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Archive for April 2017

Momentaufnahme Tierparkcenter

Unlichte Tage
© Fritz-Jochen Kopka

Eine Kurzstrecke reicht von hier bis zum neuen Personalausweis. Das Center am Tierpark nebst Bürgeramt 3 in der illustren Otto-Schmirgal (wer war das?)-Straße singt den Rentner-Blues. Kommt her, die ihr mühselig und beladen seid. Und sie kommen. Ein riesiger Liefer-Truck versperrt die enge Straße zum Supermarkt, traut sich nicht weiter. Der Beifahrer dirigiert den ängstlichen Fahrer mit dramatischen, aber wenig hilfreichen Gesten. Wenn wir hier von Architektur reden wollen, müssen wir auch von Misslingen oder von gar nicht erst gehabten Ansprüchen reden. Eingang Ost, Eingang West, zehn Meter von einander entfernt. Dient das der Orientierung? Außen sieht’s sonderbar aus, innen ist es unwirtlich. Im ersten Geschoss funktioniert noch ein Italiener und das WC für alle Besucher, die 50 Cent erübrigen können. Das Bürgeramt selbst ist voller Gestalten verschiedener Nationen. Wir Deutschen sind dabei nicht die Schönsten. Es geht um Wohnungsanmeldungen, Kfz-Kennzeichen, Personalausweise und Ausreisen. Termine vergibt das Internet. Die Stimmung ist langmütig. Kein Mensch liest ein Buch außer einem. Du brauchst nur ein biometrisches Foto und eine Geldkarte. Deine Daten haben sie hier sowieso. Freiwillig kann dein Fingerabdruck gespeichert werden, was mehr Sicherheit bei Personenkontrollen brächte.

Diese Arbeiter haben immer Hunger. Oft wird ihnen auch die Zeit lang.

Kaiser’s ist jetzt Rewe. Der Beifahrer des Trucks steht schon wieder im Weg. Er breitet am Eingang des Markts eine dreckige Matte aus. Ich warte, weil ich nicht unter die Matte geraten will. Etwas schneller, sagt er, wenn’s geht. Das gilt auch für Sie, sage ich. Haben Sie ’ne Stoppuhr dabei? Er überlegt kurz und sagt ja. Die Probe aufs Exempel versage ich mir. Kunden und Mitarbeiter sind mit dem neuen Sortiment noch nicht vertraut. Die Rentner beäugen missmutig die kleine Schlange an der Kasse. Im Backshop kaufe ich ein Mettbrötchen und eine Tasse Kaffee. Das bereitet keine Schwierigkeiten. Ich frage zwei ältere Herren, ob ich an ihrem Tisch für einen Moment Platz nehmen darf. Sie sind großzügig. Große Künstler sind das, sagt der eine, aber wie die aussehen. Der andere kann darüber nur den Kopf schütteln. Ich habe jetzt zwei Möglichkeiten, ins Gespräch einzusteigen. Eins: Nennen Sie mal ein Beispiel. Zwei: Und habt Ihr Euch auch mal über Euer Aussehen Gedanken gemacht? Ich wähle keine von beiden und schweige. Cum tacent, clamant. Indem sie schweigen, schreien sie.

In dem Kinderwagen is wahrscheinlich ooch ’n Rentner drinne, ’n ganz kleener …

Hast du gestern Union gesehen? Verloren. Das war doch ne Chance gewesen. Ich breche mein Schweigen und sage: Sie haben nicht schlecht gespielt. Sag ich ja, sagt der Mann. Das Foul, das zum 1:0 führte, war gar kein Foul und schon gar keine Gelbe Karte, sage ich. Danke, ruft der Mann, als hätte ich ihn eben aus einem Abgrund gezogen. Der Schiedsrichter, Ittrich, war auch jener, der bei Hertha so lange nachspielen ließ, bis die Bayern den Ausgleich geschossen haben, lasse ich sie wissen. Die sind alle gegen Berlin, sagen die Männer einmütig. Und dann sind sie beim Weltfußball. Der achtjährige Sohn von Ronaldo bewegt sich schon genauso wie Ronaldo. Ich mag den ja nicht. Das is’n Angeber. Da bin ich anderer Meinung, sage ich, der hat keine leichte Kindheit gehabt und warum soll er nicht angeben mit dem, was er hat. Denken Sie mal an das Endspiel der EM, wie er verletzt am Spielfeldrand stand und das Team angefeuert und gecoacht hat.

Ach, Architektur

Okay. Ihnen passt die ganze Richtung nicht. Geld regiert die Welt und den Fußball erst recht. War früher besser, als nur drei Ausländer in einer Mannschaft spielen durften.

Diese Regel ist in einem demokratischen Verfahren gekippt worden.

Ach, Demokratie, winken sie ab. Geld! Es geht doch nur ums Geld.

Diese Entwicklung halten wir nicht mehr auf, sage ich.

Die Männer sind beim dritten Kaffee. Ja, möchte ich sagen, sie trinken den Kaffee wie Bier. Es ist elf Uhr am Vormittag. Bier können sie dann ab fünf trinken. Wir können uns jederzeit wieder in die Augen sehen.

Nach dem Halbfinale

Mit fünf Staropramen und einem Gratisgrappa in den Knochen war ich sicher nicht auf der Höhe meiner Leistungsfähigkeit und trotzdem haben wir die Telekomtruppe besiegt und aus dem Pokal gekegelt. Der Anteil der Fans vor dem Gerät ist wohl doch nicht so hoch wie angenommen, aber auch nicht zu vernachlässigen, ich war jedenfalls trotz des Biers kein Totalausfall und habe eingebracht, was einzubringen war, aber sicher hätten wir klarer gewonnen, wenn ich nüchtern gewesen wäre.

Okay, im Ernst. War angenehm vor dem Herauslaufen der Teams zu sehen, dass sich die Spieler beider Mannschaften ganz gut verstehen, jedenfalls einige und jedenfalls besser als die Funktionäre. War auch angenehm zu hören, dass Philipp Lahm nach dem Abpfiff recht sachlich und fair auf das Spiel zurückblickte, dafür wird er womöglich von Uli Hoeneß einen Anpfiff bekommen. Dem hätte es keine Mühe bereitet, die Niederlage in einen Sieg umzudeuten und dem BVB nahezulegen, zugunsten des FC Bayern auf eine Endspielteilnahme zu verzichten.

Bei Kicker online lese ich, dass den Bayern als Trostpreis jetzt die Meisterschaft bleibe. Das ist eben dieses verfluchte und selbst verschuldete Anspruchsdenken. Es muss ja immer das Triple sein, und wenn das nicht klappt, ist die Saison schon versaut. Wo soll das hinführen! Auf eine Saison ohne Gegentore oder was? Das! ist! so! unsympathisch! Ich meine, wir sind ja nicht umsonst beim BVB. Uns gefällt diese Spielweise, uns gefallen diese lustigen, stürmischen jungen Männer. Und wir haben nichts übrig für den Stocher-Fußball von Robben und Ribery, für die Schwalben und die ewigen Reklamationen.

So gleichen sich Metropole und Provinz

April 24, 2017 2 Kommentare

Noch ist der Dichter nicht erschienen, der Veranstalter zittert

Erstmals betreten wir das neue Kulturhaus Karlshorst (Leitung Frau Krüger, Mitarbeit Frau Werner, Frau Kirsch) zu einer Veranstaltung, die eintrittspflichtig ist. Neue Architektur an der Peripherie: Dazu gehört dann etwa, dass das Haus nur Nebeneingänge hat, hinten rum, was auch vielleicht erklärt, warum man noch nie da war. Ein Mann kommt uns auf der Treppe entgegen, weinrotes Hemd, schwarze Weste, schwarzer Backenbart. Wie aus einem alten Kinderbuch herausgeschnitten. Ein Vorraum mit Tresen. Anscheinend nicht der unwichtigste Teil des Kulturhauses. Die kulturelle Klasse von Karlshorst ist erschienen und versorgt sich mit Wein. Ein in die Breite gezogener lichter Raum, ein Büchertisch mit Verleger. Ein keines Podest, darauf ein rundes Dichtertischchen mit einem Dichterstuhl und einem Literaturvermittlerstuhl. Ein paar Reihen Zuschauerstühle, zwei Ledersofas für jene Vertreter der kulturellen Klasse, die besonderen Wert auf Behaglichkeit legen. Der Dichter erscheint in schöner Gelassenheit als einer der letzten. Der Moderator und Literaturvermittler war schon dabei, sich zu sorgen. Es ist in der Tat jener weinrote, aus dem Kinderbuch herausgeschnittene Mensch. Ein Mittler, wie er im Buche steht, zum Beispiel bei Goethe. Er würdigt den Dichter, er würdigt das Kulturhaus, er würdigt seine Veranstaltungsreihe, er würdigt den neuen Gedichtband des Dichters, er würdigt die Illustrationen in diesem Gedichtband, er würdigt den Verlag und den Verleger, er würdigt die Stadt Berlin, er würdigt ein Buch über die Stadt Berlin, das er herausgegeben hat, er würdigt die Dichterin, die als nächste in dieser Veranstaltungsreihe auftreten wird, er würdigt die Fenster dieses Salons, denen die Veranstaltungsreihe (Literatur am Fenster) ihren Namen verdankt. Zwischen den Würdigungen darf der Dichter Gedichte aus seinem Band lesen, aus seinem Leben und von seiner Dichterwerdung erzählen. In der ersten Reihe lauscht eine ältere Dame, die unlängst gestürzt sein muss. Ihr Gesicht ist versorgt, aber doch noch mitleiderregend lädiert. Auf dem Ledersofa genießt ein stattlicher Herr hörbar seinen Wein, schnauft, wälzt sich zur Seite und verfolgt den Gedichtvortag Wort für Wort im Buch. Stolz registriert er, wenn sich der Dichter verliest.

Ich erinnere mich, wie wir vor langer Zeit im Herrenhaus Libnow in der Unteren-Peenetal-Region eine Kulturveranstaltung erlebten. Die Atmosphäre war ähnlich gediegen. So gleichen sich Metropole und Provinz.

Wer war’n das?

April 21, 2017 1 Kommentar

Ich blättere in einem Buch, das neben meinem Bett liegt. Dort liegen einige Bücher, in denen ich ab und zu lese und dann wiederum ab und zu nicht lese; ein ganzer Stapel ist das. Nun blättere ich in Durs Grünbeins Berliner Aufzeichnungen „Das erste Jahr”. Er meint natürlich das erste Jahr des neuen Jahrtausends. Eine Stelle fällt mir auf: Er ist in Krakau, wo eine Lesung stattfindet, in einem Kulturzentrum am Rynek, „einem der wenigen wirklich gelungenen Plätze außerhalb Italiens” – das ist aber mal wirklich die Bewertung eines weltläufigen Menschen und strengen Ästheten.

Zuerst liest die Nobelpreisträgerin Wislawa Szymborska, dann Grünbein persönlich; die Szymborska ist da schon weg; hat aber für Grünbein einen Gruß hinterlassen und die Bemerkung: „Er hat das Äußere eines Dichters”. Grünbein hat an jenem Tag auch eine Begegnung mit Hunderten Krähen, die in den Bäumen eines kleinen Stadtparks sitzen und ihren Kot hernieder regnen lassen. Im Traum wird er überdies von einer gehässigen Krähe attackiert. „Ihr Kopf ähnelt auffällig dem der Szymborska.” Jemand hat etwas mit Bleistift daneben geschrieben, was ich mühsam als „charmant, Arschloch!” entziffere. Wer erlaubt sich so was! Wer hat mir dieses Buch geliehen? Die Handschrift ähnelt sogar entfernt der meinen. Aber ich würde doch niemals eine solche Unverschämtheit von mir geben! Hat man schon etwas darüber gehört, dass Menschen nicht nur schlafwandeln können, sondern auch schlafschreiben?

An Karl-Heinz

April 19, 2017 2 Kommentare

Nach der Niederlage und dem Ausscheiden des FC Bayern München im Viertelfinale der Champions League gegen Real Madrid hielt Bayerns Vorstandsvorsitzender Karl-Heinz Rummenigge vor dem abschließenden Bankett eine leidenschaftliche Ansprache. Dabei gibt folgende Passage zu denken: „… ich muss sagen, ich habe heute zum ersten Mal so etwas wie wahnsinnige Wut in mir. Wut, weil wir beschissen worden sind. Wir sind beschissen worden heute Abend, im wahrsten Sinne des Wortes!”

Beschissen worden kann gut sein, Sportfreund Rummenigge, aber beschissen worden im wahrsten Sinne des Wortes? Ich habe weder an Ihrem noch am Anzug irgendeines anderen Bayern-Kickers oder -Funktionärs Spuren von Kot entdecken können. Auch habe ich niemanden mit heruntergelassener Hose herumlaufen sehen, was ja erst mal die Voraussetzung wäre, um jemanden anscheißen zu können im wahrsten Sinne des Wortes. Rede und Sachverhalt stimmen hier nicht überein. Also, wenn Sie, Sportfreund Rummenigge, manchmal nicht so recht wissen, was sie sagen, holen Sie sich doch professionelle Unterstützung. Wir helfen gern.

 

Ich war mal auf dem Dorfe

Torwart Aubele rettet uns den Arsch
Foto: FB/Langschwager

Wir Armen-Hansa-Rostock-Schweine haben alles Menschenmögliche getan, um uns im Viertelfinale des Landespokals ein Armutszeugnis auszustellen. Es ging gegen den Verbands-, also Sechstligisten Greifswalder SC. Wir spielten zwar im Volksstadion in Rostock, es sah aber echt nach Dorffußball aus, der Platz ziemlich eng, bei Eckstößen konntest du nur zwei Schritte Anlauf nehmen, die Zuschauer standen locker aufgereiht auf einer Böschung, es war eine Stimmung wie an einem missglückten 1. Mai. Bei jeder Gelegenheit versuchte sich irgendein dörflicher Wichtigtuer vor der Kamera zu positionieren. Arvid und Olli, die Reporter des Fan-Radios und Hansa-Patrioten der ersten Kategorie, bewegten sich einige Male am Rande des Herzinfarkts und wussten sich öfter nur durch gutmütigen Spott gegen das eigene Team zu retten. Alter, was machst du da. Die Angst vor der Blamage führte die Regie auf dem Platz. Die Greifswalder kämpften nicht nur gegen Hansa, sondern auch gegen etliche Kilo Übergewicht, und das taten sie sehr clever. Cleverness ist das, was wir Armen-Hansa-Rostock-Schweine gerade im gegnerischen Strafraum überhaupt nicht zu bieten haben (ist ja auch ein Fremdwort). So ging es mit dem 0:0 bis in die Nachspielzeit und in die Nachspielzeit der Verlängerung und auch noch in die ersten Schüsse des Elfmeterschießens. Am Ende sagten alle, dass wir Armen-Hansa-Rostock-Schweine mit zwei blauen Augen davon gekommen sind. Aber echt jetzt mal. Gut, wir wissen, dass es viele Drittligisten gibt, die im Landespokal scheitern, aber so viel Provinz mitten in Rostock – man muss sich Sorgen machen.

The Dog of the Future

Wir tun viel für unsere Hunde, aber bei weitem nicht genug
© Fritz-Jochen Kopka

Der Hund, der mich – und auch andere Kunden (ich will nicht angeben) – stets aufgeregt begrüßte, lag apathisch in einer Ecke des Salons. Wie ein nasser Lappen, könnte man behaupten. Dabei hatte die Friseurin eben noch Ärger mit drei anderen vereinigten Hundehalterinnen bekommen, weil ihr Hund angeblich aggressiv sei und einem der fremden Hunde eine Verletzung zugefügt habe. Sie sind als Hundehalterin absolut ungeeignet!, oder so. Dabei gibt es meines Wissens keine Frau, die so tief in die Psyche eines Tieres eingedrungen ist wie meine Friseurin. Später kam auch der Mann der Friseurin, um den Hund abzuholen. Sie deutete auf mich und sagte: Er meint, unser Hund ist eine Schlaftablette. Halt mal, das habe ich nicht gesagt. Ich sagte vielmehr: Der Hund befindet sich in der Modifikation vom Abenteurer zum Philosophen. Damit war der Mann einverstanden. Wenn man uns so einen Hormonchip einsetzen würde, würden wir uns auch nicht anders verhalten, sagte er. Und: Philosoph ist gar keine schlechte Perspektive. Außerdem, fügte er hinzu, geht der Hund bei Regenwetter nicht gern raus. (Wie alle Philosophen)

Da kam mir die Idee für ein Geschäftsmodell. Es gibt alles Mögliche für Hunde, Kleidung, Signallampen, von exklusiver Verpflegung ganz zu schweigen. Aber keine Regenschirme. Regenschirme für Hunde anzufertigen dürfte keine allzu schwierige Sache sein. Man könnte sie aufmunternd bunt gestalten, und dem Hund wäre es eine Freude, bei Wind und Wetter hinauszugehen.

Und warum, frage ich, gibt es keine Handys für Hunde. Einfache Handys, in die man die Nummern ihrer Hundefreunde eingibt; sie könnten mit der Nase darauf stupsen und den Kollegen am anderen Ende anbellen, der bellt zurück und so ergibt sich ein Austausch, auf den wir Menschen ja auch nicht verzichten möchten. Sicher ist es schwieriger, ein Handy für Hunde herzustellen als einen Regenschirm, aber unmöglich sollte es nicht sein.

Der Ostdeutsche in der Schülerrolle

April 12, 2017 2 Kommentare

Ich weiß nicht, ob mir dieses Haus in der Berliner Friedrichstraße gefällt. Ist wahrscheinlich sehr hell drinnen, wenn es draußen sehr hell ist.

Ich sehe nur mal so (vielleicht auch wegen Wegwerfen, Aussortieren) meine älteren Papiere durch. Ein handschriftliches Blatt geht offenbar auf eine Veranstaltung des Christa-Wolf-Kreises zurück. Damals, 1994, 1995. Da konnten evaluierte Ost-Professoren, die seit der Einheit kein Publikum mehr hatten, ihren Redeströmen freien Lauf lassen. So ging das: „Die Aufklärung hat sich stets übernommen, wenn sie die Rolle der Religion übernahm.” „Mehreren Disziplinen gerecht zu werden schließt Dilettantismus ein.” „Von den vielen Akademikern werden nur wenige Intellektuelle. Dazu gehört das Wagnis, sich in der Öffentlichkeit auf Orientierungssuche zu begeben.” „Der Reichtum an intellektuellen Varianten kann in Krisenzeiten nicht groß genug sein.” „Was nicht ins Objektive explodieren konnte, implodierte im Subjekt.” „Verinnerlichung des Widerspruchs Regimeträger und Regimegegner in vielen Individuen.” „Wer übersiedelte, schwächte das Regime, aber auch das Oppositionspotential.”„Es ist gar nicht menschenmöglich, seine Lebenswelt aufzugeben. Sie ist nicht verfügbar.” „Der Schüler von heute darf Fehler machen und trägt nicht die volle Verantwortung für seine Zukunft.” „Der Westdeutsche kann den Amerikaner des Marshall-Plans spielen.” „Der Ostdeutsche ist an die Schülerrolle gewöhnt, kann mit ihr umgehen und sie unterlaufen.” „Die Intellektuellen haben Schwierigkeiten, die Schülerrolle anzunehmen.” „Der Zyniker ist der nicht angekommene Intellektuelle.”

Christa Wolf sagte dann: Seit 1965 hatte ich zwischen falschen Alternativen zu wählen. Ich habe mich als gescheitert gesehen und hab nach Analogien gesucht. Günderode, Kleist. Ich wusste, dass ich nicht mehr unangefochten leben konnte. Wie anfechtbar vieles war – ich hätte nicht anders handeln können. Hätte nicht rübergehen können.

„Sozusagen” war sozusagen das große Humboldt-Uni-Wort. Jeder Professor musste in jedem Satz das Wort sozusagen unterbringen. Das gab ihm die Chance, sozusagen schon mal den Aufhänger für den nächsten Satz zu finden. Diese „sozusagen” habe ich alle weggelassen. Man muss sie sich sozusagen dazu denken, wenn man sich einen sozusagen realistischen Eindruck verschaffen will.

 

Als wir siegten

Parallelwelt der Pressekonferenzen
Foto Hansa TV

Wir armen Hansa-Rostock-Schweine verfolgen die Pressekonferenz nach dem Spiel gegen die zweite Mannschaft des FSV Mainz und kommen aus dem Staunen nicht heraus. Wir haben 4:2 gewonnen. Die Mainzer sind auf dem letzten Tabellenplatz. Auch ein Sieg hätte sie schwerlich vor dem Abstieg bewahrt, und nun sehen wir, dass wir armen Hansa-Rostock-Schweine vergleichsweise in einer guten Lage sind. Sandro Schwarz , der Mainzer Trainer, ist wirklich die arme Sau. Duisburgs Trainer hatte in dem Spiel zuvor die Niederlage gegen uns ritterlich hingenommen und akzeptiert. Sandro Schwarz schließt sein Statement jedoch mit der Bemerkung: Heute wäre es verdient gewesen, wenn wir als Sieger vom Platz gegangen wären. Mann! Sie lagen aussichtslos 1:4 zurück. Wie wollen sie als Sieger vom Platz gehen! Der Rückstand entstand natürlich aus einer strittigen Abseitsposition, hatten in der Halbzeitpause trotz des 0:1 das Gefühl, dass sie hätten führen müssen, ein klarer Elfmeter wird ihnen verweigert, sie haben zahlreiche Torchancen, schießen übers Tor oder dem Torwart den Ball in die Arme (was hat der da auch in der Mitte des Tors zu suchen!). Wenn du unten drinstehst, dann misslingt dir nicht nur alles, dann fängst du auch an zu träumen: Das Spiel hat wieder mal gezeigt, so Sandro Schwarz, dass wir mit die Besten sind, was zwischen den Strafräumen passiert, ganz klar …

Es ist wahr, man müsste nach Bedarf Regeln schaffen, die das Hauptaugenmerk auf das Gebiet zwischen den Strafräumen richten. Oder anders: Wir alle sind in Gefahr, uns zu Idioten zu machen, wenn wir reale Niederlagen zu virtuellen Siegen umdefinieren. Es geht nicht darum, verdient zu gewinnen und unverdient zu verlieren. Es zählt der Sieg an sich, die Niederlage an sich, das Unentschieden an sich. Alles andere ist schlechte Lyrik.

Neue Perspektiven

Wo die kleinen Läden liegen …

Der Besuch der alten Dame beim Kurden, den wir am Anfang für einen Griechen und dann für einen Türken gehalten hatten, erfolgte gegen Mittag. Ich hatte gerade angefangen, meinen Einkaufszettel abzuarbeiten, da kam sie rein, schwenkte grimmig eine Plastikbox mit kandierten Früchten oder so und sagte: Das ist schlecht. War ich jetzt nicht eigentlich dran? Wie jetzt schlecht, fragte der kurdische Händler, mein absoluter Star unter den Kaufleuten in unserem Quartier. Das schmeckt mir nicht. Ich wollte mit Zucker! Da ist ja gar kein Zucker dran. Der Händler probierte eine der zartrosa Früchte. Doch, sagte er, das ist Zucker. Er reichte mir eine herüber. Probier mal. Nein, rief die alte Dame, essen Sie das nicht! Der Händler schüttelte den Kopf und gab ihr 2,50 € zurück. Kein Geld, sagte die alte Dame, ich will neue. Hab ich nicht, sagte der Händler. Sie lügen doch, sagte die alte Dame. Na, nur die hier, das sind aber die gleichen. Nein, die nicht, sagte die alte Dame, die schmecken nicht.

Dann waren wir sie los. Eine neue Seite im Einkaufsverhalten hatte sich aufgetan, ungeahnte Perspektiven. Mir schmeckt auch manches nicht. Das geb ich jetzt alles zurück. Mit dem Ausdruck des Vorwurfs.