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Archive for the ‘Deutsche Grammatik’ Category

Momentaufnahme

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Außentoilette ist in © FJK

Draußen vorm Haus das schwere Atmen eines Großgeräts. So ungefähr müssen sich die Saurier angehört haben. Der Laubbläser tritt aus dem Gebäude: „Die Handwerker in den’ Haus haben so ein’ Hals wegen diese Scheiße hier!“ Der Bauherr erscheint jeden Tag ein Stück mehr gealtert. Wenn Handwerker einsam sind, werden sie kreativ. Neubauten bevorzugen wieder die Außentoilette. Olfaktorisch nachvollziehbar. Frische und verdorbene Luft stoßen zum gegenseitigen Nutzen zusammen. Ein kleiner Bagger versorgt die Straße mit Lärm. Der Sachse Weselsky treibt die Bundesrepublik vor sich her. Mit dem hätten wir uns besser nicht wiedervereinigen sollen, heißt es in besseren Kreisen. Kann man das nicht noch nachträglich irgendwie …? Günther Maria Halmer ist im deutschen Film die Idealbesetzung für den Demenzkranken. Er kommt da auch nicht mehr raus. Wunderlich, verwirrt, gutmütig und manchmal ausrastend. Wir sehen abermals in die leeren Gesichter der Regierungs-Troika. Wenn man aus der Not der Einfallslosigkeit eine Tugend macht. Scholz’ Markenzeichen: das schelmische Grinsen. (Bei Merkel war es die Raute.) Später die verquollenen Politiker-Gesichter bei Maybrit Illner. 

Unterhosen, Blicke, unauffällige Genies

Privater Jahresrückblick 2023, 4. Quartal B

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Zum Verschenken oder zum Hinsetzen, das ist die Frage © FJK

Die Musik hat das Zeug dazu, den Abend zu versauen. Ich bestelle ein Bier der Marke Baltica. Die Bahn muss lange auf einen Notarzt warten. Ich bin das unauffällige Genie, sagt er. Das hat er als Berufssoldat gelernt. In Deutschland haben auch die Dümmsten die Chance, ganz nach  oben zu kommen. Unsere Autos wurden älter und gebrechlicher, eines hatte Totalschaden, das andere wurde geklaut. Meine neue Uhr sieht aus wie die alte, bloß heiler und neuer. Es war eine lebenslange Freundschaft, von der Nymphe bis zur Matrone. Am meisten sind es Blicke, die sich uns von dieser Ausstellung eingeschärft haben, der vorahnungsvolle Blick eines Jungen mit seinem Kätzchen, der verschlagene Blick eines halbwüchsigen Chauvinsten, aufrührerische, tückische, bange und geradezu apokalyptische Blicke. Die Verlorenheit in einer Welt, die den Leuten nicht wohlgesonnen ist. 

Ich sehe die Klassenbeste mit der Lulle auf dem Balkon, sie hat das Rauchen stark eingeschränkt. Kann sein, dass es gestern an Selbstdisziplin fehlte. Der Beginn des Karnevals ist schon verkündet worden. Wie weit mein Chinesisch reicht: Blatwulst und Lühlei. Boah! Die Alte nervt. Die Junge auch. Die Dicke erst recht. Die Bahn kommt, ein Baby schreit von Karlshorst bis Köpenick. Im Union Zeughaus sage ich, dass sie schwarz flaggen müssten wegen des Endes von Urs Fischer als Trainer, aber sie lassen den Kopf nicht allzu tief hängen. Die Patienten im Warteraum stöhnen und husten mit Inbrunst. Frau Doktor weiß nicht, was das Gute und was das Schlechte ist: rote Zahlen? Schwarze Zahlen? Schwarze Zahlen sind gut, sage ich. Ja. Der Investor schreibt aber rote Zahlen. Neben mir sitzt ’ne schwarz gefärbte Frau mit ’ner Flasche Bier und zieht mich ins Gespräch. Der kaputte Fernsehapparat, die günstige Miete, Umzüge und gute Kumpel, der Kapitalismus und die DDR. Ich sehe zu, dass ich vom Acker komme. Bei Jauch mokiert man sich darüber, dass manche Männer nur einmal in der Woche die Unterhose wechseln. Die Leute gehen an ihren Lebenslügen zugrunde. 

Henry Kissinger ist gestorben. Mit 100. Der Erfinder der Realpolitik (nicht der werteorientierten oder gar feministischen Außenpolitik). Der Tod wird kommen und deine Augen haben … Der Sportredakteur Ahrens hat nicht viel Ahnung vom Fußball. Man sieht es schon daran, dass er oft anderer Meinung ist als ich. Die Frauen wollen unbedingt Parkettfußboden. Und wenn sie ihn haben, legen sie Teppiche drauf. Und die Männer stolpern darüber. Toller Spirit im deutschen Team.  Bekenntniszwang ist immer eine Zumutung. Fahrzeuge und Lebewesen schleichen sich vorsichtig durch den Eiskanal. Der Schlaf kommt nicht zurück. Was war wann mit wem. Manuel Neuer ist so aus der Übung, dass er mindestens vier Mal vergisst zu reklamieren. Der rätselrelevante Buchstabe, den man auch kongenial ergänzen kann. Abends sehen wir einen Film von Ozu. Es geht um Klatschweiber und die Hirngespinste von Kindern. Herausrragend ihre Gesten(alles Jungs). Martina und ihr neuer Freund, der schon wieder ihr Ex ist. Helen Mirren und Donald Sutherland. Es gibt nicht viele, die sowas so spielen können. Leben ohne Arbeit. Arbeit ohne Leben. Tersic sieht aus wie alle Trainer, die demnächst abgelöst werden. Manchmal fragt man sich, wo die alle gelebt haben. Auf dem Mond oder so? In der DDR jedenfalls nicht. Ein paar unstet Beschäftigte mit öligen Klamotten und Trinkergesichtern. Ein Union-Fan, der nicht mehr an Union glaubt. Der fälscht seine eigenen Tagebücher. Die Berliner Zeitung meint: britische Schmonzette. Wenn die wüssten, was man über sie sagt. Timothy Spall. Der alte Mann, der in den Bus steigt und bis ans Ende der Welt fährt. Nie hört man davon, dass die Polizei irgendwelche Täter ermittelt und festsetzt. Taylor Swift und Barbie ziehen die Welt in ihren Bann. Uns hier nicht. Kein bisschen.

Zitate: Cesare Pavese. Wolfgang Schulz

Geschlechterkampf, Kommandowirtschaft, Schwerhörigkeit

Privater Jahresrückblick 2023, 4. Quartal/A

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Behauste Unbehaustheit © FJK

Auf dem Riesen-Antikmarkt wurde Horst Lichter erwartet, der deutsche Trödelpapst. Die Interessenten wandten sich ab. K. hörte Stimmen, und alles, was er las, kam ihm unsinnig vor. Die Zeit zerbrach irgendwie. Ein Stück der Einheitsfeier in Hamburg haben wir gesehen. In der ersten Reihe der Elbphilharmonie betrachte Bundespräses Steinmeier, wie sich das von ihm gestaltete Land auf der Bühne präsentierte. Momper und die „Intallektuellen“ In diesem Jahr schnappte ein gewisser Fosse aus Norwegen Eugen Verheugen den Nobelpreis vor der Nase weg. Der Anwalt des Ostschlagers besuchte eine Alt-Sängerin oder sie ihn. Letzter Eistag bei Prinzen-Eis. Wer zu spät kommt, muss Strafe in die Mannschaftskasse zahlen. Nancy Faeser bleibt als tragische Gestalt zurück. Umzug. Die neuen Mieter scheinen nur Fahrräder zu besitzen, keine Möbel. Die Möbelpacker sind allzumal Glatzköpfe. Ein Mann aus Schwarzafrika schloss mir den Schrank zu den Pflanzengiften auf und hielt mir einen kleinen Vortag über den Umgang mit Pflanzenschutzmitteln. Jauchs langweilige Extempores und selbstverliebte Kandidatinnen, bei denen man sich freuen würde, wenn sie von 125000 auf 500 € zurückfielen. Früher gab es noch kein Fernsehen. Früher gab es noch keinen arbeitsfreien Sonnabend. Früher gab es noch kein Internet. Früher gab es noch keine Smartphones. Früher gab es noch keinen Euro. Früher gab es noch Saurier. Der Polizist kann auch ein Betrüger sein, sagte der Mann von der Netzgesellschaft. Das Bier war bitter und der Korn zu warm. Eine neue Serie ist nicht immer wie ein neues Leben. Ich staune, sagt der Paukist, dass ich trotz des Lärms im Orchester noch ganz gut höre. Nur meine Frau sagt, dass ich schwerhörig bin. Das sagen alle Frauen zu ihren Männern in dem Alter, sagt die Interviewerin. Schweine, die ihre Sache als Kleindarsteller im Tatort aus Wien gut machen. Die Leute lachen wie irre, wollen sich mit Macht amüsieren, wenn sie schon mal Geld ausgegeben haben. Die vollgefressenen Bürokraten aus den Ämtern lassen sich feiern. Jede dieser 206 Minuten dauert sechzig Sekunden! Frauen nutzten Denunziation als Waffe im Geschlechterkampf. Es scheint, dass der Spitzel zur staatlichen Grundausstattung gehört. Die Nachfrage schafft den Produzenten.  „Abwertende Termini wie ›Unrechtsstaat‹ und ›Kommandowirtschaft‹ vermögen die ostdeutsche Erfahrung ebensowenig aufzuschließen wie die Großbegriffe ›Totalitarismus‹, ›Gewaltherrschaft‹ und ›Diktatur‹.“ Deutschland schafft sich ab, wie auch die Männer sich selbst abschaffen. Isch will nur wähnisch, sagte der Opa aus Sachsen. Und dann hat der gefressen!  Was andere Gott nennen, nenne ich Schicksal. – Ich auch. Resilienz ist das Wort der Stunde. Ein bisschen Nettigkeit, und die Welt sieht anders aus. Alles ist Geschehen, Leiden und Überstehen. Nach zwei Wochen Trockenheit überschlagen sich die Apokalyptiker; alles verdorrt, Weltuntergang. Wer hat Lust auf eine Mannschaft, die keine Tore schießt! Jede Story endet in der Ausweglosigkeit, Beziehungslosigkeit, irgendwo draußen vor der Tür. 

Zitat: Wolfgang Engler, Die Ostdeutschen, Aufbau Verlag

Genderlinguisten, Füllwörter, Sofa-Millionäre

Privater Jahresrückblick 2023, 3. Quartal

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Alles antik  © FJK

Wir erhalten Nachrichten vom Mond bei Hohenwutzen. Sechs fette Igel und unzählige Zwitscher-Vögel. Eine untersetzte Fremde bei Anne Will, die sich in die Füllwörter der deutschen Sprache verliebt hat: Wissen Sie…  Sozusagen … Eigentlich … Natürlich …  Undsoweiter. Der Bus fährt durch dystopische Gegenden, eher Steppe als Straße. Auch nach fünfzig Jahren kommt unsere Klassenbeste nicht darüber hinweg, dass aus ihrer ersten große Liebe ein banaler Schlagersänger wurde. 

Diese Schauspielerin fand ich schon immer doof, und jetzt höre ich, dass sie einen richtigen Knall hat, das Blaue vom Himmel herunter spinnt und nicht müde wird, von sich selbst zu schwärmen. Menschen und Aktenstapel, alles verstaubt, alles unerledigt. Serien, die ohne Spuren zu hinterlassen, durch uns hindurchgehen. Ein Fensterputzer sei heutzutage schwerer zu kriegen als ein Liebhaber, sagt die Seniorin. Ich sage, am schwersten einer, der beides macht. Auch Flake hat vor zwanzig Jahren mal was mit einem Mädchen gehabt, die erst siebzehn war, aber behauptete, 22 zu sein. Wie konnte er so leichtsinnig sein und sich ihren Ausweis nicht zeigen lassen. 

Große und mittelgroße Tote: Milan Kundera, Michael Hansen, Bruno Flierl, Thomas Plenert. Das Wetter ist kein Wunschkonzert. Fußball-WM: Die Deutschinnen, sagen wir in vorauseilendem Gehorsam. Da haben wir, nach dem 6:0 gegen Marokko, mal wieder kollektiv den Mund zu voll genommen. Nach sieben fetten folgen wie in der Bibel sieben magere Jahre. Leipzig im Juli. Welch andere Stadt kann mit Ortsteilen mit wie Plagwitz und Knauthain aufwarten. Keiner hält noch die Hand vor den Mund, wenn er gähnt. Der Mann hat zu DDR-Zeiten den Westen angehimmelt und Ost-Kultur überhaupt nicht wahrgenommen. Wir hatten in unseren jungen Jahren keine Zeit, uns unterdrückt zu fühlen. Wir spielten Fußball auf dem Brunnenplatz und am Sumpfsee, wir rauchten Papirossi-Zigaretten von russischen Soldaten, wir versuchten die Aufmerksamkeit der Girls zu erregen, wir fuhren am Wochenende nach Warnemünde und kehrten krebsrot nach Hause zurück. In einem Land wie jedem Land. Ich steh grad auf’m Schlauch, sagen Jauchs Kandidaten, zu Hause auf dem Sofa weiß ich alles, ich geh nach dem Ausschlussverfahren. Zu Hause auf dem Sofa war ich schon fünf Mal Millionär. 

Zu wenig gelesen, zu viel ferngesehen. Der Mann in der S-Bahn kommt aus Riga, hat nur noch wenige Zähne, eine Schnapsfahne und überschäumend gute Laune. Die Stores mit Milliarden von Sportschuhen am Kudamm – warum, für diese mehr oder minder bewegungslose Gesellschaft?  Von Aki Kaurismäki lernen wir, dass die Lieder über das Elend keine elenden Lieder sind. Junge Frauen hüllen sich in den Qualm ihrer E-Zigaretten.. In einem schlichten Konstruktivismus befangen sehen die Genderlinguisten die Grammatik als Motor der Weltverbesserung. Es ist wieder ohne Zuzahlung, sagt die Apothekerin. Ohne was? Ohne Zuzahlung. Das ist ja schrecklich, sage ich, und wir lachen von Herzen. 

Zitat: Wolfgang Krischke, FAZ

Alte Liebe

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Der wundert sich  © ADe

Berlin Alexanderplatz. Die Frau ist drin in der Bahn. Der Mann ist draußen. Er kommt auch nicht mehr rein. Die Lautsprecherstimme hat schon „Zurückbleim“ geschrien, die Türen haben sich geschlossen, die Frau von innen, der Mann von draußen zerren an dem, was sie in diesem Moment so deutlich trennt. Sie zerren so wild und unkoordiniert, dass sie sich selbst im Zustand der Trennung noch gegenseitig behindern. Jetzt schreit die Lautsprecherstimme so laut, dass es auf allen Bahnhöfen der Welt zu hören sein muss, noch mal “Rückbleim“, und das entkräftet unser altes Ehepaar erst recht. Die Bahn fährt ab, der Mann gibt auf. (Warum ist sie da drinnen, wenn ich doch noch hier draußen bin. Was denkt sie sich dabei.) Er sieht aber nicht aus wie ein Aufgebender! Er ist wütend, schüttelt die Fäuste, droht, nicht der Technik, nicht der Bahn, sondern der Frau, seiner verrosteten Liebe, und auch die Frau ist erbost, zeigt ihm den Vogel, unterbricht den Wutausbruch, um den Mann, ihrer verrosteten Liebe, mit den Händen zu sagen, er soll hier warten, sie kommt zurück! Aber ob er sie versteht? Und ob sie sich je wiedersehen?

Autofahrer, Hundehalter, Chorsänger

Januar 12, 2024 2 Kommentare

(und das jetzt alles mal selbständig gendern)

Jahresrückblick 2023, 2. Quartal

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Berlin, Hackescher Markt. Je leerer je lieber  ©FJK

Mit einer Auktion geht die Coppi-Galerie in den Ruhestand. Draußen vor der Tür führen wir moderne Gespräche, die gut anfangen, um im Nichts zu enden. Das Alter ist eine Zahl und eine Reihe schleichender Einschränkungen, aber kein Lebensgefühl. Deutschland sehen wir als Land der Autos, der Hunde und der Chöre. Oder richtig: als Land der Autofahrer, der Hundehalter und der Chorsänger. 

Nachspielzeit. Freiburg wirft München aus dem Pokal. Ein User auf Kicker online: Du glaubst gar nicht, wieviele Menschen Ihr mit dieser Niederlage glücklich gemacht habt. 

Der Neunzigjährige, der in der Prager Hopfenstube auf der Karl-Marx-Allee ein großes Bier trank und das ND las.

Der Konzern-Boss kam aus feinem Hause und war der Mann fürs Grobe, sah sich unter Demokratiefeinden und glaubte, es selbst nicht nötig zu haben, Demokrat zu sein. 

Ich lese ein bisschen Immanuel Kant: Der Mann ist leicht zu erforschen, die Frau verrät ihr Geheimnis nicht; obgleich anderer ihres (wegen ihrer Redseligkeit) schlecht bei ihr verwahrt ist. 

Und jetzt bin ich auch einer dieser Irren in der Bahn, die auf das Handy einhacken. Warum kommen wir uns manchmal so verloren vor? Weil wir kein Werk haben, das wir noch schaffen müssten (und wäre es nur ein kleines). 

Am Bahnhof Zoo gibt es keine Heinrich-Heine-Buchhandlung mehr, kein Holst am Zoo, keine Beate Uhse. Wenn nicht die Gedächtniskirche wäre, könnte man hier überall auf der Welt sein. Nirgendwo sind die Bettler erbarmungswürdiger, die Reichen blasierter und die Touristen ratloser. Das Elend provoziert den Reichtum. Und umgekehrt. Das KadeWe weiß um die Sterbestunde der Kaufhäuser und setzt Hochpreisigkeit dagegen, 119 € für ein Oberhemd, Füllfederhalter, die keiner mehr braucht, von 300 bis 1300 €. 

Eingangs der Nacht las ich, wie dick Adalbert Stifter war. Er hatte die Fress- und Trinksucht, erschrieb sich im „Nachsommer“ das schöne Leben, das er sich ersehnt hatte und schnitt sich, unglücklich wie er war, am Ende mit einem Rasiermesser in den Hals. 

Ethan Coen zu „A Serious Man“, den ich mir zum dritten Mal ansehe: „Das witzige an der Geschichte war für uns, immer wieder neue Wege zu finden, wie wir Larry quälen konnten. Sein Leben wird einfach immer schlimmer.“ 

Ich sah, dass zu Union Unversehrte und Versehrte kommen, Alte und Junge, Biedere und Schlaue, Männer und Frauen, Abenteurer und Bürokraten, Dicke und Dünne. Leider auch E-Zigarettenraucher.

Ich hörte, dass man Georg Stefan Troller, der 101 Jahre alt geworden ist, immer noch mit Gewinn und Vergnügen zuhören kann. 

Weißwein trinkende Hauptstadt-Damen erobern Potsdam, wenn auch nicht ohne Verluste. 

Berliner Verkehr. Das Chaos, die organisierte Verantwortungslosigkeit, die Bahnangestellten verbergen sich vor den Auskunft begehrenden Kunden. Die Bahn hatte sich selbst aufgegeben. Endlich auf einem Kahn im Spreewald. Eine solche Stille hatte keiner von uns je vernommen. 

Früher war der Hund der treueste Begleiter des Menschen. Heute ist es das Smartphone. Wir nennen es Fortschritt.  

Wir sehen Asteroid City, Wes Andersons neuen Film. Die Menschen sind flach, die Maschinen rätselhaft, die Pflanzen aus Plastik. Gegen den Willen der Kinder geschieht nichts in dieser Welt.

In diesem Jahr waren so viele Himbeeren am Strauch, dass ich gar nicht umhin konnte,  Marmelade zu kochen (was ich noch nie gemacht habe; ich musste googeln). Und dann aß ich das erste Mal seit dem Kinderferienlager wieder ein Marmeladenbrötchen.

Das Unausweichliche wird geschehen

Privater Jahresrückblick 1. Quartal

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Blick auf die Neue Nationalgalerie im Winter  © FJK

Zuerst waren wir im New Yorck-Kino und sahen „The Banshees of Inisherin“. Der Film erzählt, dass das  unausdenkbar Unausweichliche geschehen wird, jedenfalls auf einer rauen irischen Insel. Das Damen-WC war defekt (wie so vieles), die Herren-Toilette wurde zum Uni-Klo. 

Bei Jauch, der im fortgeschrittenen Alter zur selbstgefälligen Schwatzhaftigkeit neigt, ruiniert ein als Telefonjoker agierender Vater seine Tochter. 

Ich entdecke die Lyrics-(Text-)Funktion des iPad und weiß nun, was die Songs mir sagen wollen. Es ist nicht so weit von dem entfernt, was ich immer ahnte. Ich seh mir alte Bücher an und werde daran erinnert, in welcher blöden Lage die Nachwort-Schreiber der DDR-Lizenzausgaben bürgerlicher Werke waren. Die Autoren mussten ideologisch eingeordnet werden: Katherine Mansfield zum Beispiel war außerstande gewesen, die Große Sozialistische Oktoberrevolution zu verstehen. Da waren wir ihr voraus. Oder nicht?

Auch 2023 regneten die Tage so vor sich hin, was die Apokalyptiker nicht daran hinderte, vor der Austrocknung der Erde zu warnen. Wir sahen Kabarettisten, der nur ihren eigenen Humor verstanden und lustig fanden. Die deutschen Biathleten schossen schlecht außer denen, die schlecht liefen. Der VAR ist nur erfunden worden, um Hansa Rostock zu schaden (hier kann jeder seinen Verein einsetzen). Immer wenn Matthias Schweighöfer in der Reklamespalte von Kicker online rumhampelte, stürzte mein Rechner ab, bis ich ihn Zappel-Matthias nannte, was auch nichts half. Unser Gas-Anbieter vervierfachte den monatlichen Abschlag. WIR WOLLEN UNSER RUSSISCHES GAS WIEDERHABEN!!! Ich bin einer, der noch ins Kino geht, um einen Film anzusehen, andere wollen dort nur in Gesellschaft essen und trinken. Zu Hause konnten wir uns voll der Grundsteuererklärung widmen, uns besonders auf die „drei Eingaben, bei denen Zähler und Nenner verlangt werden“ konzentrieren. Frivol, was wir alles können und, wenn wir es nicht können, lernen müssen. 

Von einer Expertin erfuhren wir, dass wir einen charismatischen Wirtschaftsminister haben, während die Frau von FDP-Lindner verkündete, dass die Rote-Armee-Fraktion vor 78 Jahren Auschwitz befreit habe. Die Panzerdebatte ging nahtlos in die Kampfjetdebatte über. Im Spiegel bedauerte ein halber Held, dass er vor dreißig Jahren den Kriegsdienst verweigert hatte. Olaf sprach nicht mehr mit Annalena. Robert und Christian schrieben sich giftige Briefe. Wir haben es mit Leuten zu tun, die in kreativen KITAs aufwuchsen, wo sie phantastische Spiele spielten, die ihnen ermöglichen, ein Leben lang Kinder zu bleiben und Politik und Wirtschaft als Spielwiese zu sehen. Eine feministische Außenpolitik ist viel wert, wäre eine lesbische Außenpolitik nicht noch besser? Warum sieht keiner, dass der Kaiser nackt ist? Auch wenn er jeden Tag neue Kleider trägt. Oder Hosenanzüge. 

Und im gewöhnlichen Leben? Schnee am Frauentag. Eine Geisterfahrerin ist in Sachsen von Polizisten gestoppt worden und anschließend mit dem Streifenwagen der Beamten davongerast. Wenn man Radio hört, muss man sich besorgt fragen: Gibt es eigentlich noch Sprecherzieher in Deutschland? Es existiert im sogenannten Regierungsviertel kaum eine Straße, in der nicht gebaut wird. Gerhard Wolf stirbt und wird schon in den Nachrufen am Jahresende keine Rolle mehr spielen. Wir sehen Sozialschmarotzer und Invalidendarsteller. Die Frauen schicken ihre Männer zum Bäcker und führen die Hunde aus. Beim Currywurst-Imbiss am Bahnhof Friedrichstraße kostet ’ne Currywurst mit Pommes frites 9,80. Für das Geld hätte man sich in der DDR einen ganzen Monat ernähren können. Am Abend vor dem TV-Gerät. Ich! will! nicht! schon! wieder! einen! Scheißfilm! sehen!

Doch kamen mitunter auch seltsame Stunden, lese ich in Nabokovs „Lushins Verteidigung“, doch kamen mitunter auch seltsame Stunden, in denen es ringsum so still war, und wenn man auf den Korridor hinausschaute, standen vor allen Türen Stiefel, Stiefel und nochmals Stiefel, und in den Ohren klang das Rauschen der Einsamkeit. 

Samstagabend bis Samstagnacht

November 6, 2023 2 Kommentare

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Als wir im Paradies waren © FJK

Wir hatten diese Verabredung und gar keine Lust am Sonnabendabend um fünf. Auf dem Bahnsteig ging ein schwerer Mann  mit Union-Schal auf und ab, ins Gespräch mit nicht vorhandenen Gegnern vertieft, von dem wir uns fernhalten mussten, also von Leuten, die solche Gespräche führen. Dann kam die Bahn randvoll mit geschlagenen Union-Fans nach einer Schlacht, die nicht einmal unglücklich verloren worden war. Die Stimmung entsprechend. Man hat den Bierbecher oder die Flasche in der Hand oder am Mund. Verschüttet wird nichts. Hier und da klingt ein Union-Gesang an, kann sich nicht durchsetzen, und keiner will eine Träne weinen. Nur ein Bursche mit kahl geschorenen Schläfen versucht, das Ruder rumzureißen. Er schreit mit schrill-heiserer Stimme Worte einer unverständlichen Fan-Sprache. Was man dann doch davon versteht, ist obszön. Keiner kann ihm folgen, keiner will ihm folgen. Hysterisch springt er auf eine Gruppe zu und knallt einem einen krachenden Rülpser ins Ohr. Ein riesenhafter Fan wacht auf aus der Lethargie und hämmert mit der flachen Hand gegen die Decke des S-Bahnwagens. Klingt fürchterlich. Ostkreuz können wir den Wagen verlassen und den Bahnsteig wechseln. Die Fanmeute folgt. Nur der Hysterische liegt wahrscheinlich irgendwo und kotzt. Oben auf dem Bahnsteig nach Pankow haben wir eine heldenhafte Gruppe, die die zwölfte Pflichtspielniederlage in Folge wegsingt. Bis wir Deutscher Mei-heister sind. Drinnen wird wieder an die Decke gehämmert, es riecht nach Kaschemme, zwei Welten existieren nebeneinander, gewöhnliche Passagiere und die Fanhaufen eben. Ich suche Trost und schlage die Kicker-Seite im Smartphone auf. Glaube meinen Augen nicht zu trauen. BVB – Bayern 0:2 nach neun Minuten. Das erste Tor von Upamecano, der mehr oder weniger unfit aus einer Verletzung kommt, das zweite Harry Kane, der ja immer treffen muss, der Angeber. Wenn morgen auch noch Hansa verliert, werde ich mich erstmal eine Weile vom Fußball fernhalten. Jetzt steigt Zivilist ein, sehr groß, sehr dünn, rundlich in der Mitte, er trägt einen Overall-artigen Hausanzug, setzt sich und macht heftige Zeichen mit den Händen; etwas unheimlich. Obwohl die Bahn voll ist, sind Sitzplätze vorhanden. Der Fan will nicht sitzen; der Fan will stehen und kämpfen für Union. Prenzlauer Allee sind wir die meisten Fans los, können  aber nur kurz aufatmen, weil wir die nächste Station aussteigen. Schönhauser Allee. Die nächste Querstraße ist gleich die Wichert, die Nr. 63 ist auch nicht weit, wir sind pünktlich trotz aller Widrigkeiten im „Voland“, werden zu unserem Tisch geführt, Ulrike und Ralf sitzen da in guter Sonnabendabend-Stimmung. Was ist los mit Union, fragt Ralf, was ist da los. Sie waren drei Jahre im Paradies, sage ich, sie waren da im Stadium der Unschuld, ohne Angst vor großen Tieren. Sie haben wahrscheinlich nach verbotenen Früchten gegriffen; und jetzt erfolgt die Vertreibung aus dem Paradies. Das ist mir gerade so eingefallen. Keine Ahnung, ob es stimmt. Oder hilft. 

Wir essen Kawkaskije Pelmeni und trinken georgischen Wein. Richtig, richtig gut. Dann hebt die Musik an, sie besteht aus zwei Musikern und der elektrischen Verstärkung, ohne die alles besser wäre in dem relativ kleinen Raum. Die Musiker greifen auch nach verbotenen Früchten, sie wollen zeigen, was für ambitionierte Jazzer sie sind. Wir können uns nicht mehr verstehen. Die Atmosphäre ist dahin.

Prenzlauer Allee steigen wir in die Bahn. Die muss aber erst mal lange auf einen Notarzt warten. Einige verlassen resigniert den Zug. Aber wir haben Glück. Wir bleiben, und es geht weiter. Gelobt sei der Notarzt. Gelobt seine Schnelligkeit.  

Kostenlose Überprüfungen

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Letzten Endes wartet man nie vergeblich © FJK

Sie gucken ja so, sagte der hochgewachsene Mann von der Netzgesellschaft in seinem  gelbbraunen Arbeitsanzug. Na ja, sagte ich, warum jagen Sie mich um halb sieben früh aus dem Bett, wenn Sie dann erst um halb elf kommen!

Was?!, rief der Mann erschrocken, auf meinen Unterlagen steht ab zehn! Ab! Da brauche ich mich ja nicht zu wundern, wenn die Leue überall so verärgert sind. 

Ich fand den Mann nicht unsympathisch. Er wollte sich sogar die Schuhe ausziehen oder irgendwas über die Schuhe drüberziehen.

Nein nein, sagte ich, wir gehen ja in den Keller. Es ging um die „kostenlose Überprüfung“(unterstrichen wegen Großzügigkeit) „des Netzanschlusses“. Der Mann erklärte mir, dass er die Dichtigkeit des Anschlusses feststellen wolle und einige Fotos machen müsse. Er hatte dafür professionelle Geräte parat und offenbarte eine demütige Haltung gegenüber den Chefs der Netzgesellschaft, die öfter mal irgendwas umstoßen, was an der Basis zu Schwierigkeiten führt, so dass die Kunden verärgert sind, was sie an dem Mitarbeiter vor Ort auslassen, etwa nach dem Motto: Ich lasse Sie nicht in mein Haus! 

Auch verständlich, sage ich, es gibt genug Betrüger, die sich Zugang zu Privathäusern verschaffen wollen.

Was soll ich machen, sagte der Mann, ich habe ja extra meinen Ausweis hier an der Brust. Da sagen die Leute, so einen Ausweis kann man leicht nachmachen.

Sie müssten vielleicht immer einen Polizisten dabei haben.

Der Polizist kann auch ein Betrüger sein, sagte der NBB-Mann. So eine Uniform kann man sich beschaffen. Na ja, ich ahne schon, was mich in den nächsten Häusern erwartet. Von sieben bis zehn! Und bei mir ab zehn!

Ich war längst versöhnt und bedankte mich. Über so einen Mann, dachte ich, könnte man einen Spielfilm machen. Oder einen Dokfilm, der wie ein Spielfilm aussehen würde. Was der sich alles anhören muss, obwohl er ja nur seinen Job macht! Hoffentlich hat er ein harmonisches Zuhause. 

Ein Professor beklagt sich bitter

KW 1982 unretuschiert

Von der Östlichkeit der Welt © Christian Brachwitz

Das Buch der Stunde ist „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ von Dirk Oschmann. Es ist in der 12. Auflage (wenn nicht schon mehr) und wird unentwegt erwähnt. 

Dirk Oschmann, 1967 in Gotha geboren, ist Literatur-Professor in Leipzig, und sein Buch ist tatsächlich solide Professoren-Prosa, eng in der Themenführung, unterkomplex und humorfrei. Es ist so erstaunlich wie entmutigend, dass dieses Buch in Deutschland so gut ankommt. Normal ist das nicht. Wie kann man es sich erklären? Die Fakten sind bekannt und ermüdend: Der Osten ist in Führungspositionen dramatisch unterrepräsentiert, im Osten wird weniger verdient, weniger vererbt, weniger Rente gezahlt, länger gearbeitet. Der Ostler fühlt sich als Bürger zweiter Klasse. Da sage ich: selber schuld. Den Gefallen, mich als zweitklassig zu fühlen, würde ich niemandem tun. Richtiger wäre zu sagen: Der Ostler wird als Bürger zweiter Klasse behandelt. Was er sich nicht bieten lassen muss. 

Oschmanns Buch ist unterderhand ein großer Entschuldigungszettel für jeden Ostler, der das Gefühl hat, in diesem Deutschland weit unter seinen Möglichkeiten zu bleiben. Auf dem Zettel würde dann stehen: Es liegt nicht an dir. Es liegt an den Eliten des Westens, die dir alle Wege verstellen. 

Wir kennen ja aber auch Ostler, die sich von verstellten Wegen nicht aufhalten ließen, auch unabhängig von Merkel und Gauck. Wie passt etwa die gerade erwähnte Katrin Weber in das Oschmannsche Schema, wie Steffen Baumgart, Dirk Zingler und viele andere? 

Es lag doch nach Wende und Einheit auf der Hand, dass Deutschland ein Land der Ungleichen sein würde. Und es war doch auch klar, dass Eliten immer ihresgleichen nachziehen würden. Wie sollte das alles anders gehen. Man konnte ja wohl auch schwerlich jedem Ostler eine sechsstellige Summe überweisen, damit die Vermögensunterschiede in etwa ausgeglichen würden. Wir haben Kapitalismus gewählt und sollten uns nicht wundern, dass kapitalistische Spielregeln gelten.

Ich finde, dass Professor Oschmann ein sympathischer Mann ist. Das wird doppelt deutlich, wenn er etwa mit der selbstbegeisterten ARD-Frau Jessy Wellmer spricht. Zur Wendezeit war er ein junger Mann. Er schreibt: „Ich bin nicht im Westen groß geworden, aber mit dem Westen, mit seinen Werten, seinen Medien, seiner Musik, seinen Bildern und glücklicherweise mit Westpaketen …“ Das ist es! Mit dieser Haltung war der junge Dirk Oschmann nicht allein. (Ich erinnere mich, dass es viele junge Männer gab, die erst bei der Armee mitbekamen, dass die DDR ein eigenes Fernsehen hat.) Tiefe Eindrücke von östlicher Kultur sind bei Oschmann nicht wahrnehmbar. Wenn er Christa Wolf verteidigt, klingt es gönnerhaft, und er bezieht sich auf ihren Mut und nicht auf ihre literarische Produktion. Er war ein junger Mann, der sich nach dem Westen verzehrte. Und den Westen liebte. Und nun, wo er dazugehört, wird diese Liebe vom Westen nicht erwidert. Welche Kränkung könnte größer sein! Nein. Der Westen kann unsere Liebe nicht erwidern. Er findet höchstens, dass wir dankbarer sein könnten und müssten. Jeder Westler glaubt insgeheim, er persönlich habe uns vom Kommunismus und der Diktatur befreit. Na ja. Dann ist das eben so. Wir denken ein bisschen anders. 

Es kommt mir wie ein Kuhhandel vor: Dafür, dass er sich erlaubt, dem Westen Vorwürfe zu machen, attackiert Oschmann zum Ausgleich die DDR um so heftiger und bekennt, „22 Jahre in bedrückender Unfreiheit gelebt zu haben“, also von Geburt an bis 1989, schon als Säugling.  

Anders bei uns früher Geborenen: Wir hatten in unseren jungen Jahren keine Zeit, uns unterdrückt zu fühlen. Wir spielten Fußball auf dem Brunnenplatz und am See, wir machten die ersten Züge aus Papirossi-Zigaretten von russischen Soldaten, wir versuchten die Aufmerksamkeit der Girls zu erregen, wir holten Bücher aus der Bibliothek des Pionierhauses, wir fuhren am Wochenende nach Warnemünde und kehrten krebsrot nach Hause zurück. Alles in einem Land wie jedem Land.

„Vor 1989  durfte man im Osten aufgrund der Staatsideologie kein Vermögen aufbauen“, schreibt Oschmann mehrfach. Wie soll das gehen? Natürlich gab es reiche Leute im Osten. Ich vermute mal, dass der vor kurzem verstorbene Schlagerdichter Dieter Schneider ein schwerreicher Mann gewesen ist. Wer mal einen Hit geschrieben hatte, konnte über Nacht reich geworden sein, ohne dass er wusste, wie ihm geschah. Reichtum lässt sich ebenso schwer verhindern wie Armut. Richtig ist, dass man im Osten einen anderen Umgang mit dem Geld pflegte. Ob das so falsch war?  

Ich bleibe dabei, dass Professor Oschmann ein sympathischer Mann ist. Nur hat er sich, indem er sein Thema bedient, selbst dazu verurteilt, ein Buch lang auf der Stelle zu treten und den Blick zu verengen. Ich finde sein Buch interessant da, wo er bei sich bleibt, seinen Werdegang, seines Lebenswirklichkeit abbildet, aber wenn er verallgemeinert und sich ermächtigt, für alle aus dem Osten zu sprechen, übernimmt er sich. 

Und dann ist da noch die Sache mit dem Dialekt. Die Ostdeutschen sind nicht nur mit Unterfinanzierung und verweigerten Aufstiegschancen geschlagen, sondern auch mit ihrer Mundart. Während andere deutsche Dialekte überall Sympathie genießen, wird das Sächsische verachtet. Es gilt, so verallgemeinert Oschmann, „als das Hässliche und Dumme“, damit verweigere man den Sachsen ein positives Heimatgefühl, und nicht nur den Sachsen, sondern alle neuen Bundesländern, denn „Osten ist Osten, also Sachsen“, sagt Oschmann.

Dass er hier bei unzulässigen Verallgemeinerungen angelangt ist, liegt auf der Hand. Wie man überhaupt über Dialekte und gerade das Sächsische ohne jede Beimischung von Humor reden kann, ist mir unverständlich. Alle Dialekte haben etwas Heiteres, etwas Un-Normiertes, fordern zur Nachahmung auf und laden jedenfalls nicht zur Stigmatisierung ein, und wenn doch – man kann sich gut dagegen zur Wehr setzen.

Dirk Oschmann; Der Osten: eine westdeutsche Erfindung,Ullstein Berlin, 19,99 €