ins Spiel. Die besten Münchner waren die Neu-Bayern Dante und Mandzukic, das ist nur logisch, da sie vom Bayern-Gen noch nicht infiziert sind, fehlt es ihnen an Selbstgefälligkeit. Mandzukic hat allerdings schnell gelernt, nach Bayern-Art zu protestieren und zu reklamieren, wenn ein Zweikampf gegen ihn gepfiffen wird, lacht er höhnisch, als sei der Schiedsrichter geisteskrank. Hoch motiviert war Robben, ein Problemfall der vergangenen Saison, er will seine Zweikämpfe auf Biegen oder Brechen gewinnen, das sieht dann so aus, wie wenn Mädchen sich kloppen. Okay, letztlich brachten die Bayern in diesem so bedeutungslosen wie bedeutungsschweren Spiel vor eigenem, ebenfalls schwer gedemütigtem, Publikum einen 2:1-Sieg nach Hause. Das gönnen wir dem Team und vor allem dem  angeschlagenen Präsidenten Hoeneß, der bereits das Ziel ausgegeben hat, „unangefochten die Nummer eins zu sein”.  Wenn ick mal Zeit habe, erkläre ick ihm, warum es so bescheuert und langweilig ist, wenn man sich nach dem Zustand der Unangefochtenheit sehnt. Wenn ich nicht verlieren, wenn ich nicht damit leben kann, Zweiter oder Dritter zu werden, dann sollte ich mich aus dem Sport zurückziehen. Man verdirbt sich sonst den Charakter.