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Archive for Oktober 2014

Die Braut war viel zu allein

Heiraten in Paris © Christian Brachwitz

Heiraten in Paris
© Christian Brachwitz

Der Fotograf fotografiert einen (Smartphone-)Fotografen, der eine Braut fotografiert. Irritierend ist schon, wie allein sie ist, mitten in Paris. Niemand, der die Schleppe hält. Die Herrichtungen für den schönsten Tag im Leben müssen perfekt gewesen sein, die Frisur, die Krone, der Brautstrauß, das nicht enden wollende Kleid. Das Gitter stört. Es macht die Braut zu einer Unnahbaren, Unberührbaren. Es lässt daran denken, dass die Ehe auch ein Gefängnis sein kann. Welches Mädchen hat heute noch eine festen Freund, sagte mal ein Mädchen, das dann doch bald eine Braut wurde und nicht viel später eine geschiedene Frau. Alleinerziehend mit Kind. Der Mann mit dem Smartphone kann die Braut als freie Frau fotografieren. Als freie und traurige Frau. Mit den Gedanken ganz woanders. Na klar, er ist der Bräutigam. Ich aber kann keine Braut sehen, ohne an Gottfried Benns Gedicht zu denken: „Sie aber lag und schlief wie eine Braut: am Saume ihres Glücks der ersten Liebe und wie vorm Aufbruch vieler Himmelfahrten des jungen warmen Blutes.” So mächtig ist die Poesie.

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Integration: eins

Unsere Straße am Abend. Schon ziemlich unheimlich, wa?

Unsere Straße am Abend. Schon ziemlich unheimlich, wa?

Als die Nüsse fielen (was in diesem Jahr ziemlich zeitig geschah), stand ich bei den Mülltonnen (oder Wertstoffbehältern?) und befreite die Walnüsse von ihren durch die Nässe geschwärzten Schalen.

Die Straße herunter kam ein Bürger mit Migrationshintergrund und sprach unentwegt ins Handy, was ihn nicht hinderte, die Nüsse, die auf die Straße gefallen waren, in eine Plastiktüte zu sammeln. Manchmal sang er auch, ob nun ins Handy oder einfach so, erschloss sich mir nicht. Ist alles okay?, fragte er mich. Was soll nicht okay sein, sagte ich. Das brachte ihn zum Lachen. Lecker, lecker, lecker, rief er. Er warf die Nüsse mit voller Kraft aufs Pflaster, damit sie platzten, klaubte die Frucht aus den Schalen, steckte sie in den Mund und rief orgiastisch dieses lecker, lecker, lecker. Ich sagte, dass die Schalen die Finger verfärben würden und man das schlecht reinigen könnte. Das schien ihm etwas die Laune zu verderben. Er fragte mich aus, ob ich allein wohne und ob meine Kinder in der Schule seien, nein, sagte ich gewitzt, meine Kinder sind schon groß und arbeiten. Er kam aus Pakistan, sei neun Jahre in Deutschland, lebe allein. Er hatte urplötzlich die Lust an den Nüssen verloren und wollte mir zweimal die Tüte rüberreichen. Nein, nein, sagte ich, selber sammeln, selber essen, lecker, lecker. Das machte ihn irgendwie schwermütig, und er zog ab. Dann sah ich ihn nicht mehr, hörte aber noch seine Lieder.

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Das Ich und das Unter-Ich

Die Kinder waren hin – und weg. Forum-Center Berlin Köpenick

Die Kinder waren hin – und weg. Forum-Center Berlin Köpenick

Ich habe das Idealgewicht, aber nicht die Idealfigur.

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Der Rentner in mir ist noch nicht erwacht. Rentner sind die immer die anderen.

*

Es ist das Vorrecht des Alters, Unfug zu reden. Ich fange auch schon damit an.

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In meinem Leben geschieht nichts. Aber in meinem Fernsehapparat.

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Zu meiner Verwunderung bin ich auf dem Weg, Nichtalkoholiker zu werden. Jetzt fehlt noch der Fernsehverzicht.

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Hilf uns, oh Fernsehen, dass die Zeit vergeht, ohne dass sie uns drückt und quält.

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Es ist ein verdammter Irrtum zu glauben, dass das Internet einem Gesellschaft leisten kann.

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Warum setzen sich im Zug immer dicke Frauen neben mich? Ich habe keine Bewegungsfreiheit.

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Ich unterhalte mich doch nicht mit wildfremden Menschen über so was Intimes wie das Wetter.

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Es gibt Unfreiheiten, mit denen ich sehr gut zurecht komme, und Freiheiten, mit denen ich nichts anfangen kann. Natürlich kenne ich auch Unfreiheiten, die ich nicht ertrage, und Freiheiten, die ich genieße.

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Ich bin kein Gesamtkunstwerk.

Hat auch keiner behauptet.

Ja. Das kommt noch hinzu.

Der Großmuttervergleich

Katzen sind nicht immer ansprechbar

Katzen sind nicht immer ansprechbar

Schon beängstigend, wie oft Lena Odenthal, die – wie mir jetzt bewusst wird – dienstälteste Tatort-Kommissarin, sich den Puls fühlt, wie wenig sie läuft, wie unergründlich ihre Augen und wie tief die Augenringe sind. Und schon empörend, wie die Verdächtigen sich für Odenthals Fragen rächen, indem sie einfach frech oder – noch schlimmer – persönlich werden: Sind Sie verheiratet? Sie haben wohl keinen abbekommen?! Usw. Lena Odenthal geht es schlecht in diesem „Blackout”-Tatort aus Ludwigshafen, einer gar nicht mal so kleinen Stadt an Rhein und Neckar mit 150 000 Einwohnern, einem beeindruckenden nächtlichen Lichtermeer und einem gelb-violetten Tageshimmel. Ihre gesundheitlichen Beschwerden könnten psychische Ursachen haben; Odenthals Lebensgefährtin, eine Katze, reicht nicht hin, um das Gefühl überschwappender Einsamkeit zu verscheuchen. Im Gegenteil. Es gibt die Horrorvision, dass die Kommissarin in ihrer Wohnung stirbt, was niemandem auffällt, und die Katze, wenn das Whiskas oder was auch immer aufgefressen ist, an ihrer toten Herrin zu nagen beginnt. Das klingt vielleicht bizarr oder lächerlich, aber Ulrike Folkerts bringt es glaubhaft rüber. Sie ist in den 25 Jahren ihres Dienstes für uns zu einer Person geworden, der man alles glaubt, es sei denn, sie sagt: Mit geht’s gut. Zu Odenthals schlechtem Allgemeinbefinden kommen noch die Probleme mit der Urlaubsvertretung ihres Kollegen Kopper hinzu: Johanna Stern, eine junge, forsche, zackig unsensible Fall-Analytikerin, die ständig mit ihrem technischen Equipment herumjongliert und nicht mal hinter einem Verdächtigen herlaufen mag, weil sie sich auf ihre Unsportlichkeit einiges zugute hält, die aber auch letzten Endes nicht doof ist und manchen richtigen Faden aufnimmt. Ein interessantes Angebot der Darstellerin Lisa Bitter. Odenthal muss von dieser Exponentin einer karrierebewussten Generation vieles schlucken, eines bittet sie sich dann aber doch entschieden aus: Vergleichen Sie mich nie wieder mit Ihrer Großmutter! Es ist das Problem vieler Tatorte, dass am Anfang deutlich mehr an Informationen ausgestreut wird, als der Zuschauer gebrauchen kann. Plötzlich werden dann Dinge wichtig, die man am Anfang übersehen hat. Hier rückte ein USB-Stick mehr und mehr in den Mittelpunkt der Handlung und brachte die Lösung des Falls. Dem hatte man gar keine Beachtung geschenkt. Kommissar kann eben nicht jeder werden. Fußballtrainer schon.

Wo die Vögel Fische klauen

Schwedt 1989. Die Ruhe vor dem Sturm © Christian Brachwitz

Schwedt 1989. Die Ruhe vor dem Sturm
© Christian Brachwitz

Was man hier nicht sieht: Schwedt ist nah am Wasser gebaut. Am Wasser der Oder. Du musst den Flüssen trauen. Du musst ihnen ihren Lauf lassen. In Schwedt haben sie das dann getan. Sie haben da den Nationalpark Unteres Odertal geschaffen. Du bist eben noch mitten in der Stadt, in so einer Straße wie hier zu sehen, du trittst einen Schritt zur Seite und bist plötzlich in einer anderen Welt, ich wage es, in einer archaischen Welt zu sagen, es zirpt und tschilpt, die Gräser wuchern, der Fluss hat, was er braucht, seinen Auslauf, man nennt es Polder, die Vegetation ist üppig, die Vögel krakeelen wie verrückt, und auf der anderen Seite ist Polen, du kannst über die Brücke gehen, billig tanken, billig dir die Haare schneiden lassen. Brachwitz’ Bild verheimlicht das gekonnt, ein Bild ist immer nur ein Ausschnitt, lässt eher an die Industriestadt denken, die auch eine Theaterstadt ist, an das Petrolchemische Kombinat Schwedt, wo das Erdöl aus der Sowjetunion nach seiner lange Reise ankam und verarbeitet wurde, eine Papierfabrik gab es auch, und die Bauern bauten sogar Tabak an, um noch einmal und sicher nicht zum letzten Mal auf das Leben der Raucher zurückzukommen, selbstangebauten Tabak würde ich vielleicht auch wieder rauchen, und waren es nicht die geschützten Kormorane, die den Fischern die Fische stahlen und zu einem Protest führten? Das ist es, was ich gerade noch über Schwedt weiß, eine Stadt, die besser ist als ihr Ruf. Die Frauen sind hier nicht eleganter als überall, Halteverbot wird verhängt von 15 bis 18 Uhr, und der Pfahl des Verkehrsschilds geht mitten durch den spazierenden Mann hindurch, weil es sich gerade so ergibt. Alles im Jahr 1989. Klar. Der Nationalpark kam später. Das Schrumpfen der Bevölkerung ebenfalls. Von 50 000 auf 30 000. Schwedt darf sich dafür Nationalparkstadt nennen.

Aufruhr in der Biblio

Erschöpfungszustände nach dem Bibliotheksbesuch

Erschöpfungszustände nach dem Bibliotheksbesuch

In der Biblio gab es wieder einen kleinen Aufruhr. Wie damals, als ein junger Mann zu einer Frau, die sich von ihm gestört fühlte, dumme Kuh sagte, und sie ihn irgendwie stellen wollte, erreichen, dass irgendwas mit ihm gemacht wird, Polizei, Arm auf den Rücken drehen oder dass er sich auf die Knie begibt und sich entschuldigt. Jedenfalls hielt sie ihn fest und zerrte an ihm rum. Mehr kam nicht dabei heraus. Schließlich erlahmte ihr Arm.

Diesesmal war es ein Mann in einem gelben Anorak. Seine Bekannte, die einen halben Kopf größer war als er, hatte sich ein paar Meter von ihm separiert. Er hatte sich längst auf die Mitarbeiterin am Infotisch fokussiert, die einige Bücher für ihn rausgesucht hatte. Er sah sich die Titel mit hochgezogenen Augenbrauen an und sagte hochnäsig: Hören Sie, hier ist etwas fürchterlich schief gelaufen, ich wollte etwas über Nanotechnologie. Das hat doch nichts mit Nanotechnologie zu tun.

Sie suchte weiter, und er beanstandete wieder, dass das, was sie rausgesucht hatte, abermals nicht im Geringsten etwas mit Nanotechnologie zu tun habe, und was sie denn da ständig für ein Zeug hervorkrame. Von Nanotechnologie haben Sie so viel Ahnung wie ein Ochse von der unbefleckten Empfängnis.

Daraufhin wurde sie rot und sagte, dass sie ihm helfe, aber nicht so. Nicht auf diese Art.

Nun wieder er. Das passe ihm nicht: Sie haben einen penetrant undemokratischen Ton an sich.

Damit hatte er sein Credo gefunden. Er wiederholte zwanzigmal in unterschiedlichen Konstellationen diesen Satz vom undemokratischen Ton, dann forderte er wiederum, dass sie ihm das Buch raussuchen solle: Das ist doch Ihr Job, Sie beherrschen Ihren Job nicht, und immer wieder: Das ist so ein undemokratischer Ton, als wäre das für einen Feingeist und Nanotechnologen in spe wie ihn eine Folterung.

„Der Nanotechnologe/Ist heut bestimmt auf Droge.”

Man hätte ihm einen undemokratischen Tritt in seinen Nanoarsch verpassen sollen.

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Berlin Alexanderplatz (13): Der Senegal singt

Der Mann bestaunt den Platz, die Frau bestaunt den Mann. Links außen: Sagenhaft, wie kleine manche Damen sind

Der Mann bestaunt den Platz, die Frau bestaunt den Mann. Links außen: Sagenhaft, wie klein manche Damen sind

Ich laufe mit einer Schachtel Fish ’n’ Chips (ohne Sauce) über den Alexanderplatz, habe noch Zeit, aber nicht viel. In der Mitte des Platzes zwischen Weltzeituhr und Kaufhof steht der angebliche Schotte mit Kilt, Baskenmütze und Dudelsack. Er verfügt über die seltene Begabung, fast immer den falschen Ton zu treffen. Die Leute sind not amused. So viel Niveau gibt es noch in Deutschland.

Abass’ Songs haben den Tag gerettet

Abass’ Songs haben den Tag gerettet

Das Oktoberfest ist abgeräumt. Der Platz hat seine Weite wieder. Dicke Männer aus der Provinz mit Stock und Stauneaugen als hätten sie es geschafft bis ins Herz der Welt. Das ist der Alexanderplatz nun auch wieder nicht, wir geben es zu. Dicke Männer aus der Hauptstadt mit Bart, Glatze und Kapuzenshirt. Eine Lorelei mit hüftlangen blonden Haaren und weinrotem Schlapphut. Am Womacka-Brunnen sitzen die pflastermüden Touris mit einem guten Buch, mit einer bösen Plastiktüte und mit ungewaschenen Stoffbeuteln und sehen dem Sänger zu, der mit gekreuzten Beinen auf den Stufen sitzt und in die Saiten greift. Bald erfahren wir: Der Sänger kommt aus dem Senegal. Hat eine seltsame hellblaue Ballonmütze auf dem Kopf. Neben ihm steht ein kleiner Verstärker für die Gitarre und ein rotes Minifahrrad. Seine Lieder sind schnell, fröhlich und stabil. Es dauerte nicht lange, und die ersten Münzen werden in ein langes afrikanisches Schälchen geworfen, das in seinem Gitarrenkoffer liegt. Er bedankt sich und lacht. Seine Stimme ist heiser und biegsam wie eine Weidenrute. Manchmal fotografieren ihn sechs Leute gleichzeitig, und die Münzen fallen weiter. Ein Mann, der sich für einen Cowboy hält, baut sich neben ihm auf. Sehr distanziert. Möchte lieber Countrymusik hören. Eine Taube trippelt zur Musik dahin. Wer jung ist, hat in der Regel Primarktüten in der Hand, man meint, sie sollten glücklicher aussehen mit ihren Schnäppchen. Ich bin Abass, die Songs habe ich geschrieben, sagt der Sänger , ich spiele sonst mit meiner Gruppe Helele, das heißt Krawall, aber positiv. Du bist auch positiv, sagen wir, er lacht. Kann nicht widersprechen.

Die Sänger sollen fotografiert werden

Die Sänger sollen fotografiert werden

 

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Arroganz macht blöd

Das Laub ist ab. Geht’s noch verworrener? © Emilia Thalheim

Das Laub ist ab. Geht’s noch verworrener?
© Julia Thalheim

Der Münchner Polizeiruf von Dominik Graf mit Matthias Brandt als leicht übergewichtiger, schwermütig-sanfter Kommissar Hanns von Meuffels war nur zum Teil enttäuschend. Warum der Film „Smoke on the Water” hieß, war unklar. Um ein bisschen Deep Purple zu spielen. Oder weil man besser einen fremden Titel benutzt, wenn man selbst keinen guten findet? Adel trifft Adel. Von Meuffels trifft von Cadenbach, den mächtigen Politiker in Bayern und großen Strippenzieher, der starke Rückenschmerzen bekommt, wenn er nicht mindestens einmal am Tag Sex hat (sagt er). Ein herrischer, unbeherrschter, gut aussehender und fieser Typ. Unentwegt wird gegen ihn demonstriert, wobei die Demos wie Gespensteraufzüge wirken.

In diesem Polizeiruf auch, wie in allen von-Meuffels-Polizeirufen, knistert es erotisch, wenn der melancholische Single auf die Liebste der ermordeten Journalistin Ten Hoff trifft. Eine der überraschendsten Szenen, wenn sich die beiden die Narben früherer Verletzungen zeigen, da bleibt keiner der anderen etwas schuldig. Corry Hüsken (Judith Bohle), eben diese vielfach verletzte und vernarbte Frau, will mitermitteln, aber von Meuffels winkt ab: „Ich glaube, Distanz ist die Voraussetzung jeder Wahrnehmung.”

Arroganz macht blöd. Von Cadenbach sagt so hirnrissige Sätze wie: „Darf ich vorstellen: unser Sohn Holger Zacharias.” Es lässt sich nicht lange verheimlichen, dass er der Täter ist, es ging um Fördergelder, Abgeordnetenbestechung, schwarze Kassen, letztlich um Milliarden. Und da führt uns Dominik Graf, ein großes Rad drehend, zu den noch größeren Schurken, die ihrerseits von Cadenbach um die Ecke bringen wollen, weil er als Verdächtiger ihre Pläne gefährdet. Oder so. Es macht aber nicht viel Sinn und dramaturgisch keinen Effekt, wenn man diese ganz großen Verbrecher aus Politik und Wirtschaft einführt, die man im Dunkeln lassen muss, weil man nicht die narrative Kraft hat, sie zu definieren und zu beschreiben. Wäre besser gewesen, diese hohe (und hohle) Dimension wegzulassen. Dominik Graf hat genug Potential; es gibt auch hier wieder fabelhafte Bilder und fesselnde Szenen.

Kinder vom Land

Sie haben ihr Ziel erreicht. Und auch der Abstieg wird nicht allzu schwer. © Christian Brachwitz

Sie haben ihr Ziel erreicht. Und auch der Abstieg wird nicht allzu schwer.
© Christian Brachwitz

Auf dem flachen Land werden schon die Hügel zu Ereignissen, jedenfalls für uns Kinder, die wir mal waren. Wobei man nicht wissen kann, ob diese Anhöhe in der Altmark nicht nur der Rest einer Baumaßnahme ist. Die Natur verleibt sich das ein. Sie hat für solche Zwecke ein extra struppiges Gras entwickelt, das auch auf Beton und Eisen wachsen könnte. Auf der nördlichen Seite (sagen wir doch gleich: Eigernordwand) stechen die Bauern Material ab, wenn sie Lehm für ihre desolaten Scheunen brauchen. Da ist die Gefahr des Absturzes gegeben. Die Kinder sind ironischer als man denkt. Sie feiern die Gipfelstürmung wie die Helden der 8000er-Bergriesen. Nur an die Fahne haben sie nicht gedacht. Über den Wolken (und kurz darunter) muss die Freiheit wohl grenzenlos sein. Diese Kinder sind auch ohne Smartphone glücklich, sagt Brachwitz, jedenfalls in diesem Moment. Ansonsten wird es so sein, wie es immer war: Die Dorfkinder müssen mächtig arbeiten, auf dem Feld und im Stall. In der Schule setzten sie sich gern in die letzte Reihe und schliefen leicht ein.

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Das Leben ist auf der Straße

Finding Vivian Maier in den Hackeschen Höfen Berlin, schon ein paar Wochen her

Finding Vivian Maier in den Hackeschen Höfen Berlin, schon ein paar Wochen her. Die Fotografin, wie sie es gern hatte, im Schatten

Wer war Vivian Maier? Vor ein paar Wochen wusste das jeder, der in jenen Tagen ein bisschen Zeitung las. Und jetzt haben es die meisten schon wieder vergessen. Vivian Maier war ein Kindermädchen an verschiedenen Orten in Amerika. Eines Tages fand ein Mann namens John Maloof auf einem Flohmarkt einen Stapel von Negativen. Er nahm sie mit, scannte sie ein und entdeckte Fotos aus den fünfziger und sechziger Jahren, faszinierende Aufnahmen einer Frau, von der alle, die sie kannten, glaubten, sie sei ein Kindermädchen und nichts weiter.

Vivian Maier war da schon tot. Warum hat sie sich nie als Fotografin zu erkennen gegeben. Warum ist sie nicht zu Zeitungen gegangen. Warum hat sie keine Ausstellung gemacht. Warum hat sie die Welt und vielleicht auch sich selbst getäuscht.

Sie war eine Autistin. Vielleicht. Sie wollte nicht, dass jemand seinen Senf dazu gibt. Zu dem, was für sie offenbar das wahre Leben war. Sie fotografierte mit einer Rolleiflex. Sie stellte sich das Bild zurecht. Sie schaute die Leute an und dann wieder auf das Bild von ihnen in ihrem Apparat. Wenn man ihre Fotos sieht – die in dem Film, den John Maloof über sie gemacht hat, „Finding Vivian Maier” und die auf der Website – hat man den Eindruck, dass sie immer da war, wo etwas passierte, also, wenn sich ein Bild wie von selbst ergab. Das Leben ist auf der Straße. So muss sie gedacht haben. Ab und zu hat das Kindermädchen auch Kinder fotografiert, aber das war selten. Ab und zu hat sie auch sich selbst fotografiert, aber immer in Spiegeln, Schaufensterscheiben (draußen vor der Tür), einmal auch in der Radkappe eines VW. Oder als Schatten vor oder über dem eigentlichen Objekt.

Eine Frau mit knochigen Schultern und langen Beinen. Das Gesicht unauffällig, jungenhaft. Strähniges Haar. Streng, schwer zugänglich, in den Augen eine Frage, eine Duldung, eine Erwartung. Der größte Teil der Bilder zeigt New York und Chicago. Glückliches Land mit unglücklichen Menschen, weil eben das Land seine Glücksversprechen nicht erfüllen kann (damit muss man vorsichtig sein). Seltsames Licht. Zwischen Alltäglichkeit und Verhängnis. Bis zur Apokalypse kann es nicht mehr weit sein.

Du siehst das Geld, die Borniertheit und die Verlorenheit. Du siehst Trinker, Obdachlose, Vereinsamte, Exmittierte, Verrückte. Du siehst Kirk Douglas und Frank Sinatra. Wie kam Vivian Maier in ihre Nähe? Sie lebte in einem demokratischen Land. Ach, sie ging einfach gern zu Filmpremieren. Spartacus. Back Street.

Rauch dringt mitten in New York aus einem Haus. Ein Mann mit zwei primitiven Holzkrücken wird von zwei Männern in eine Tür gehievt. Passanten bleiben betroffen stehen. Neugier, Distanz, Mitleid und Ablehnung. Ein junges Paar auf Klapphockern vor einem versperrten Shop. Sie saugen verbissen an ihren Zigaretten. Wenn nichts mehr geht, rauchen kann man immer. Die Zigarette im Mundwinkel, das Haar mit Wasser gekämmt, das letzte weiße Hemd angelegt, ein zerfurchtes Gesicht. Jetzt sollte das Glück vorbeikommen, mehr kann man nicht dafür tun.

Eine Frau ist auf offener Straße umgekippt. Man hat ihren Kopf auf eine Zeitung gebettet. Ein Polizist beugt sich über sie. Erschrockene Frauen stehen daneben.

Dicke Autos, hagere Männer. Gangster mit kühnen Visagen, Schlips und Kragen. Turnender Bettler vor einem Showroom. Ein Mädchen repariert seinen Schuh. Ein Managergesicht in Stein gemeißelt, keine Gnade. Ein Betrunkener, dem die Beine wegknicken, wird weggeschleppt, der Wachmann und sein Boss haben die größte Mühe, den Mann loszuwerden. Winter im Park, die Menschen sind wie erstarrt, aber jetzt beginnt es zu tauen. Glücklose Paare, sie streiten sich, sie schweigen sich an.

Viel zu entdecken auf den Bildern von Vivian Maier. Was entdeckt man in Maloofs Film „Finding Vivian Maier” über sie? Das Kindermädchen war ein Single. Man weiß von niemandem, der ihr nahestand. Sie diente in einigen Familien, in einer war sie 17 Jahre, ansonsten scheint es nie lange gedauert zu haben. Die Kinder von damals lachen. Sie war sehr groß, mindestens zwei Meter, sagt eine Frau. Ach was, sagte die andere, eins achtzig vielleicht. Belustigt ahmen sie ihren Gang nach, einen sehr eckigen, resoluten, mit heftigen Armbewegungen. Wenn die Kinder bockten, konnte sie ungemütlich werden, Zwang ausüben, so, wie man wahrscheinlich zu ihr auch ungemütlich war in ihrer Kindheit. Sie war nicht sanft. Angeblich hatte sie französische Vorfahren, sie sprach mit französischem Akzent. Das war nur eine Marotte von ihr, sagt ein anderer Mann. Ihre Zimmer hielt sie streng verschlossen. Sie konnte nichts wegwerfen, keine Quittungen, keine Zeitungen, keine Notizzettel. Nichts von dem, was durch ihre Hände gegangen war, war für sie abgeschlossen. Alles war ohne Ende. Gedruckte Fotos wären für sie wohl ein Endpunkt gewesen. Die Öffentlichkeit lieferte ihr Bilder. Aber sie ihrerseits wollte nicht liefern. Sie schloss das festgehaltene Leben in ihre Zimmer ein.