Archiv

Archive for Juli 2015

Erste Sätze

Wie fass ich euch, ihr Massen, wo …

Wie fass ich euch, ihr Massen, wo …

„Eines Tages habe ich dann, ohne zu wissen, was ich tat, den ersten Satz des Buches niedergeschrieben”, sagte Doctorow. „Es war, aus welchem Grund auch immer, ein Augenblick, der mir wichtig war und in mir etwas auslöste. Erste Sätze sind wichtig, sehr, sehr wichtig. Sie sind die Samenkörner eines Buches.”

Das Buch, das er meint, war „Homer & Langley”, der erste Satz ging so:

„Ich bin Homer, der blinde Bruder.”

Schlanker, fokussierter, aufreißender kann ein erster Satz kaum sein. „Homer & Langley” ist ein später Roman Doctorows, allerdings kein müdes Alterswerk. Der Dichter weiß, dass er die Welt nicht aus den Angeln heben kann, er vertraut der Kraft der Sprache. Falscher Ehrgeiz und Eitelkeit, falls es sie je gab, sind nicht auffindbar.

Ich sehe mir andere erste Sätze Doctorows an.

„1902 baute Vater in New Rochelle, New York, hoch oben, wo die Broadview Avenue über den Hügel führt, ein Haus.”

Doctorow hält sich nicht lange mit der Vorrede auf. Wieder wird das Familienthema angeschlagen (oben Bruder, hier Vater), der Roman wird terminiert, es beginnt wie nebenbei mit einer Aktion, dem Hausbau, die das Leben von Menschen stark beeinflussen kann. Schlank wird man diesen Satz aus „Ragtime”, dem Roman, mit dem Doctorow bei uns bekannt wurde, nicht unbedingt nennen wollen, vielleicht muss man nicht gleich wissen, dass das Haus in der Höhe steht, nämlich, wo die Broadview Avenue über einen Hügel führt. Doctorow zeigt, dass er nicht beabsichtigt, so konzentriert, so sparsam wie in seinem späten Roman zu sein. Ist bereit, Umwege zu gehen, Purismus liegt ihm noch nicht am Herzen.

Wie ich überhaupt glaube, dass das eigentliche Feld des Romans die Familie ist. Und auch das Feld der Kurzgeschichte. Passend dazu beginnt eine Short Story von Doctorow so: „Als mein Vater 1955 starb, lebte seine Mutter noch.” Wieder der Vater im ersten Satz, wieder die Familie.

Das Gegenstück zum familiären Anfangssatz bietet Doctorow auch: den universalen Zugriff. Er steht ausgerechnet in seinem sehr reichhaltigen, kompliziert strukturierten und selten erwähnten Roman „City of God”:

„Also will es die Theorie, dass sich das Universum von einem Punkt aus exponentiell ausgedehnt hat, von einem einzigen Raum-Zeit-Punkt aus, einem Moment-Ding, einem Urereignis auf Partikelebene oder einem substantiellen Quantengeschehen solchen Ausmaßes, dass das Wort Explosion dafür unzulänglich ist, auch wenn die Theorie als Urknall-Theorie bezeichnet wird.”

Das ist sicher kein Satz, den Doctorow eines Tages einfach so niedergeschrieben hat, ohne zu wissen, was er tut und der etwas in ihm auslöste. Hier wollte er einfach einem kosmischen Gefühl, das Schriftsteller, zumal amerikanische, öfter mal haben, wohlkalkuliert Ausdruck verleihen. Ein Autor muss eben das schreiben, woran ihm liegt, was ihm Freude und Befriedigung verschafft, sonst kann er auf Dauer kein Schriftsteller sein. Bei einem solchen, trotz seiner Länge und seines Anspruchs, überschaubaren Satz darf man schon fragen, wann der Dichter mich einfangen wird. Ein Satz, der einfach, personalisiert und einnehmend ist. Nun, er kommt anderthalb Seiten später:

„Ich würde gern einen Astronomen finden, mit dem ich reden könnte.”

Dagegen beginnt der Roman, der im Amerikanischen Bürgerkrieg spielt, beispielhaft induktiv:

„Morgens um fünf bollert jemand unter Gebrüll an die Tür, John, ihr Mann, springt aus dem Bett und greift sich sein Gewehr, während man schon das barfüßige Getrapse des im Hinterhaus aufgescheuchten Roscoe hört:”

Der Krieg hämmert gegen die Tür einer Familie und, wenn ich mich recht erinnere, ist natürlich auch dieser John ein Vater.

Im Haffmans Verlag ist, als es ihn noch gab, ein Büchlein mit dem Titel „Romananfänge” erschienen, „Rund 500 erste Sätze”. Dazu morgen mehr. Oder übermorgen.

Medea, das Theater und wir

Katja Paryla und Alexander Lang, Medea und Aegeus, Deutsches Theater Berlin 1986 © Christian Brachwitz

Katja Paryla und Alexander Lang, Medea und Aegeus, Deutsches Theater Berlin 1986
© Christian Brachwitz

Der Straßenfotograf kann nach Belieben und Auftrag auch Landschaftsfotograf, Jazzkonzertfotograf oder Eventfotograf sein. Und hier ist er eben Theaterfotograf. Deutsches Theater Berlin, nicht so lange vor der deutschen Einheit, aber noch Osten, Hauptstadt der DDR. Alexander Lang inszenierte eine Trilogie der Leidenschaft mit den Stücken „Medea” vcn Euripides, „Stella” von Goethe und „Totentanz” von Strindberg. Die Leidenschaften, wie sie sich im Laufe der Zeiten änderten, weniger groß, weniger unbedingt, weniger unbeherrschbar, aber auch deformiert wurden. Katja Paryla ist die Medea, Alexander Lang Aegeus, König von Athen. Aegeus heiratet Medea, nachdem sie von Iason verstoßen wurde und aus Rache die gemeinsamen Kinder tötete. Aber auch Aegeus wurde die mit magischen Kräften begabte Kolcherin Medea unheimlich, auch er verjagte sie. Der Mythos ist auslegbar und von Männern gemacht. So schrieb in den neunziger Jahren Christa Wolf eine ganz andere Geschichte, in der nämlich Medea aus Kolchis als Fremde im reichen Korinth zum Sündenbock gemacht wird.ohne schuldig zu sein. Wenn ich mir die Lust, die Dynamik dieser alten Theaterbilder anschaue, frage ich mich, wann eigentlich die Berliner Theater, von den anderen will ich gar nicht reden, aufhörten, uns zu begeistern, wann sie ihre Suggestion, ihre Kraft und ihre zauberhafte Ironie verloren. Und warum das so war. Lag es an einigen wenigen Persönlichkeiten, die wegstarben oder weggingen? Oder war es, weil das Theater seine Rolle in der digitalen Medienwelt nicht mehr finden konnte? Oder lag es einfach an uns, deren Leidenschaft sich in unserem Erfahrungs-und Alterungsprozess auch deformierte? Es kann sich noch alles wieder ändern.

Ein Mann hat seine Arbeit getan

Bücher, die nicht im Regal rumstehen, sondern wirklich gelesen werden

Bücher, die nicht im Regal rumstehen, sondern wirklich gelesen werden

E. L.Doctorow ist gestorben. In New York geborener Schriftsteller russisch-jüdischer Abstammung. Er war 84 Jahre alt. Studierte Literatur an der Universität von Ohio, verbrachte den Militärdienst in Deutschland nahe Darmstadt, kam 1955 zurück, war Lektor, Dozent und schrieb und schrieb. Das erste Buch, das man von ihm las, war Ragtime. Das kam mit soviel Lob auf uns zu, dass wir es eher ernüchtert lasen; es gibt keine Wunderwerke in der Literatur, alles ist Arbeit, Talent und das Glück und die Erfahrung, es richtig zu machen.

Doctorow mochte es nicht, wenn man ihn als Autor historischer Romane sah. Was heißt, er mochte es nicht – er hielt es für ein Missverständnis. Er schrieb in der Tat über Ereignisse und Leute, die es vor langer und auch gar nicht so langer Zeit gegeben hatte, aber er sagte: „… wir müssen vergessen, wie die Wirklichkeit aussah. Das interessiert mich nicht, das ist nichts Besonderes.” Es ging ihm um die Ideen, die er – wie alle – mit sich herum trug, und die sich irgendwann durchsetzten. Darauf musste man warten. Deshalb sind seine Bücher so echt, so kunstvoll und nie künstlich. Der letzte Roman, den ich von ihm las, war „Homer & Langley”, zwei Brüder aus der besseren Gesellschaft, die, wie Doctorow im Gespräch mit Jordan Mejias (FAZ) sagte, zur New Yorker Stadtfolklore gehörten, als er noch ein Kind war. Ihn interessierte, warum diese Collyer-Brüder aus dem Leben um sie herum ausgestiegen waren. „Aber ich habe sie nun nicht als Außenseiter beschrieben, sondern wie einen Mythos behandelt. Also habe ich auch viel erfunden, denn man interpretiert einen Mythos, man erforscht ihn nicht.”

Wenn man Doctorow liest oder ihm wie hier zuhört, erfährt man unweigerlich viel über die Geheimnisse des Schreibens und des Lebens. Er ist ein Mann, der seine Arbeit getan und sein Leben gemeistert hat. Wenn er nun gestorben ist, können wir mehr Dankbarkeit als Trauer empfinden. Und in wenigen Wochen wird bei Kiepenheuer & Witsch sein letzter Roman, „In Andrews Kopf”, erscheinen. Ein Schriftsteller kann sterben, aber nicht vergessen werden.

Was ist denn das?

Den Hinweis auf die Slipanlage sieht man jetzt auch nicht alle Tage. In der Rummelsburger Bucht schon

Den Hinweis auf die Slipanlage sieht man jetzt auch nicht alle Tage. In der Rummelsburger Bucht schon

’ne Slipanlage, was soll das sein? Ganz klar: Da werden Schlüpfer hergestellt und bei Bedarf auch gleich angelegt.

(Nee, Quatsch. In Wirklichkeit ist das eine schiefe Ebene, wie sie in Häfen gebraucht wird, um Boote zu Wasser zu lassen.)

Kategorien:Berlin Schlagwörter: , ,

Noch ein Sonntag in Berlin

So lustig sind wir nie gewesen

So lustig sind wir nie gewesen

Nur kurz ließ sich der Hafenmeister bitten, dann begab er sich auf den schmalen Steg und fotografierte die Gruppe, deren jedes Mitglied auf dem Foto draufsein sollte. Als sie das Foto dann im PC anschauten, waren sie perplex, wie fröhlich oder nachgerade glücklich sie wirkten. Ist ein solches Image nicht ausgesprochen unsympathisch? Außerdem entsprach dieser äußere Eindruck auch keineswegs ihrem Selbstbild. Ihre Gespräche im Garten der Hafenküche am Rummelsburger Ufer nach dem großen Regen waren eher melancholisch gewesen, mit ein bisschen Spott und Ironie.

Wer einen Hafen-Burger isst, wir richtig satt

Wer einen Hafen-Burger isst, wird richtig satt

Sie waren in Berlin Mitte gestartet und schon auf den ersten Metern war einer der ihren gestürzt, hatte sich das Knie blutig geschlagen und das Fahrrad ruiniert, um dann, kaum hatte die Tour begonnen, nach Haus zurückzugehen. Den größten Teil des Regens hatten sie bei Chicken wings im Burger King am Alexanderplatz abgewartet. Da hatten sie gerätselt, ob ihr gescheiterter Freund wegen des Regens, wegen der Straßenverhältnisse gestürzt oder ob er Opfer seines eigenen Fahrfehlers geworden war. Und dann auf nach Rummelsburg, immer mit der Gefahr, wieder vom Regen überrascht zu werden. In der Hafenküche warteten schon die beiden Karlshorster; sie saßen unter einer gewaltigen Weide. Ob das eine Trauerweide war? Nein, dazu hingen die Blätter nicht traurig genug hinab. Bier kann ich hier nicht empfehlen, sagte der Karlshorster, sie haben nur Flaschenbier in Saftgläsern. Aber mit dem Hafen-Burger war er zufrieden gewesen. Sie bestellten alkoholfreie Hefeweizenbiere, Wiener Schnitzel und Pflücksalat mit Hähnchenfleisch (als hätten sie nicht schon jede Menge Chicken wings verzehrt). Der Mann aus Trier lobte Berlin. In Berlin bekäme man das Wiener Schnitzel immer, wie es sich gehöre, aus Kalbfleisch, während in vielen deutschen Restaurants ungeniert dicke Schweineschnitzel als Wiener Schnitzel serviert würden. Wir überlegten, ob es in der DDR überhaupt Kalbfleisch im offenen Verkauf gegeben hat; jedenfalls haben wir in unseren Kinder- und Jugendtagen viel Pferdefleisch gegessen. Warum wird das heute verschmäht? Vielleicht, weil das Pferd als edles Tier gilt, beinahe wie die heiligen Kühe in Indien. Und noch viel weniger würden wir je daran denken, Hundefleisch zu essen, weil doch der Hund der beste Freund des Menschen ist.

Citymarina in der Rummelsburger Bucht

Citymarina in der Rummelsburger Bucht

Wir sprachen über die weibliche Studio Rundholzmode und wie sie von Männern bewertet wird, wir lobten die großen Künstler aus Sachsen, die auch ihre gewöhnlichen Landsleute in ein gutes Licht setzen. Kurz und gut: Rechtfertigen solche Gespräche, dass man anschließend so fröhlich in die Welt schaut? Was geschieht mit uns Menschen, wenn ein Objektiv auf uns gerichtet ist? Warum können wir unsere Befindlichkeit nicht eins zu eins rüberbringen? Über all das nachdenken. Vielleicht auch nicht.

Kleines Fest am Rand

Tänzer, Spieler, Wiener © Christian Brachwitz

Tänzer, Spieler, Wiener
© Christian Brachwitz

Brachwitz hatte gelernt (oder war es ihm von Anfang an so eingeschrieben?), in den Metropolen wie hier in Wien die Ränder nicht zu meiden. Dahin zu gehen, wo nichts los ist. Dahin, wo die Vernachlässigung um sich greift, wie es auch bei älteren verlassenen Männern der Fall ist (laut E. L. Doctorow). Wie der 1. Mai in Wien gefeiert wird, wissen vornehmlich die Wiener selbst. Aber wie wienerisch geht es am Rande zu? Das wissen die Randexistenzen überall auf der Welt. Etwas, das wir hier wohl Spielmannszug nennen würden, hat nach dem großen Aufmarsch, wo er nicht richtig zum Zuge kam, am Kirchplatz halt gemacht, Instrumente und Notenständer ausgepackt und losgespielt. Noch sind die Künstler in der Überzahl (was ihnen nichts ausmacht), aber die wenigen Zuschauer beginnen schon zu tanzen (so weit man nach der Musik eines Spielmannszugs tanzen kann): die Mutter mit der Großmutter, die große Schwester mit der kleinen Schwester, und das Mädchen unterm Briefkasten würde am liebsten von dem Jungen mit dem geilen Anorak (Sky Board) zum Tanz geholt werden. Aber dann könnte ja jemand ihren Roller klauen. Egal. Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus, die Schatten sind lang, noch muss man sich warm anziehen. Ich erinnere mich, dass die Spielmannszüge, wie ich sie aus meiner Kindheit kenne, meistens ohne Noten auskamen. Und mit Noten wurde ihre Musik nicht besser. In Wien kann das schon anders sein.

Kategorien:Brachwitz weekly Schlagwörter: , ,

Berlin Alexanderplatz (19): Märchenstunde

Voller Spielzeug heute der Platz © Fritz-Jochen Kopka

Voller Spielzeug heute der Platz
© Fritz-Jochen Kopka

Im trüben Licht eines Juliregentags mit satter Luftfeuchtigkeit lief vor meinen Augen eine Märchenstunde auf dem Alexanderplatz ab. Das moderne Märchen: Ein Kind hat sich auf die Steinplatten gekauert, einen Lolli im Mund, die linke Hand umklammert den Roller, der gleichzeitig eine Stütze ist, die Augen verfolgen den jungen Vater und seinen Handytalk: Was ist mit unserem Mütterchen?

Modernes Vater-Tochter-Märchen

Modernes Vater-Tochter-Märchen

Berechtigte Frage, denn gleich links schleicht eine elegante und darum umso gefährlichere Hexe vorbei. Den Vater grauset’s. Er redet geschwind. Er hat keinen Blick für das ängstliche Kind.

In der Klemme

In der Klemme

Ja, stimmt, es kann auch eine Balladenstunde sein, die hier abläuft, aber der klassisch gekleidete Dudelsackspieler erinnert mich doch an den Zwerg in Schneeweißchen und Rosenrot, ja, jenen, der seinen ellenlangen, schneeweißen Bart in einem Holzstamm eingeklemmt hat und sich nicht befreien könnte, kämen da nicht die beiden frommen Mädchen vorbei. Der Dudelsackspieler hat, so wie der Zwerg mit seinem eingeklemmten Bart, große Probleme mit seinem Dudelsack. Dem entweichen Töne raus, die er niemals spielen wollte, krächzende, ja, fast Sirenentöne, und nun muss er sehen, dass er das Instrument von diesen Misstönen befreit, allein, Schneeweißchen und Rosenrot sind nicht in Sicht.

Der Schatzhauser lockt

Der Schatzhauser lockt

Der goldene Mann auf dem Podest ließ mich an den Schatzhauser (das Glasmännlein) aus dem kalten Herz von Wilhelm Hauff denken, er lockte die Menschen mit dämonischen Gesten zu sich heran und wollte sie mit Gaben aus seinem goldenen Körbchen beschenken; aber die Menschen waren entweder zu schlau oder zu misstrauisch, jedenfalls gaben sie eifrig Fersengeld, und dem Schatzhauser kamen seine Gesten abhanden.

Verliefen sich im Häusermeer

Verliefen sich im Häusermeer

Daneben machten die erwachsen gewordenen Hänsel und Gretel eine Pause auf ihrem Irrweg durch das Häusermeer; eine Missstimmung war zwischen ihnen aufgekommen; sie halluzinierten ihre Eltern; mondäne Geschöpfe, der Vater absolut androgyn.

Zwerg Nase mächtig gewachsen

Zwerg Nase mächtig gewachsen

In der Mitte des Platzes aber stand der Zwerg Nase, ebenfalls von Wilhelm Hauff, und musste glauben, sein Schöpfer habe ihn unsichtbar erschaffen, denn kein Mensch nahm eine Notiz von ihm. Ich aber ging ins nahe Haus Berlin und spülte mit fünf Staropramen den Märchenspuk hinweg.

Unser Deutschlehrer und Gérard Philipe

Seitenflügel unserer alten Schule. Die Skulptur soll Uwe Johnson darstellen, der hier wahrscheinlich seine besten Tage erlebte

Seitenflügel unserer alten Schule. Die Skulptur soll Uwe Johnson darstellen, der hier wahrscheinlich seine besten Tage erlebte

Die Mädchen in unserer Klasse brachen seelisch zusammen, als unser Deutschlehrer in seiner apodiktischen Art sagte, dass Gérard Philipe ein ganz mieser Schauspieler sei, ein total überschätzter Nichtskönner, absolut talentlos. Wir hatten uns daran gewöhnt, dass dieser Deutschlehrer recht hatte. Seine Ansprüche waren hoch (so verachtete er das Güstrower Stadttheater), sein rhetorisches Vermögen war enorm, sein hochmütiger Charme unwiderstehlich. Wir liebten ihn nicht, aber wir achteten und fürchteten ihn. Aber was war nun mit Gérard Philipe, der noch eine viel größere Autorität war, ein Star über alle Ländergrenzen hinweg, Fanfan, der Husar! Unser Deutschlehrer tat so, als läge es auf der Hand, dass Gérard Philipe eine Null sei. Argumente lieferte er nicht.

Erst jetzt bin ich dahinter gekommen, was er gemeint haben könnte, als Arte den Film „Aufenthalt vor Vera Cruz” zeigte. Die Rolle des Arztes, der mit Schuld am Tod seiner Frau ist und seither um ein Glas Tequila oder besser eine Flasche Tequila bettelt und sich dafür erniedrigt, lag dem Star aus Frankreich überhaupt nicht. Er konnte einfach keinen Betrunkenen spielen, die torkelnden Bewegungen waren viel zu spielerisch und elegant, das stoppelbärige Gesicht, das verschwitzte Hemd., die zerlatschten Schuhe, der Nihilismus und die zynischen Reden, das alles passte nicht zusammen, und erst am Schluss, als der Trinker das Trinken lässt, Menschen rettet und Michèle Morgan umarmt und küsst, war der Schauspieler Gérard Philipe wieder auf der Höhe. Aber da hatte unser Deutschlehrer das Kino wahrscheinlich schon verlassen. So wie er die Aufführungen des Stadttheaters regelmäßig in der Pause verließ, um uns am nächsten Tag zu erklären, wie minderwertig das alles war, was uns da vorgesetzt wurde. Nur bei Gérard Philipe blieb er uns Erklärungen schuldig. So ist das eben, wenn ein stattlicher Mann über einen schönen Mann redet, dem die Frauen zu Füßen liegen, während ihnen der energische, nicht übel aussehende Mann eher Angst macht.

In einem reichen Land

Berlin-Steglitz an einem Tag wie jeder andere © Christian Brachwitz

Berlin-Steglitz an einem Tag wie jeder andere
© Christian Brachwitz

Er trat aus dem Schatten ins Licht, denn dort, unter der erbarmungslosen Sonne (ihm machte sie nichts aus, er hatte ganz andere Sachen zu ertragen als Hitze), waren die Behälter. Er durchsuchte sie mit geübtem Blick, er hatte eine gebückte Haltung eingenommen, die Haltung des Suchenden und Hoffenden, von der er sich schon nicht mehr trennen konnte, er schaute nach unten, nicht nach oben – sein Glück, wenn er denn mal welches hatte, lag unten, auf der Erde, bei den Resten der anderen, dem Weggeworfenen oder Verlorenen. Zu zwanzig Prozent lebte er auch von der Illusion, dass er mit diesen Resten noch etwas anfangen könnte. Dass sie vielleicht Tauschobjekte für irgendwen sein konnten, der auch erst noch geboren werden musste, weiß der Teufel. Und er lebte in einem reichen Land, wie er immer wieder hörte und wie er auch selbst erfahren hatte: Er konnte sich eine Strickjacke aus der Kleidersammlung heraussuchen, die war wie neu, war nicht zu groß und nicht zu klein und kostete ihn nichts. Er hatte nach dieser Jacke gegriffen, weil ihm die freundlichen Farben gefielen; er hatte genug von der Farbe Schwarz, die ihn verfolgte, ihn und seine Leidensgefährten von der Straße; er wollte einfach einen anderen Impuls setzen. Darum hätte er die Jacke auch mit Abnutzungserscheinungen genommen, aber sie war einfach tadellos. Wer so etwas weggeben konnte, lebte wirklich in einem reichen Land.

Wat haste jesagt?

A: Na, dann tschüs, Berta.

B: Ja, bis morgen, Auguste!

A: Danke gleichfalls.

(Is ja ooch keen Wunder bei der Hitze, dass man nur Bahnhof versteht.)

Kategorien:Berlin Schlagwörter: ,