Archiv

Archive for Mai 2014

Viel Lärm um eigentlich nichts

Wer hat gestern noch gewonnen beim ESC? Conchita Wurst. Der Österreicherin in Anführungsstrichen mit dem Bart. Ist alles Wurst oder Wurscht – das wurde des Öfteren gesagt und getwittert. Der Song war volles Pathos, Festivalsound. Warum hat Conchita gesiegt und das auch noch so eindeutig? Wer kann das wissen. Das Schlagereuropa rühmt sich seiner Toleranz. Will nach den Länder- auch die Geschlechtergrenzen überwinden. Und in der Schlagerwelt den Alltag, das normale Leben, die Routine vergessen. Conchita ist ein Fabelwesen aus Fleisch und Blut, nahe am Mythos. Die ehrlich Ergriffene musste gestützt und gelenkt werden, als sie zum Triumphgesang auf die Bühne ging, aber da, beim Singen, war sie wieder voll da.

Wenn man von den Schlagern ausgehen will, muss man sagen, dass Europa wohl auf dem falschen Weg ist. Diese krampfhafte Suche nach Einfällen, Sidekicks, Nebengeräuschen, die mit der Sache nichts zu tun haben von Trapezen über  Männerballette zu Butterfässern. Diese gepumpte Leidenschaft, die triefende Melancholie, die hysterischen Zuckungen, diese Selbstverliebtheit, die höchst unglaubwürdig ist. Und fast alle sind sie Kopisten, jeder kopiert irgendwen. Von diesen Liedern wird nichts bleiben, die werden nicht irgendwann Oldies but Goldies sein. Die Schlagerweisen aus den deutschen Medien gaben The Common Linnets aus den Niederlanden mit „Calm after the Storm” keine Chance, weil man Countrymusik hier nicht schätze. Aber es zeigte sich, dass die Genres unwichtig sind, wenn der Song und die Präsentation stimmen, und das war hier so. Die schlichten Niederländer wurden zweite.

Deutschland, Elaiza, landete wieder mal im letzten Drittel. Kann man auch fragen warum. Das sind drei begabte Mädchen, lustig, romantisch, noch ganz entzückt von ihrem unerwarteten Erfolg im nationalen Wettbewerb, der Song hatte Schwung, war aber vielleicht ein wenig harmlos, wie das meiste eben auf diesem Eurovision Song Contest in Kopenhagen. Was ist eigentlich aus den großen Schlagerländern geworden: United Kingdom, Frankreich, Italien, Spanien. Sie spielen keine Rolle mehr. Frankreich wurde mit zwei Pünktchen regelrecht abgestraft für seine bunte Deppennummer. Respekt für die diskrete Kamera, die sich nicht an der Enttäuschung der Abgeschlagenen im Sängerlager weidete.

Der Blumenacker

Innovationen auf dem flachen Land © Christian Brachwitz

Innovationen auf dem flachen Land
© Christian Brachwitz

Ich erinnere mich an einen Satz, der mich beeindruckte, wenn er auch nicht zu hundert Prozent positive Assoziationen weckte: Alle reden von Geschäftsmodellen, wir haben eins. Der Mann, der ihn sagte, musste alsbald feststellen, dass sein Geschäftsmodell alles Mögliche einbrachte, nur kein Geld. Wer wirklich ein funktionierendes Geschäftsmodell hat, hält lieber den Mund. Der Blumenacker, den wir hier sehen, gibt sich lobenswert bescheiden. Blumen zum selbst schneiden. Ein alter Pausenwagen, mit Blumen, Schmetterlingen und Wiese bemalt. Gladiolen kosten 60 Cent, Dahlien 30, Lilien 120. Als Lilie wäre ich stolz, als Dahlie wäre ich beleidigt. Als Kunde würde ich so tun, als könnte ich nicht zwischen Dahlie und Lilie unterscheiden. Oder auch doch. Ich würde, wie gefordert, sorgfältig schneiden und den entsprechenden Betrag in die Kasse einwerfen. Und ich würde das Gefühl haben, dass es nicht mehr weit ist bis zum Kommunismus. Jeder nach seinen Bedürfnissen. Auch den letzten Satz auf der Tafel würde ich unterschreiben: Nur bezahlte Blumen bringen Freu(n)de! Oder enthält er eine halb heimliche Drohung? Ach was. Wir bezahlen, auch wenn keiner aufpasst.

Der Hansi, der Andi und ich

Die Fußballweltmeisterschaft naht. Der Bundestrainer tritt, zurückhaltend vornehm gekleidet, in den heiligen Hallen der DFB-Zentrale in Frankfurt am Main vor die Journalisten, um den erweiterten Kader des deutschen Teams öffentlich zu machen. 30 Kicker, von denen demnächst sieben noch aussortiert werden müssen. Die Namen verkündet allerdings nicht Joachim Löw, sondern ein offizieller Stadionsprecher oder Marktschreier. Es hört sich so an, als hätte jeder gerade einen großen Titel gewonnen. Überraschungen bleiben aus. René Adler wird nicht dabei sein, Heiko Westermann wird nicht dabei sein, Max Kruse wird nicht dabei sein, Mario Gomez wird nicht dabei sein. Wie soll man auch jemanden zur Weltmeisterschaft schicken, der in dieser Saison vielleicht gerade mal sieben, acht Spiele gemacht hat. Und selbstverständlich wird auch der Stefan Kießling nicht dabei sein. Da ist der Trainer eisern; das wissen die Journalisten, da fragen sie gar nicht mehr nach. Aber nach Gomez muss sich ein Biedermann noch erkundigen, obwohl der Fall klar auf der Hand liegt. Vorab hat Manager Oliver Bierhoff in seiner langweilig-zuversichtlichen Manier einen Film über das WM-Quartier moderiert. „Wir sind flexibel. Wir lamentieren nicht. Wir freuen uns einfach, hier zu sein.” Der Bundestrainer wiederum sagt mit badischer Zunge, dass wir nicht den nationalen Fußballnotstand ausrufen müssen (hatte auch keiner vor). Man freut sich „wahnsinnig” auf das Vorbereitungsspiel gegen Polen, auch wenn der Kern des Teams (die Kicker vom FC Bayern und vom BVB) nicht dabei sein wird. Hinter jedem nominierten Spieler steht ein klares Ja, da sind sich „der Hansi, der Andi und ich” (der Jogi) einig. Der Sami (Khedira) ist eine Ausnahme, der ist ja gerade erst von einem Kreuzbandriss genesen und kann noch nicht in Hochform sein, aber man will auf ihn nicht verzichten auf Grund seiner starken Persönlichkeit und seiner herausragenden Fähigkeiten. Es geht familiär zu beim DFB, so betreten auch fünf Vertreter des zahlenmäßig mächtigen Amateurlagers die Bühne und geben im Namen aller deutschen Fußballfreunde dem Team die besten Wünsche mit auf den Weg nach Brasilien. Eine Aktion, deren Hintersinn man nicht so ganz versteht, wenn sie denn einen hat. Aber den Hansi, den Andi und mich (den Jogi) wird’s trotzdem freuen.

Wer denkt an Bernard Malamud

Die Ausgabe von 1970. Einbandentwurf Lothar Reher

Die Ausgabe von 1970. Einbandentwurf Lothar Reher

Ich habe an Malamud gedacht und ihn dann für den entscheidenden Moment seines 100. Geburtstags (korrekt seines 101.) wieder vergessen. Das war am 26. April. Dabei war er mir mal so nah wie kein anderer Schriftsteller. 1970 erschien sein Roman „Ein neues Leben” bei Volk und Welt, Lizenzausgabe von Kiepenheuer & Witsch für die DDR. Mich hatte gerade ein Unglück getroffen. Ich musste zur Armee, mit 26 Jahren, zwei Monate später und ich wäre ihnen entwischt. Anderthalb Jahre Grundwehrdienst. Kommt man da heil wieder raus? Ich lag auf dem oberen Doppelstockbett und las Malamud.

„Gegen Abend des letzten Sonntags im April 1950 entstieg S. Levin, ein früherer Trinker, nach einer langen und ermüdenden Reise quer durch den Kontinent dem Zug: er war in Marathon, Cascadia, angelangt.”

Kann ein Roman besser anfangen? Hier war ein Mann, dem ging es auch nicht besonders gut.

Am Bahnhof wartet die Frau, die Levins Schicksal werden soll, verheiratet, apart und – die Natur hat es so gewollt – busenlos, Pauline Gilley. Ihr Mann, Dr. Gerald Gilley, ist erschrocken über Levins Bart, einen Bart trägt sonst niemand an dieser kleinkarierten Provinzuniversität, an der Levin lehren und ein neues Leben beginnen möchte. Das Entscheidende am Eingangssatz war für mich die Einfügung „ein früherer Trinker”, als sei das ein Beruf, den man auch wieder aufgeben kann, wenn man will. S. Levin oder Sy oder Seymour ist ein Unglücksrabe, der sein Unglück bändigen kann, ein Dompteur des Unglücks, müde, einsam und zäh. Als Levin nach langer Enthaltsamkeit den Geschlechtsverkehr mit einer Kellnerin vollziehen will, dringt ein Rivale in den nächtlichen Kuhstall ein, wohin sich die Brünstigen verkrochen haben, und stiehlt Levins Kleidung. Levin scheitert in der Liebe, er scheitert im Beruf, und das Tragische ist, dass der ernste Mann dabei eine komische Figur macht.

„Ziellos fuhr er weiter und dachte traurig an die vielen Gelegenheiten, bei denen er versagt, an die vielen falschen Wege, die er eingeschlagen hatte, an die Vergeblichkeit seiner Reise; da, plötzlich witterte er den Geruch des Meeres.”

Am Ende kann das neue Leben doch beginnen: mit vielen Belastungen.

Bernard Malamud war ein Sohn russisch-jüdischer Einwanderer. 1914 in New York, Brooklyn, geboren, 1986 in Manhattan gestorben. Philip Roth versuchte, mit Malamud befreundet zu sein und war es dann auch auf eine schwierige Art. Er sagt, dass Malamud nicht wie ein Künstler, sondern wie ein Versicherungsangestellter aussah. Am stärksten verwunderte ihn, dass Malamud ohne jede Heiterkeit war, obwohl sich in seinen Büchern komische Stellen fanden. In fünfundzwanzig Jahren erzählte ihm Malamud ganze zwei Witze, jüdische Witze. Er hatte ein schweres Leben, „die Verlorenheit des Juden im Land der Christen” prägte ihn. „Ich achte den Menschen für alles, was er im Leben durchzumachen hat.” Selbst Roth hatte Schwierigkeiten, Malamud zu verstehen und zu beschreiben, er schrieb in der New York Review of Books einen Essay über seine Texte; das wäre dann um ein Haar das Ende ihrer Freundschaft gewesen. Als sie sich zuletzt sahen, litt Malamud an den Folgen eines Schlaganfalls. Er war deutlich geschwächt, nicht Herr über seine Körper- und Geisteskräfte, aber er wollte Roth die ersten Kapitel seines Romans vorlesen (was er nie vorher getan hatte), durch das Urteil des Kollegen Hoffnung schöpfen. Roth wollte seinen kranken Freund nicht anlügen, aber er konnte auch nicht die Wahrheit sagen, und so kam etwas heraus, das Malamud nur noch mehr leiden ließ.

In den siebziger Jahren erschienen die Bücher Malamuds in schneller Folge bei Volk und Welt. Aber den Verlag gibt es nicht mehr. Und Kiepenheuer & Witsch, Malamuds eigentlicher deutscher Verlag, hat seine Werke offensichtlich aus seinem Programm genommen. An seinen 100. Geburtstag hat sich, so weit ich sehen kann, niemand an ihn erinnert. Ein Schicksal, das Malamud vermutlich vorausgesehen hat und das ihn doch auch schmerzen würde, wüsste er davon. Weiß er?

Was wird aus Franz Leitmayr

Wir erinnern uns, dass irgendwann Kommissar Leitmayr (Udo Wachveitl) seinen Kollegen Batic (Miroslav Nemec) nicht mehr verstand, weil der sein Gedächtnis verloren hatte und plötzlich selbst verdächtig war. Nun wird, „Am Ende des Flurs”, Leitmayr vom Mordfall Lisa Brenner abgezogen, denn die Lisa war einst seine Geliebte, was der blass gewordene Leitmayr Franz verschweigt, bis einer der Verdächtigen es ihm auf den Kopf zusagt. Da fragt der Batic Ivo sich, ob sein Kollege und Freund total verrückt geworden ist und der allzeit hochnervöse Polizeichef Dr. Lammert („Wir haben nichts. Nur Tote.”) dreht erst recht durch. Leitmayrs Fehlverhalten ist nachvollziehbar. Songs von Johnny Cash haben die Liebe von Lisa und Franz begleitet, aber nun erfährt er, dass seine Geliebte eine Edelprostituierte war, Nutte, schlicht gesagt; das steckt auch ein hartgesottener Kommissar nicht weg, zumal ihn die Frau kurz vor ihrem Tod angerufen hat, weil sie Hilfe brauchte: „Verstehst du? Ich hab nicht zurückgerufen! Weil alles in diesem Drecksleben immer wichtiger ist.” Was mich an diesem Münchner Tatort irritierte, war das übertrieben Melodramatische der Inszenierung. Es musste viel untergebracht werden in diesen neunzig Minuten: zwei Berufsanfänger im Kommissariat, die Stammkunden (besonders ungebärdig Franz Xaver Kroetz) der Nutte und schließlich eine Messer und Hämmer schwingende Psychopatin. Ob da der suspendierte und auf eigene Faust ermittelnde Leitmayr Franz mit dem Leben davongekommen ist, wissen wir noch nicht genau. Und die Herrschaften in der Redaktion des Bayrischen Rundfunks scheinen sich auch noch nicht einig zu sein. Vielleicht wollen sie auch mal Täter sein.

Der Beherrscher des Paradieses, mein Großvater

Der Mann aus der anderen Zeit Foto: Archiv Brachwitz

Der Mann aus der anderen Zeit
Foto: Archiv Brachwitz

Wir verließen den Bahnhof, gingen kreuz und quer durch neue, später ältere Straßen in die Vorstadt, standen schließlich vor einem Tor aus Draht und Eisenwerk. Das war einmal das Tor zum Paradies, meinem Paradies. Vor dem Eingang des roten Backsteinhauses war eine massive Veranda. Dort gab es leuchtende Nachmittage. Auf weißen Hemden lagen wie kleine Reptilien die Lederschlipse meiner Familie. Die weiße Holzbank wurde vom rankenden Wein grün gefärbt. Kaffee und Kuchen vom Blech wurden serviert, später gab es Bier und Kümmel. Im Kristallaschenbecher qualmten Casino und Jubilar. Ich bekam Sandkuchen und verschwand im Garten. Da bin ich aufgewachsen zwischen Unkraut und Mohrrüben, die gedüngt wurden mit dem Mist aus den Dörfern vor der Stadt. Weit hinten markierte eine brüchige Wand das Ende der Welt oder den Anfang. Aus Flemmings Keksfabrik wehte ein süßer Geruch herüber, wenn der Wind günstig stand, das war meine Nahrung. Ich hörte den Spargel wachsen und zählte die Züge, die hinter der Mauer vorbeifuhren. Drehte der Wind, roch es nach Melasse von Rüben, nach Sprit und so Zeug. Das große Werk schluckte jeden Tag einen Zug Kohlen. In diesem Reich zwischen Sprit und Keksfabrik, zwischen Moloch und Wundertüte, bildete das Glashaus das Zentrum des Paradieses. Die Mitte hob sich zehn Meter in die Höhe und formte sich durchsichtig zu einer Spitze. Rechts und links sowie nach hinten dehnte es sich fünfzig Kinderschritte, ein Gang aus Glas, Afrika, Urwald, Palmen, Kakteen und Kletterpflanzen wucherten dort in feuchter Luft. Da hatte ich meine Abenteuer. Spinnen, Käfer, Würmer und Mäuse waren die Attraktionen. Ich gab ihnen Namen und versuchte die Dressur.

In regelmäßigen Abständen verschwanden die Palmen. Ich flüchtete in die Erdbeerfelder oder lachte im Winter über den Rosenkohl, der absurd aussah wie Gartenzwerge. Die Grünpflanzen dienten bei großen Ereignissen in der Spritfabrik als Bühnendekoration. Der Alte, der Beherrscher des Paradieses, mein Großvater, hatte ein Abkommen mit den Arbeitern aus der Fabrik. „Justaff, wir machen dich Dampf, und du jibbest uns Afrika vor de Bühne.” Mit Zigarre und schwergoldener Uhrkette kam Gustav natürlich aus einer anderen Zeit. Diese Zeit erklärte ich mir wie ein anderes Land, denn mein Großvater sprach Latein mit seinen Pflanzen und machte sie grün. Als andere braune Lieder sangen, züchtete er bunte Kanarienvögel und sprechende Papageien, ein politischer Kopf, der seinen Spitz in die Kneipe schickte, Zigarren holen. Eine Seele von Mensch, sagten der Bäckermeister, der Hauptbuchhalter, der Friseursalonbesitzer und der Vereinskamerad vom Kanarienvogelzuchtverband. Sie hoben die Gläser und kümmelten heftig. Großvater verstand sich mit Knollen und Konsorten aller Art und bekam für seine Verdienste um Sellerie und Petersilie eine Tropenreise geschenkt. Die Seele von Mensch auf großer Reise, sein Strohhut begann zu leuchten. Einfach tropisch, stand auf den Karten, die uns erreichten, einfach tropisch ohne Glashaus, ohne Dampf und die ganze Wirtschaft, phantastisch. Als er wieder zu Hause war, zog er sich einen grauen Kittel über, stopfte sich ein Päckchen Stumpen in die Tasche und verschwand im Gewächshaus. Die Pflanzen blühten von da an beständig über das ganze Jahr. Vermutlich hat er ununterbrochen Latein mit ihnen geredet und sich einfach überzeugt.

Text: Christian Brachwitz

Die Fehlbesetzung mit der roten Weste

Nun muss ich natürlich noch sagen, wem ich es verdanke, dass ich das grandiose Match zwischen Bayern München und Real Madrid (zur Erinnerung 0:4) in voller Länge anschauen konnte, denn eigentlich wollte ich die Lesung zum 75. Geburtstag von Volker Braun in der Akademie der Künste erleben. Also, ich verdanke das Match dem Mann am Officetresen in der Akademie, der einfach nicht in der Lage war, die bestellten Karten herauszugeben. Dabei war er noch nicht mal senil, sondern in den besten Jahren mit etlichen Haaren auf dem Kopf und sonnte sich im Glanz seiner kleinen roten Weste. Er schaute nur kurz und zerstreut auf die Datei und die Liste und schickte mich dann zu der Dame, die die Ehrenkarten verteilte. Was? Ich? Eine Ehrenkarte? Hat sich etwas grundlegend geändert in Deutschland? Nein. Ich stand nicht auf der Liste mit den Ehrenkarten. Also zurück zu der Fehlbesetzung mit der roten Weste. Ich kann sagen, dass ich nicht der einzige war, dem er die bestellte Karte nicht herauszugeben vermochte, ich stand da unter lauter hochgradig erregten oder zutiefst deprimierten Leuten, die nicht wussten, was ihnen geschah. Und da hatte der Mann mit der roten Weste einen grandiosen Einfall. Er kümmerte sich konsequent nicht mehr um seine Kunden, sondern begann, etliche Dutzend 1-Cent-Münzen noch nicht einmal zu zählen, sondern hin und her zu schieben und nach einem geheimnisvollen System zu sortieren, als wäre das jetzt die wichtigste Sache der Welt, wichtiger als die Ukraine, wichtiger als Volker Braun und wichtiger vor allem als Leute wie ich, die sich sowieso in einem schwierigen Gemütszustand befanden, weil ihnen wegen ihrer verdammten kulturellen Interessen ein wichtiges Fußballspiel entging. Der Mann war von seinen winzigen Münzen nicht mehr abzubringen. Woher kamen die überhaupt? Der Eintritt kostete doch 5 € glatt? Er war regelrecht verzaubert. Leb wohl, Akademie der Künste und der Dünste, dachte ich, leb wohl mit deinen braven Mitarbeitern, mich siehst du lange nicht mehr. Rechtzeitig zum Anstoß war ich zu Hause, und das Bier war kaltgestellt. Ich war glücklich. Aber wenn ich Bayern-Fan wäre, wäre ich verdammt schnell unglücklich geworden. Mehr will ich nicht verraten.