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Archive for Juli 2021

Familien und Flöße

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Auf Berlin-Brandenburger Gewässern ist keiner allein                                                                                                @ FJK

 

Wir waren eine kleine Geburtstagsgesellschaft und gingen als Selbstversorger in Woltersdorf (im Hinterhof oder Vorgarten von Berlin) aufs Floß. Diese Idee hatten wir erst mal für gar nicht so besonders gut gehalten. Etwas unbequem für Leute in mittleren und späteren Jahren, aber was soll’s. Man kann nicht immer dagegen sein.
Mehr als wir für drei Stunden brauchen konnten hatten wir dabei, alkoholfreie Getränke, Wasser, Kaffee, helle und dunkle Brötchen, Buletten, Käse, Aufschnitt, Kuchen. Man kann sowas nicht durchplanen und folgt dem Prinzip: Lieber zu viel als zu wenig. Unser Boss wurde eingewiesen: Mit dem Floßboot, so ist es richtig, kann man schalten und walten wie mit einem PKW. Wir nannten ihn John Maynard, womit er zufrieden war. Er kam gut aufs offene Wasser. Noch Tage später wussten wir nicht genau, wo wir geschwommen waren. Zunächst im Flakensee. Dann aber durch die Spree (oder einen Spreekanal) zum Dämeritzsee oder aber durch die Löcknitz zum Werlsee. Ist ja auch egal. Heiner Müller beschrieb ein Verkommenes Ufer, wir aber sahen, knapp vierzig Jahre später, nur gepflegte und überwiegend besiedelte Ufer. An ihren Stränden saßen die Besitzer vor ihren Bungalows, Datschen, Häusern und Villen auf bequemen Stühlen und hoben die Hand, wenn wir vorbeifuhren. Ab und zu zog ein Mähroboter als nützlicher Idiot seine irrationalen Kreise, ansonsten war alle Arbeit getan. Der Mensch, wenn er zu Stuhle gekommen ist – beneidet er jene, die noch unterwegs sind auf den Gewässern? Oder wären die Fahrenden lieber in der Rolle jener, die ihr Schäfchen im Trockenen haben und ihren Besitz verwalten?
Mit Juchhu und Yippieyeah begrüßen sich die Passagiere, die mit Paddelbooten, Kajaks, Flößen und Jachten unterwegs sind, ohne zu fragen, was sie davon haben; das ist einfach so in der Gemeinschaft der Wasserwanderer. Man grüßt sich, als träfe man alte Bekannte wieder.
Im Dämeritz- oder eben Werlsee gingen einige baden, ohne daran zu denken, dass es sehr schwer ist, aus dem See wieder aufs Floß zu gelangen. Auch das nimmt man mit Heiterkeit zur Kenntnis. Nach drei Stunden und zwei Fingerbreit Sekt für jeden ist der Geburtstag vorbei. John Maynard steuert sicher an den Steg und bekommt Beifall wie ein Pilot. Wir gehen in besinnlicher Stimmung von Bord und wissen nicht, ob das Familienfest auf dem Floß nicht noch viel länger hätte dauern können.

… wir wolln bei Zenner gehn

… da ist es wunderschön (nicht wirklich)
© FJK, ADe

Heimat, deine Zäune

Herz der Finsternis

Spree stromaufwärts

Wir hörten von Zenner und machten uns auf den Weg. Zenner in Treptow, am grünen Strand der Spree, der Biergarten wiedereröffnet, alles neu, alles toll, was kann man Besseres tun an einem Sonnabend im Juli, Amanda. Der Routenfinder bot eine Verbindung mit vier Verkehrsmitteln von Karlshorst nach Treptow an – ist doch absurd. Wir wollten mit der Fähre am Wilhelmstrand übersetzen und weiter zu Fuß. Ein Schritt in die falsche Richtung gemacht, und man stößt nur auf Zäune und Mauern rund um das alte Rundfunkgelände. Wir sammelten jede Menge Umwege und auch ein bisschen Verzweiflung, bis wir endlich übersetzen konnten. Auf der anderen Seite der Spree trafen wir auf viele erfolglose Angler und zähe Läufer. Die Bäume waren durch Gitter gegen Biber geschützt, der Weg weiter als vermutet, noch an der Insel der Jugend vorbei, und dann waren wir da. Ein unübersehbares Terrain, hochmodern mit hellgrauem Schotter unterlegt. Das Restaurant selbst ist noch scheintot. An zwei Kiosken kann man sich versorgen. Wir standen am falschen, am sogenannten Weingarten, lechzten aber nach Bier. Auf der Karte Pizzen, Salate, Tapas. Wie schmeckt in Rotwein gedünstete Chorizo? Nicht besonders. Die Schlangen am Biergarten waren lang. Alles Berlinische ist bei Zenner ausgetrieben. Hier sitzt die Community der Neuberliner, ist und isst polyglott. Sie wollen alle noch irgendwie tanzen am Abend und sprechen in Diskolautstärke. Das Personal war höflich, aber chancenlos gegen das Konzept. Wir flohen mit dem Bus zum S-Bahnhof Treptower Park und fanden dort am Spreeufer viele originelle Kioske mit appetitlichen Speisen, Getränken und die ersehnte Portion Gelassenheit. Berlin. Verändert und sich doch treu.
Wie war’s früher? Annemarie Lange erzählt in „Berlin zur Zeit Bebels und Bismarcks”:
Zogen die Familien sonntags „ins Jrüne”, … so packten sie ihre „Freßkober”, Stullen- oder Kuchenpakete und ließen sich dazu, falls sie einkehrten, den mitgebrachten Kaffee in großen Familienkannen aufbrühen… Sonntägliche Familienausflüge – möglichst viele gemeinsam, damit es erschwinglich wurde – in gemieteten Kremsern zum Forsthaus Tegel, nach Treptow zu „Zenner” oder dem „Eierhäuschen” … blieben noch bis ins 20. Jahrhundert hinein ein seltenes, lange vor- und nachbesprochenes Ereignis.

Hilbig – Wodin – Berlin

Himmel über Berlin
© FJK

Als Berliner genießt du den Vorzug (der sich aber auch als Nachteil erweisen kann), ab und zu etwas über deine Stadt zu lesen, das dir ermöglicht, deine Eindrücke zu vergleichen, zuletzt in einem Roman mit dem Titel „Nachtgeschwister” von Natascha Wodin. Wodin ist eine Schriftstellerin, die einen – wenn auch traurigen – Ruhm erlangte, weil sie mit dem Schriftsteller Wolfgang Hilbig zusammenlebte und auch mit ihm verheiratet war. Ihre Einzigartigkeit beruht aber darauf, dass sie als Kind russisch-ukrainischer Zwangsarbeiter in Fürth geboren wurde und die Abstoßungsmechanismen der deutschen Gesellschaft gerade gegen Russen erlitt. So ist es beinah logisch, dass sie aus der vermeintlichen Schwäche eine Stärke macht und sich auf ihre östlichen Wurzeln besinnt, denen sie im nachwendischen Ostberlin nahezukommen glaubt, an der Seite Hibligs natürlich oder auch nicht an der Seite dieses Mannes, der ein begnadeter Dichter und ein verfluchter Trinker war und dazu ein wahrer Monolith, den man nur in seltenen Momenten erreichte.
Schon in den Vorzeiten um 1966 hatte Wodin mit einem Tagesvisum Ostberlin besucht, um am Alexanderplatz zu stranden. „Der eisige Wind, der sich hier zwischen den Gebäudekolossen herumtrieb, schien mir bereits aus Russland zu kommen, aus dem Totenreich der sibirischen Lager… Ich war sicher, dass ich in die Falle gegangen war, dass man mich im nächsten Augenblick ergreifen und auch dorthin bringen würde, wo nachts die Wölfe heulten und wo einem das Haar im Schlaf an der Pritsche festfror.” Nichts dergleichen geschieht. Vielmehr ist ein Weihnachtsmarkt zu entdecken, wo ungerührt „Ihr Kinderlein kommet” gespielt wird. „Die sogenannte Ostzone war ein völlig undeutbarer, unbegreiflicher Ort für mich geworden”. Knappe dreißig Jahre später bietet ausgerechnet das aufgestörte Ostberlin Natascha Wodin die Chance, eine Heimat und zum Besten ihrer Prosa zu finden. „Die Straßen und Brachen zwischen den Häusern sind grün geworden, an Mauern blühen wilde Blumen. Seit dem 1. Mai ist das junge Laub der Bäume an vielen Stellen abrasiert von den Wasserwerfern, die schon am Vortag in den Straßen standen und mit unsichtbaren Augen die Gegend observierten: Die Demonstranten waren eingeflogen, zerrauft, bemalt und zerstochen von Schmuck wie Eingeborene, die Ladenbesitzer hatten ihre Schaufenster mit Holzbrettern verbarrikadiert, die Gegend wirkte wie eine für einen Großangriff gerüstete Festung. Auf meinem kurzen Weg in die I-Straße war ich zweimal von Polizei angehalten worden und musste meinen Ausweis vorzeigen, um zu beweisen, dass ich keine angereiste Steinewerferin war, sondern auf der Straße ging, weil ich hier wohnte. Inzwischen ist der Spuk längst vorbei, ich gehe durch das große Freiluftwohnzimmer, in das sich die Gegend seit dem ersten blauen Riss im Himmel verwandelt hat.”
Es war vielleicht im selben Vormai, als ich durch dieselbe Gegend trödelte. Prenzlauer Berg – Leben im Grünen, sagte ein Anwohner reklamemäßig und meinte die Uniformen und Einsatzwagen. Wohnen Sie hier?, fragte ein junger Polizist. Nein, auf keinen Fall, sagte ich. Sehen Sie, sagte der Polizist, dann darf ich Sie gar nicht durchlassen. Sind denn die Kneipen zu?, fragte ich. Ja, sagte er, alle geschlossen. Dann hat’s sowieso keinen Zweck, sagte ich.
Ich sah einen kleinen Zug von Punkern, die auf die Danziger Straße einbogen, an der die Einsatzkräfte Spalier standen. Die Punker trugen keine Losungen, sie waren einfach nur bunt. Die Polizisten waren unschlüssig. Sie konnten mit den Punkern nichts anfangen. Nur die Punker können mit den Punkern was anfangen. In der Nacht, Walpurgisnacht, gab es die übliche Randale. Aber damit hatte ich nichts zu tun, ich wohne, wie gesagt, in einer anderen Gegend. Man hat mit vielen Dingen, die in Berlin geschehen, nichts zu tun, weil man eben woanders wohnt. Mal leider Gottes, mal Gottseidank.
Ich weiß übrigens, wo Hilbig damals wohnte. Er stand in der Akademie der Künste am Hanseatenweg (auch so ein seltsamer Ort in Berlin) und erinnerte sich nicht an unsere gemeinsame Vorgeschichte in einem Zirkel Schreibender Arbeiter in Leipzig, war aber zugänglich. In seinem Haus, Metzer, Ecke Kollwitz-Straße, befand sich im Erdgeschoss ein russisches Bordell, da war nachts immer Leben, erzählte er mit stolzer Ironie. Mit ebensolcher Ironie deutete er auf sein sprudelndes Selterswasser und sagte, dass er aufgehört habe zu trinken, als wäre da gar nichts dabei. Jahre später ging ich am Anfang der Schönhauser Allee an einer Kneipe vorbei gegen Mittag, ein einziger Mensch saß dort und frühstückte, Hilbig, es war eine wegen des Fluidums der Einsamkeit höchst poetische Szene, ich überlegte, reinzugehen und mich zu ihm zu setzen. Aber sollte ich den ganzen Mist mit dem Zirkel Schreibender Arbeiter in Leipzig und den drei Studentinnen aus Montpellier noch einmal erzählen, die alten Zeiten, als wir Mitte zwanzig waren, an die er sich sowieso nicht erinnern konnte oder wollte? Sollte ich ihm etwa erzählen, wie er zu seiner Französin in seinem unterirdischen Sächsisch sagte: „Ich heiße Wolfgang. Goethe hieß übrigens auch Wolfgang”, damit es bei ihm vielleicht dämmerte? Ein halbes Jahr später war Hilbig gestorben, und ich fühlte mich mitschuldig, wie ich mich überhaupt am Tod aller Leute, die ich kenne, mitschuldig fühle.
So ist Berlin in vielen Punkten eine äußerst missverständliche Stadt. Und es ist gerade dieses Missverständliche, dass es den Dichtern erlaubt, gute Sätze zu schreiben.

(Dieser Text ist von 2010 und mit einem untergegangenen Gemeinschafts-Blog mituntergegangen. Ich habe ihn lange gesucht und doch wiedergefunden, und deshalb steht er jetzt hier.)

Was Nachbarn Nachbarn lieber nicht sagen

Sie kommen sich durch ihre Hunde näher. Aber auch nicht zu nahe.
© FJK


„Jetzt könnt ihr wieder schön draußen husten, wat, Horst?” „Ich hab ja gegrüßt. Ihr kriegt das bloß nicht mit, in euerm Alter.” „Schon abgefurzt heute?” „Du gehst durch deinen Garten wie der Golem.” „Deine Frau hab ich lange nicht gesehen.” „Was riecht denn bei euch so stark nach Essen (den ganzen Tag)?” „Wir nehmen zum Fensterputzen nur klares Wasser.” „Was hört ihr da eigentlich immer für einen Sender?” „ Wo ist denn Walter die ganze Zeit? Hat der jetzt ’ne andere?” „Lässt Ilse dich noch manchmal ran?” „Lehrreich wieder, die Bild-Zeitung heute, wa?” „Eure Kinder besuchen euch selten, stimmt’s. Ist da was vorgefallen?” „Seid wann geht Ihr denn wählen uff einmal!” „Heil Vogelschiss” „Du sitzt da schön, wat? Nuckelst dein Bierchen, furzt dir einen und denkst an die Zeiten, wo du noch wat zu sagen hattest” „Ich staune, dass Ihnen Ihre Sachen noch passen.” „Wenn Sie so viel Geld haben, warum gehen Sie nicht mal zu einem richtigen Friseur!”