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Archive for Mai 2014

Durchdrehen? Aber immer

Auf der Mauer stand mit Farbe © Christian Brachwitz

Auf der Mauer stand mit Farbe
© Christian Brachwitz

Is nur ein Stück Wand. Und ein paar Wörter auf der Wand. Aber die müssen auch erst mal auf den Kratzputz aufgetragen und dann im Vorübergehen entdeckt werden. Diese Lust zum Durchdrehen. In sorgfältig gezirkelten Druck- und Großbuchstaben. Das ist wohl einer gewesen, der vom Durchdrehen nur träumt. Ich halte davon übrigens nichts. Von dieser Masche, das negativ Belegte in einem Anflug von Originalität positiv zu bewerten. Ist vermutlich Angeberei. Man gibt ja auch mit dem Saufen an. Mann, waren wir voll. Meistens sind das Leute, die viel zu strebsam sind, um sich zu besaufen. Das Durchdrehen kommt von ganz allein. Die Lust dazu muss man nicht empfinden und schon gar nicht akkurat auf die Mauer sprühen. Am beliebtesten ist die Übung, das Scheitern zu kultivieren. Scheitern als Chance. Die Poesie des Scheiterns. Nach Wahlen ganz wichtig. Gescheiter scheitern.

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Verlernt, den Herrentag zu feiern

Stimmung!

Stimmung!

Ich stieg leider in einen ziemlich blöden S-Bahnwagen. Da lärmten sechs oder sieben Burschen, die allesamt kotzhässliche Langhaarperücken trugen. Du lieber Himmel, es war ja Herrentag, das hatte ich total vergessen. Sie tranken, johlten und sangen, leere Bierbuddeln rollten durch den Wagen. Einer fummelte in seiner Hose rum. Er sucht seinen Pimmel, riefen die anderen. Man mochte da gar nicht hinsehen und tat es auch nicht, das war das Beste, wie man darauf reagieren konnte. Dann schnappte einige Dutzend Mal ein Feuerzug, bis endlich die Lulle in Brand gesetzt war. Es stank sofort durchdringend in dem unschuldigen S-Bahnwagen; man ist sowas nicht mehr gewöhnt, und die Nase reagiert empfindlich.

Weltherrentag an der Weltzeituhr

Weltherrentag an der Weltzeituhr

Am Alexanderplatz war der Lärm noch größer, aber strukturiert. Neben der Weltzeituhr hatten sie einen gummiebreiften Wagen mit Musik- und Zapfanlage aufgestellt. Das war auch nur eine kleine Gruppe, aber durch den Lärm aus der Anlage hatte die Stimmung eine solide Basis. Zusätzlich versuchten sie, mit dem vollen Bierbecher in der Hand einen Fußball zu jonglieren, und das machten sie gar nicht schlecht. Mit dem Ball jonglieren und gleichzeitig trinken – das kriegten sie allerdings nicht hin. Letzten Endes zeigte sich, dass kein Mensch in Berlin noch große Lust hat, den Herrentag zu feiern. In den kleinen Städten mag das anders sein. Früher putzten sich die Männer für diesen Tag heraus; sie hatten einen Kremser bestellt und mit frischem Birkengrün geschmückt, ihre Frauen gaben ihnen Proviantkörbe mit, damit der Alkohol auf einen guten Boden rieselte. Die Männer waren keine schlechten Sänger und in festlicher Stimmung, wenngleich der Tag für den einen oder anderen noch tragisch ausgehen konnte. Früher, das war ja die Zeit, als es noch kein Fernsehen gab und Frauen wie auch Männer mit einem Kissen gepolstert in den offenen Fenstern hingen und darauf warteten, dass irgendwas geschah, das sich vielleicht sogar zu einem Gerücht verarbeiten ließ. Wie viele schöne, lange Stunden verbrachten sie doch an diesen Fenstern, und es hat ihnen nicht geschadet. Vielleicht.

Strangers on the Shore

Allein auf der Welt Fotos © Fritz-Jochen Kopka

Allein auf der Welt
Fotos © Fritz-Jochen Kopka

Zuerst waren wir in Howth. Von Conolly Station ein paar Halts mit der Dart, der Dubliner Stadtbahn. Am Ziel teilt sich die Schlange der Passagiere. Die einen geben ihre Fahrscheine in die Sperrautomaten ein, die anderen verlassen den Bahnhof durch die irgendwie doch vorhandene Lücke. Linkerhand kleine Häuser mit Fischrestaurants, ein Anglercenter, ein Touristenzentrum mit einer ich sag mal Kunstausstellung.

Auf rostigen Schiffen sind wir gefahren

Auf rostigen Schiffen sind wir gefahren

Rechts liegen zum Teil recht rostige Schiffe mit einem Gewirr bunter Netze vor Anker. Möwen auf allen Masten. Der Geruch von Meer, Fisch und Tang. Am Ende der Straße die Mole, aus schweren Steinen stufenförmig gemauert, da sitzen Familien und fotografieren ihre Kinder.

Fressen oder gefressen werden

Fressen oder gefressen werden

Ein Angler, der seine Angel aus dem Wasser zieht und wieder auswirft. Der muss schon sehr geschickt sein, wenn der Angelhaken sich nicht in einem der sich sonnenden Menschen verfangen soll. Und das ist er auch. Geschickt genug, einen Fisch zu fangen, ist er allerdings nicht. Wann habe ich jemals gesehen, dass ein Angler wirklich einen Fisch fing. Und trotzdem angelt, angelt und angelt er. Eine Metapher fürs Leben, zweifellos.

Der kleinste denkbare Hafen, so scheint es. Die Zeit bleibt stehen, zumindest verlangsamt sie ihren Takt. Die Leute halten ihre Gesichter in die Sonne und den Mund. Unwillkürlich drängt sich Tom Waits in mein Gemüt und singt Lost in the Harbour. Warum diese Schwermut. Berechtigt ist sie auf jeden Fall. Geht das? Gleichzeitig schwermütig und glücklich zu sein?

Wenig Fisch, viel Geduld

Wenig Fisch, viel Geduld

Der Blick aufs Lighthouse, der Wall aus Gesteinsbrocken gegen die Naturgewalten. Auf der anderen Seite der Hafenstadt die grünen Hügel Irlands. Die Zunge flattert minutenlang vor der Schnauze eines weißgelben Spitz. Ein Kind mit einem roten Ballon, versunken ins Spiel, als wäre es allein auf der Welt. Zwei Fischer sortieren so schnell wie Aschenputtel die gerade gefangenen Sprotten. Das wimmelt nur so unter ihren Händen. Eine Gruppe Radsportler streckt die müden Glieder aus. Fünf goldene Ringe, das Büro der Olympischen Gesellschaft.

Ebbe in Sandymount

Ebbe in Sandymount

Auf dem Rückweg fahren wir kurzentschlossen über Conolly Station hinaus nach Sandymount. Wir haben nun keine gültigen Fahrscheine mehr, müssen die Sperrautomaten meiden. Die Lücke gibt es auch hier, man muss nur hinter den Kindern hergehen. Am Strand von Sandymount spielen die Proteus- und die Nausikaa-Episode von James Joyce’ „Ulysses”. Aber wir finden den verdammten Strand nicht. Wir finden nur eine breite Straße mit vornehmen Clubs, einem Four Seasons Hotel, Stiftungen, Sanatorien, einem Stadion, in dem Rugby und Kricket gespielt wird, nur ein bis zwei Mal im Jahr Fußball, sagt der freundliche Hundehalter, der uns den Weg zeigt. Keine Läden, keine Pubs. Gesellschaft, die unter sich sein will.

 

Angekommen

Angekommen

Der richtige Weg führt uns ins freundliche Sandymount. Jeder zweite trägt hier das Sweatshirt der Bank of Ireland. Wir sind zwar Strangers on the Shore, aber es ist irgendwie klar, dass wir gegrüßt werden und zurückgrüßen. Im Café scheinen Familien an mehreren Tischen irgendeine Weihe ihrer Kinder zu feiern, die Jungs tragen Anzüge und sind so gut frisiert wie Macauley Culkin, die Mädchen weiße Kleider wie kleine Bräute. Ein Mädchen am Nebentisch hat ein Gesicht wie Oskar Matzerath, ein seltsam altes Kindergesicht. Ein junger Kandidat betritt den Raum. Wir nennen ihn so, weil er beim besten Friseur der Stadt war, einen perfekt sitzenden Anzug trägt, sehr aufrecht geht und seine Freundin ausführt. Ein Junge mit besten Aussichten.

Und endlich sind wir am Strand. Das Meer hat sich weit zurückgezogen. Die Industrie ist da, aber schweigt. Ein rauhes Ufer. „Die drei Freundinnen saßen auf den Felsen und freuten sich der Abendstimmung und der Luft, die frisch war, doch nicht zu fröstlig. Gar oft und manches Mal drängte es sie, dort hinaus zu kommen, zu ihrem Lieblingswinkel, und ein gemütliches Schwätzchen zu halten neben den funkelnden Wellen und weibliche Dinge zu bereden …”, heißt es im Ulysses unerwartet konventionell. Hier saß Leopold Bloom in der Dämmerung und erfreute sich am Anblick von Gerty MacDowell derart, dass es seinerzeit für ein Verbot des Romans im Land der unbegrenzten Möglichkeiten und Prüderien ausreichte. Alte Paare in weißen Hosen. Junge Paare hinterm Windschutz. Familienszenen, Kinderwagen. Fahrräder, Roller. Schornsteine, Kräne, Silos, Fabriktürme, alles wie erstarrt in der Maisonne dieses Samstags. Wir haben das Gefühl, dass wir hier leben könnten. Das ist beruhigend. Vor dem Pub haben sich die Leute versammelt, stehend, sitzend oder auch tanzend; die Stadt ist beieinander.

An diesem netten Bullen kommst du nicht vorbei

An diesem netten Bullen kommst du nicht vorbei

Die Dart spuckt die Rugbyfans aus. Ein martialisch aussehender Polizist versperrt die Lücke. Sie müssen alle durch die Sperre. In der Bahn vergnügt sich eine Jungenbande damit, Furzgeräusche zu imitieren. Ihre Versuche werden immer wütender, je weniger sich jemand darüber aufregt.

Wir gehen hier tatsächlich durch die Straßen, durch die James Joyce gegangen ist und durch die er Leopold Bloom und seine Dubliner gehen ließ. Wir trinken unser Guinness in dem Pub, in dem er sein Guinness getrunken hat. Der Ulysses tritt aus der Buchstabenwelt heraus. Situationen werden vorstellbar. Bilder entstehen. Leopold Blooms Wege, Gestalten, Gesichter, die er sah, Gefühle, die er fühlte. Die Dunkelheit. Wir sind ja auch so lange unterwegs in der Stadt wie er.

Dublin North Earl Street

James Joyce in Dublin North Earl Street

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Peter Gabriel was here

Wer zählt die Völker, nennt die Namen Fotis © Fritz-Jochen Kopka

Wer zählt die Völker, nennt die Namen
Fotos © Fritz-Jochen Kopka

Bahnhof Friedrichstraße war ein Radfahrer zusammengeklappt, wahrscheinlich dehydriert. Wir sahen nur seine Beine, bis eine Feuerwehrcrew ihn auf die kompakte Krankentrage hob. Er war noch so jung, und wie er da so halb lag, halb saß, hatte sein Gesicht einen friedlichen Ausdruck angenommen, und in der Hand hielt er zu unserer Beruhigung eine Wasserflasche. Die Feuerwehmänner trugen ihn fort. Sein Freund versuchte, die beiden bunten Fahrräder zu bergen.

Mit vier Kindl bist du dabei

Mit vier Kindl bist du dabei

Wenn man zur Waldbühne will, steigt man besser Pichelsberg aus, nicht Olympiastadion. Auf dem Weg begegneten uns Leute, die noch Karten suchten, als auch solche, die Karten verkauften. Ein Kavalier kaufte seiner Lady schon mal vorab ein Piccolöchen. Ein Radfahrer war in Doppelfunktion dabei. Er sammelte leere Flaschen, suchte aber auch noch eine Eintrittskarte für Peter Gabriel und sein letztes Konzert der Back to Front: So Anniversary-Tour. Ein Mädchen hielt ein Schild hoch. Auf dem Schild stand: Suche Freikarte, und ich sah wieder mal so harmlos aus, dass die Security nicht mal in meinen Rucksack schauen wollte. Wo ist der Mensch bereit, 4 € für 0,4 l Kindl Bier zu bezahlen? Doch nur in der Waldbühne. Die Waldbühne bei schönem Wetter ist eine Klasse für sich, ein Riesenpicknick unter 20 000 Leuten, und am Ende gibt’s dann auch noch ein Spitzenkonzert. Ich wundere mich nur, dass kein Mensch diese steilen Treppen runterrasselt, aber die sind in der Tat so besorgniserregend abgründig, dass jeder Gast alarmiert ist, und Kinder und Besoffene passiert sowieso nüscht, sagt der Volksmund, ich weiß nicht, ob’s stimmt. Mir ist schon mal was passiert.

Jennie, oh, Jennie

Jennie, oh, Jennie

Wir hatten Glück oder Pech. Vor uns saß ein Paar, das gemeinsam eine merkwürdig aussehende Zigarette rauchte, aber trotzdem nicht in Stimmung kam. Ganz im Gegensatz zu dem Mann hinter uns, der laut und lachend unentwegt den Eindruck zu vermitteln suchte, dass er mit Peter Gabriel schon etliche Male Schweine gehütet hatte. Für seinen erwachsenen Sohn stellte er sich als warmherziger Lebensweiser dar, muss nicht immer Liebe sein, zwischen Mann und Frau, kann auch Freundschaft sein, Nähe, zusammen essen gehen. Er werde demnächst nach Thailand fliegen, wo sein Geld noch was wert sei. Das gibt mir eine Sicherheit, die ich noch nicht kannte. Dann wandte er sich an sein Umfeld und erläuterte in Bezug auf Peter Gabriel: Wir sind zusammen alt geworden.

Peter Gabriel stand plötzlich auf der Bühne und sagte den Support Act an. Jennie Abrahamson und Linnea Olsson, zwei junge Schwedinnen, am Anfang ihrer Laufbahn, und Gabriel mit 64 ein Mann, der sich nicht verstellt, wenig Haar, weißer Bart, rundlich. Die Schwedinnen gaben eine intensive, melancholische Visitenkarte ab, Stimme Stimme, Cello, Xylophon, mal eine Vorband, die absolut nicht überflüssig war. Als Peter Gabriel wieder die Bühne betrat, setzte er die Zuschauer davon in Kenntnis, was er vorhatte. Ein Konzert in drei Teilen wie ein Menü aus Vorspeise, Hauptgang und Nachtisch.

Heaven over Peter

Heaven over Peter

Am Anfang handgemachte Musik im Experimentierstadium, dann der eher elektronische Teil und schließlich das wiederbelebte Jubiläumsalbum So. Sein Intimus hinter uns kannte natürlich alle Songs und alle Interna und einmal schrie er aus Leibeskräften: Ich liebe dich, Peter, aber dann begab er sich zu den Imbissständen, um Bier und Nahrung zu holen, wie ja das ganze Konzert über die Karawane hinauf zu den Ständen und wieder hinunter zu den Plätzen nie abriss. Das ist Waldbühne. Das Geschehen auf der Bühne wurde auf zwei Projektionswänden videokünstlerisch aufbereitet, es gab Power, es gab Trauer, Family Snapshots, Secret Worlds, Mercy Streets, Red Rain, Sledgehammers. Schwarzweiße, rote, gelbe, violette, blaue und orangene Songs. Nachdenklichkeit und Trotz, als Gabriel und Jennie Abrahamson Don’t Give up sangen. Grandios. Ganz bestimmt. Dem Intimus fiel die Pizza aus dem Mund. Was kann man sagen gegen einen echten Enthusiasten.

Night falls

Night falls

In den Abendstunden

Die Lichter der Werbung © Christian Brachwitz

Die Lichter der Werbung
© Christian Brachwitz

In den Abendstunden wird die Werbung magisch. In den Abendstunden knipst sie ihr exklusives Licht an und das selbstgewisse Lächeln des Verbrauchers, der immer das kauft, was ihm zum Glück gerade fehlt. Dieses Lächeln wird bleiben, auch wenn es dich und mich nicht erreicht. Es wird eingerahmt von Phantasiegeschöpfen und einem Kind. Der Mann trägt eine Brille wie du und ich. Er ist vielleicht ein Schauspieler, an dem die Angebote von Film und Fernsehen vorbeigehen. Die Werbung kann ihn noch brauchen. Er ist alles andere als selbstgewiss, aber er kann das spielen. Er soll verkaufen. Ich weiß nicht was. Genau meine Welt, heißt der Slogan. Es ist genau eine Welt neben der wirklichen. Im künstlichen Licht.

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Die Stadt ist voll Musik

Erstarrung in der Grafton Street Fotos © Fritz-Jochen Kopka

Erstarrung in der Grafton Street
Fotos © Fritz-Jochen Kopka

Samstagabend ist Dublin voll von Musik. Beers, Wines, Spirits im Szeneviertel Temple Bar. Guinness is good for you. Kneipe an Kneipe. Wo ist das Glück zu finden. Die Unruhe ist greifbar. Erwartung ohne Grenzen. Wir wollen nicht sein, wo es voll ist. Wir wollen nicht sein, wo es leer ist. Warum gehen wir nicht über die Liffey in unseren freundlichen Norden. Auch hier heißt das Zauberwort Live Music. Sie dringt aus den Pubs auf die Straßen.

Volle Hütte Temple Bar

Volle Hütte Temple Bar

Parnell Bar (Stimme, Gitarre, Geige), Murray’s (da tanzen sie schon, drinnen und draußen), Madigan’s O’Connell Street, Madigan’s North Earl Street. Da bleiben wir sitzen. Solotrinker am Tresen. Rugby auf dem Flachbildschirm. Am Nebentisch feiert Tony mit seiner Frau den 51. Hochzeitstag. Der Künstler (the Artist) mit seiner Gitarre wird zwischen den Räumen kaum beachtet. Bis wir nach dem verklungenen Song anfangen zu klatschen. Ein Lächeln gerät auf sein Gesicht, die Stimmung hellt sich auf.

Blechmusik

Blechmusik

Am Tresen singt ein knorriger Alter mit struppiger Haartolle jeden Song mit. Und dessen Mundwinkel runter hängen, wenn der Künstler bejubelt wird. Der Beifall sollte besser ihm zugedacht sein. Seine Augen gehen ins Ungewisse, unmöglich, einen Blick von ihm aufzufangen. Streets of London gehört zum Standardrepertoire aller Pubs. Ich erfahre, dass Dortmund gegen Bayern 0:1 zurückliegt, dann 0:2. Was ich nicht weiß: Dass das schon in der Verlängerung geschieht und dass die Borussia in der 65. Minute das 1:0 geschossen hat (Hummels), was der Schiedsrichter nicht anerkennt. Das kriege ich erst wieder in Berlin mit, wo ich mich auch über die merkwürdige Berichterstattung wundere.

Die bunte Welt der Parnell Bar

Die bunte Welt der Parnell Bar

Tonys Frau wünscht sich einen Song. Der Künstler ruft sie nach vorn. Sie soll selbst singen. Lehnt sie ab. Warum? Sie hat fünf Kinder, drei Mädchen, zwei Jungen, alle machen sie Musik, von wem haben die das denn. Eine junge Frau versucht an einem Amy-Winehouse-Lied, vom Künstler selbstlos begleitet und gerettet.

Der Sänger macht einen Bob-Dylan-Ausflug. Dann einen Johnny-Cash-Ausflug. Und einen Simon & Garfunkel-Ausflug. The Boxer. I’m just a poor boy. Dann tritt auch der knorrige Alte ans Mikro. Singt – beinahe vorhersehbar – wie Tom Waits. Scheint das Publikum weitgehend zu ignorieren. Dreht ihm den Rücken zu. Die Augen starr nach oben gerichtet, als bilde sich dort sein Leben ab. Hätte alles besser sein können. In the clearing stands the boxer.

Tony ermuntert uns, weiter Bier zu trinken. Das Guinness schmeckt nicht, meint er, wird aber besser von Glas zu Glas. Ich muss sowieso weiter trinken, die Chicken Wings nach Art des Hauses sind so scharf, dass ich das Gefühl habe, innerlich zu verbrennen. Mittlerweile singt der ganze Pub mit, zum Teil zweistimmig, es ist ein glorreicher Abend, wie er einem nur selten im Leben geschenkt wird. Und mitten in der Nacht sind die Streets of Dublin noch immer voller Musik.

Der Künstler zwischen den Räumen

Der Künstler zwischen den Räumen

Am Tag auch. Sie spielen mit zerschrammten Gitarren oder Banjos, die sie aus großen Blechschachteln gebaut haben, sie trommeln auf Holzplatten. Ein Mädchen singt Arien. Eine alte Dame nutzt die Pause, um sie zu beraten. Eine Gruppe von vier pechschwarz angemalten Erstarrern in der Grafton Street. In der Parnell Bar nennt mich der Barkeeper beim dritten Five Lamps Lager Beer einen guten Mann und bei jedem nächsten Bier werde ich ein noch besserer Mann, bis ich schließlich über allen Dingen bin. In Carrolls Irish Gifts Shop in der Talbot Street steht der rundliche Verkäufer hinter der offenen Tür und singt mit einer schlanken, geschmeidigen Stimme. Jeder soll es hören. Und jeder hört es auch.

Uni-age

Uni-age

Laute Tage in Dublin

McLoughlin vorm Belvedere College, wo James Joyce studierte Fotos © Fritz-Jochen Kopka

McLoughlin vorm Belvedere College, wo James Joyce studierte
Fotos © Fritz-Jochen Kopka

Dublin war voller Möwen und Wahlplakate. Auch voller links fahrender Busse und einladender Pubs. Die Möwen waren ununterscheidbar und saßen frech auf den Häuptern irischer Freiheitskämpfer.

Room at the top

Room at the top

Aber der große Unterschied zu uns waren eben die Kandidaten zur Europawahl. Viel mehr Power als in Deutschland. Kaum ein Mast, den die Fitzpatricks und O’Callaghans mit ihren Plakaten nicht erobert hätten im Kampf um Mehrheiten im Europaparlament, während es bei uns mehr um die Ukraine geht. Die Kämpfer kamen uns bestens bekannt vor; sie haben die Gesichter, wie wir sie aus irischen oder englischen Filmen kennen, wo sie in Pubs sitzen und Guinness trinken oder eben in engen Wohnungen ihr Familienleben absolvieren. Rein optisch gefiel uns der Labour-Mann Padraig McLoughlin am besten, diese Mischung aus Kampfesmut und Schüchternheit. Vom Namen her standen wir eher zu Emer Costello, wobei wir albern genug waren, sie Eimer Costello zu nennen, was ihre Aussichten im Wettbewerb mit Padraig McLoughlin sicher nicht schmälern wird.

Handwerk hat goldenen Boden

Handwerk hat goldenen Boden

Bizarre Kabelverschlingungen an Hauswänden. Wären in Deutschland sicher verboten. Vorm Haus führt hinter einem Absperrgitter eine Treppe in den Keller, der zu Wohn- oder gewerblichen Zwecken genutzt wird. Diese kleine Schlucht vorm Haus ist in aller Regel unansehnlich. Ein Sammelbecken von Dreck und Müll. Die Inneneinrichtung unseres kleinen Hotels konnte im Stadtführer hübsch und geschmackvoll genannt werden, sah aber so aus, als würden die Handwerker bei der Arbeit auf ihr Guinness nicht verzichten wollen.

Sind die Iren so? Oder ist das rumänisches Feeling, denn das Haus wurde von Rumänen verwaltet und bespielt, lebenslustige, nicht unbedingt harmlose Leute, die sich ihre Musik aus dem offenen Auto holten. Alle hatten etwas davon. Ja, leider. Nur bis 22 Uhr. Wir sind alle Europäer. Aber wir sind auch Kontinentaleuropäer und hier dem Linksverkehr ausgesetzt. Die Autos rauschen aus anderen Richtungen an uns vorbei. Wenn wir uns nicht zu Sklaven der lahmen Ampeln machen wollen, müssen wir aufpassen wie die Schießhunde. Die Aufschriften auf dem Fahrdamm können uns helfen. Look left. Look right.

Look right im Linksverkehr

Look right im Linksverkehr

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Verdruss

Too much! © Christian Brachwitz

Too much!
© Christian Brachwitz

Und, bis zum Sinken überladen, entfernt sich dieser letzte Kahn. Ja, Goethe. Ein Goethe-Zitat fällt uns halbgebildeten Deutschen zu jeder Gelegenheit noch ein. Der Osterspaziergang hat einiges zu bieten, die Zeilen haben sich uns fast von allein eingeprägt, die mussten wir gar nicht lange auswendig pauken, und wenn man sie einmal im Kopf hat, dann bleiben sie auch drinnen. Schon meisterlich, wie der Dichter die Szenerie beim Wiederaufleben der Natur nach einem schweren Winter aufblättert, den Menschen gehen die Augen über angesichts der plötzlichen Fülle und Überfülle. So ganz angenehm ist das nicht. Bis zum Sinken überladen ist auch dieser Karren nach dem Marktgang, alles wird zu allem geworfen und obendrauf das Kind, dem längst die Freude an dem Kram vergangen ist. Wir kaufen uns das Chaos zusammen, es gibt keine klaren Linien und Konturen mehr, keinen leeren Raum, der wirken kann, überall liegt etwas herum, das wir nicht brauchen. An was werden wir uns erinnern. Was war uns wirklich wichtig. Womit haben wir am liebsten gespielt. Klingt das moralisch? Das sollte nicht sein. Moral haben wir wahrscheinlich auch zu viel. Moral, die überall herumliegt. Unbenutzt.

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Werner Bräunigs Sonderzone

Kann man sich Werner Bräunig als achtzigjährigen Senior vorstellen? Er starb ja schon mit 42 Jahren, zermürbt von den Repressionen der Funktionäre, zerstört vom Alkohol, getrennt von der Familie und doch verbunden mit ihr.

Und. Wer war das überhaupt, Werner Bräunig.

Geboren 1934 in Chemnitz. Gestorben 1976 in Halle-Neustadt. 2007 erschien im Aufbau-Verlag sein Roman „Rummelplatz”, der als verschollen galt, zum ersten Mal und wurde eine literarische Sensation.

Als er dreißig war © Mitteldeutscher Verlag

Als er dreißig war
© Mitteldeutscher Verlag

Von Bräunigs Hand existieren zwei Lebensläufe. Es sind die Lebensläufe eines Schriftstellers, der meinte, über Kalamitäten seines Lebens mit Charme und schwarzem Humor hinweggehen zu können. Die Mutter hieß Erna und war Näherin. Vater Kurt war Kraftfahrer. Er schrieb eine gute Handschrift, vermerkt der Sohn launig. Das heißt, er schlug zu. Nicht nur der Sohn, auch die Mutter bekam es zu spüren.

Den ersten Teil seines Lebens hat Bräunig unter der Überschrift Jugendsünden abgebucht. Nach der diffizilen Familie, der ambivalenten Schulzeit, der abgebrochenen Schlosserlehre, dem Jugendwerkhof, dem Abenteuer im Westen und dem Knast nach Schwarzhandel und Schmuggel nun das Leben des Aufsteigers, des Schriftstellers, Familienvaters und Kunstpreisträgers, dessen Vorleben nicht mehr gewesen sein soll als ein lastender Traum. Man wacht auf, erinnert sich dunkel, vergegenwärtigt sich, dass das keine Bedeutung mehr hat.

Werner Bräunig muss besessen gewesen sein von der Idee des Neuanfangs. Dass man, was immer war, wieder eine neue Chance bekommt, alles Prekäre hinter sich lassen kann.

Er glaubte, im Sozialismus angekommen zu sein. Ein neues Leben in einem neuen Staat.

Fördermann in der Wismut AG. Papiermaschinengehilfe. Instrukteur. Heizer. Schreibt für die Lokalpresse. Dann auch für Literaturzeitschriften. Studium am Literaturinstitut. Assistent und Oberassistent des Prosaseminars. Oktober 1965 Vorabdruck des Rummelplatz-Kapitels aus Bräunigs großanlegten Romans in der Zeitschrift Neue Deutsche Literatur. Der Einstieg in den Absturz. Abkanzelung durch Ulbricht auf einer Schriftstellerberatung, durch die Leipziger SED-Führung, das 11. Plenum. Aussprachen, Kampagnen, denunziatorische Briefe.

Bräunig soll guten Willen zeigen, ändern, umschreiben, was unmöglich ist, weil er im Inneren weiß, dass er Recht hat., er kennt die Verhältnisse, über die er schreibt. Die Funktionäre haben nur die ideologische Draufsicht.

Bräunigs Text war harter Realismus, irgendwie amerikanische Literatur, die in Deutschland spielte. Es ging um die wilden Wismut-Arbeiter, um Wodka, um Schlägereien, um den Müll, den Männer im Suff erzählen (aber nicht nur im Suff) und um Frauen, die auf der Seite der Sieger stehen, es ging um Funktionäre, die ihre Macht ausspielten und doch ohnmächtig schienen. Es ging um Deutschland, Ost und West, und es ging um die Wismut, ein sowjetisches Unternehmen auf deutschem Boden, in dessen Schächten das Uranerz gebrochen wurde, das die Russen benötigten, um das herzustellen, was man später Gleichgewicht des Schreckens nannte. Die Wismut war eine Sonderzone mit anderen Regeln, anderen Ausweisen, mehr Geld, Deputatschnaps und Ereignissen, die oft irreparable Folgen hatten. Ein Platz für Abenteurer, Gestrandete, Schurken und Helden. Apokalyptische Landschaften, Rummelplätze und Bahnhöfe, Kneipen und Barackenunterkünfte sind die Standorte des Romans, die Akteure haben den Schatten des Kriegs im Rücken und den Schatten der Vergeblichkeit vor Augen. Eine Sonderzone. Wenn es solche Sonderzonen gibt, muss es möglich sein, sie zu beschreiben.

1976, zehn Jahre nach den Rummelplatz-Verwicklungen, stirbt der ehemalige Wismutkumpel in einer Einraum-Neubauwohnung in Halle-Neustadt, die so eng war wie der Schacht. Da war er mit dem alten Kameraden Alkohol allein. Mit den Depressionen.

Am 12. Mai wäre er achtzig Jahre alt geworden. Wer genauer hinsah, konnte erkennen, dass dieser unauffällige Mann ein gutaussehender Typ war, der sich viel zutraute. Der schuften konnte. Ein skeptischer, offener Blick. Was sind das für Zeiten, in denen das alles vergeblich ist.

Böse Kinder

Ich bekenne mich zum Tatort aus Köln. Allgemein und zu diesem letzten, „Ohnmacht” betitelten, besonders. Sie sind nun auch schon alte Knochen, die Kommissare Ballauf und Schenk, der schroffe, leicht beleidigte von Klaus J. Behrendt gespielte Schmerzensmann Max und der Mäntel bevorzugende, ausgleichende Freddy von Dietmar Bär. Ballauf will mit der U-Bahn nach Hause und gerät in einen Akt brutaler Jugendgewalt, will helfen und kommt mit knapper Not mit dem Leben davon. Und dann beginnt das Hirnrissige. Die Hierarchie. Karrieristen, Paragraphenreiter, Winkeladvokaten, Feiglinge, Opportunisten, Rechthaber. Der Staat und seine Regeln. Ballauf darf als Beteiligter nicht ermitteln und steht da wie ein alkoholisierter Knallkopp. Man sieht die Wahrheit vor lauter Verordnungen nicht. Mit der kriminellen Energie und Raffinesse aus gutem Haus stammender Jugendlicher, böser Kinder, kommt diese Gesellschaft nicht zurecht. Auf der einen Seite der bürokratische Apparat, auf der anderen die ausgekochten jungen Regelverletzer. Du musst dein Leben ändern, schrieb Peter Sloterdijk. Ja. Oder anders: Wir müssen unser Leben ändern. Sieht aber so aus, als würde es uns nicht gelingen.

Selten habe ich einen Tatort gesehen, der bis in die letzte Rolle derart perfekt besetzt war.