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Archive for November 2020

Was ich im November so hörte und gleich wieder vergaß

Wo geht’s hier weiter
© FJK

Anni war eine der wenigen Kriegerwitwen, die noch einen Mann fanden. Hans hatte wässrig blaue Augen, neigte zu schrägen Scherzen, baute ein Haus und war der einzige Kommunist weit und breit. Eine Joggerin wird vom Hund gebissen, ein Radfahrer ebenso, nun rätselt sie, ob der Hund gesund war oder sie sich Sorgen machen muss. Ständig Krankenwagen in der Straße. Sie kommen und nehmen immer jemanden mit. Peter Sloterdijk will den Himmel zum Sprechen bringen. Die Handwerker, die einen großen Fisch an Land gezogen haben (Umbau eines Hauses) verhalten sich skandalös. Der Schwester war in letzter Zeit alles zu hell. Alte Menschen an Mülltonnen. Alles noch mal durchsehen. Eine Frau sprintet auf den Bahnsteig. Sieht gefährlich aus. Die nächste Bahn kommt erst in drei Minuten. Der Plattenspieler erträgt den Antriebsriemen nicht mehr. S-Bahn fährt nicht weiter zwecks Polizeieinsatz. Wie haben wir das satt: Polizeieinsatz. Notarzt-Einsatz. Weichenstörung. Stellwerkschaden. Verheugen in seiner Einspänner-Wohnung hat sich mit Büchsenbier eingedeckt. Eine angefangene Wodkaflasche steht seit vier Tagen im Kühlschrank. Sein Freund hatte eine OP und spricht nicht darüber. Ein Königspudel kennt seine wahren Freunde. Jonathan Franzen legt auf bei Klassik, Pop et cetera. Er liebt die Selbstironie der Rocker. Elke S. hat beim Deutschlandfunk wieder einen Auftritt als alte weise Frau. Oder weise alte Frau, je nachdem, was besser klingt. Der Besucher hat Rosen, Konfekt und Whisky mitgebracht. Was wir mit unseren Westverwandten erlebten und wie großzügig sie waren. „Die Leute blühen geradezu auf, wenn sie jemanden öffentlich degradieren können”, sagt die Schach-Europameisterin von 2018. Als wir wie San Marino spielten. Alles verrostet im Unterbau der Waschtisch-Armatur, das kriegt man gar nicht mit. Die Sachsen, die sich Jahrzehnte nach der Euphorie der Wende auf die Hinterbeine stellen. Wir sind abermals betrogen worden. Die Frau des Klempners wurde vom Meerschweinchen gebissen. Die Wasserbetriebe können die Leitungen nicht säubern, weil der Hauptkanal verstopft ist. Verheugens neuer Rasierapparat kostet 69 Euro, es gibt weiß Gott auch billigere. Rentner wissen das: Es gibt die große Witwer-Rente und die kleine Witwer-Rente. Daniil Medwedjew gewinnt alle fünf Matches und ist für den Moment der beste Tennisspieler der Welt. Der Ball geht nicht ins Tor. Dann verlieren wir armen Hansa-Rostock-Schweine eben wieder mal. Der kleinste Sack des Kartoffelbauers kostet 39 Euro. Ingeborg Bachmann und Paul Celan 1948 im Papphubschrauber auf dem Wurstelprater. Karl Dall und Harald Ringsdorff sind gestorben. Das Mädchen, dem der Vater die Sprache verweigerte. ›Die Welt wird nie verstehen‹, schrieb er auf einen Zettel. Ein Anruf aus Sachsen. Die toten Toten und die Dementen. Schicksalsschläge. Der größte Feind der Frau ist immer noch die Frau. Das muss aber jetzt unter uns bleiben. The Crown. Das Elend von Lady Di und der Charme der eisernen Maggie mit der Betonfrisur. Das sind ja Leute, die ihre Hirngespinste für Wirklichkeit nehmen. Ich denke darüber nach, warum es das Wort Verdacht nur in der Einzahl zu geben scheint. Der Papst will das Grundeinkommen.

Die die Göttin ihrer Bilder ist

November 23, 2020 2 Kommentare

Freier Blick auf freie Bilder
© FJK

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Momentum

Man kann froh sein, wenn überhaupt noch was stattfindet neben dem, was man selbst stattfinden lässt, und so ist man auch dankbar für eine Ausstellungseröffnung mit kleinem Besteck. Ellen Fuhr bei Helle Coppi, Berlin Mitte, Auguststraße. Keine Rede, keine Musik, kein Wein, aber eine Kanne und eine Turm von Bechern, vielleicht für Kaffee. Maximal 16 Besucher dürfen rein, aber als wir kommen, stellt sich das Problem nicht mehr.
Ellen Fuhr ist 2017 mit 59 Jahren gestorben; man begreift es nicht. Man begreift es noch weniger, wenn man ihre Bilder sieht, in denen so viel Kraft steckt. Man sieht da, was man in der Realität nur ahnt, das Eruptive der Großstadt, sie nimmt alles auseinander und setzt es neu wieder zusammen, Trassen, Brücken, Treppen = Auf- und Abstiege, Brandmauern, Hochhäuser, Stahl, Stein und Beton, die schrägen Winkel, die scharfen Kanten, die Kurven, der Text der Stadt, Gesichter, die plötzlich auftauchen und dich verfolgen, die Schluchten, der Dreck, der dir in die Fresse fliegt, und es liegt doch alles in der Hand der Malerin, die die Göttin ihrer Bilder ist. Die Hinterlassenschaft von Ellen Fuhr. Es ist mehr Döblins als Zilles Berlin, die Selbstbehauptung in der Verlorenheit. Für den Himmel bleibt wenig Raum. Und immer wieder dieses Berliner U-Bahn-Blau. Die Stadt war ihr Thema. Die Stadt. Das Meer. Der Kopf. Und das Glück. Die Köpfe: Das sind wie immer wenige kräftige Linien, du bist der Meinung, du kennst diese Leute, und du kennst sie wirklich, Simone Signoret, Elvis Presley, Christa Wolf, immer hat Ellen Fuhr das einzigartig Individuelle erfasst.
Im Gespräch mit Urszula Usakowska-Wolf hat sie erzählt, dass sie schon immer gezeichnet hat, schon als Kind, und dass sie die Erfahrung machte, dass die Leute das, was sie zeichnete, besser verstanden als das, was sie sagte. In der DDR war sie eine Künstlerin, die von den Radierungen, die sie verkaufte, gut leben konnte. „Es passierte nichts, man hat sich verkrochen, man hat seine Künstlerfreundschaften gepflegt, ich habe damals Kette geraucht, man hat sehr viel getrunken, man hat sehr viel gejammert. In Dresden war es noch schlimmer als in Berlin … da war schon eine sehr starke Selbstbemitleidung. Das war dann in Berlin nicht mehr so. Es gab im Prenzlauer Berg … damals noch eine sehr romantische und melancholische Grundstimmung, das war ein Lebensgefühl dort Wir kannten uns alle untereinander. Das hatte etwas von einer Schrebergartenkolonie.”
Als der Westen kam, dachte sie daran aufzuhören. Angeblich war nun alles falsch, was sie gemacht hatte, das gegenständliche, figürliche Malen, aber wie Neo Rauch konnte sie sich sagen: Was bin ich denn, wenn ich nicht male!, und so haben wir diese Bilder, diese Wirbel, diese Dynamik, diese Hinterlassenschaft, an einem Sonnabend im November und für immer.

Klatsche, Abreibung, Ankunft im Alltag?

Dunkle Wolken über der Mannschaft
© JuTH

Was war da los, fragen alle, die es nicht gesehen haben. Der Einbruch der Wirklichkeit in den tranigen deutsche Fußballtraum – das war los. Wir wollen ja mindestens ins Halbfinale der Fußball-EM und werden nicht müde zu betonen, dass wir seit zwölf Spielen unbesiegt waren. Bei der Gelegenheit vergisst man gern, was das für Spiele waren und dass gegen die Ukraine nicht Manuel Neuer der weltbeste Torhüter war, sondern der Torpfosten, nur mal als Beispiel. Die Ergebnisse waren weit über unseren Fähigkeiten; sowas gibt’s.
Und jetzt gegen Spanien 0:6. San Marino hätte auf dieses Spiel stolz sein können; für uns brachte es die Konfrontation mit der rauhen Wirklichkeit. Bei schlechten Spielen sprach Franz Beckenbauer früher von unseren deutschen Rumpelfüßlern. Hier nun waren die deutschen Statisten am Werk. Sie liefen den schnellen Passfolgen der Spanier nur hinterher. Und das gegen ein Team, das gerade gegen die Ukraine verlor und gegen die Schweiz mit Mühe unentschieden spielte.
Nach dem bösen Erwachen wurde nach Erklärungen herumgestochert. Wir wollten zuerst tief stehen, das hat nicht geklappt. Dann wollten wir hoch pressen, das hat aber auch nicht funktioniert. Es fehlten Körperspannung und Körpersprache. Ach was. Es fehlt schlicht und einfach eine Spielidee. Ein Trainer, der innerlich leer ist, stellt sich anscheinend vor, dass es mit der Passmaschine Kroos, ein paar Einfällen von Gündogan und drei schnellen Spitzen getan ist; er kann sich gar nicht genug freuen über die Schnelligkeit dieser Stürmer. Die kamen aber gar nicht an den Ball!
Und nun die andere Mannschaft: Bei den Spaniern war auffällig, dass der ballführende Spieler immer mindestens zwei Anspielstationen hatte. Für Liebhaber der Geometrie wäre es aufschlussreich, das Muster der Passfolgen der Spanier zu entschlüsseln. Selbst im Gedränge der Box und gegenüber einer doppelten Viererkette fanden sie immer Möglichkeiten.
Wir hingegen müssen feststellen, dass der Trainer nach nunmehr zwei Jahren noch immer keine funktionierende Innenverteidigung gefunden hat. Das, was jetzt auf dem Platz steht, wirkt ältlich, schläfrig und hüftsteif. Und trotzdem sind wir irgendwie erlöst. Wie immer, wenn man endlich die Wahrheit gesehen hat. So steht es also um uns.

Alfred Döblin und November

November 1918. Erschienen bei Rütten & Loening Berlin 1981

Ich war bei Döblin gelandet. November 1918. Tetralogie. Erster Band Bürger und Soldaten. Sie blickte mit einer kleinen Kopfbewegung in die Stube zurück. Das ist der erste Satz. Die Zeit, in der es noch Stuben gab. Es ist früh, die alte Frau geht an jungen Soldaten vorbei, sie kehrt Pferdemist für ihr Gärtchen in einen Eimer, dann ist sie im Lazarett und wischt die Korridore. Die alten Frau Hegen, ihr Mann mit seinen Krücken, der Pfarrer, der blinde Hauptmann, der Oberstabsarzt des Lazaretts, die Krankenschwester Hilde, der verwundete Oberleutnant Becker, sein Kamerad Maus, der fliehende Leutnant Heiberg, Hanna, seine Geliebte, der Soldatenrat, der Spekulant, der Weiberheld, Karl Liebknecht. Die Krieg ist aus. Wir haben Revolution. Eine deutsche Revolution. Viel Platz gibt Döblin seinen Figuren nicht, wenig Tiefe, der Leser verliert sie leicht, aber so sind eben die Zeiten. Der Mensch spielt eine mindere Rolle. Er schluckte an dem Kaffee, schob ihn weg, sagte: „Minute.” Sie ließ ihn allein. In der Küche kein Bursche, keine Aushilfe, kein Geschirr. Oh, diese Revolution. Und dann das Hühnerauge. In diesemTon. So schreibt Döblin über diesen deutschen November. „Man muss sprechen, um zu wissen, was man ist.”
Ich sehe die historische Nähe zu Dos Passos’ USA-Trilogie und weiß auf Seite 275 immer noch nicht, wie sehr oder wie wenig mir das Buch gefällt. Auf jeden Fall gefällt mir diese Stelle über eine Zimmer-Wirtin in einem der niedrigen Häuser der unteren Wilhelmstraße in Berlin: Sie war in den Fünfzigern und ehemals reizvoll, jetzt mehr fett. Sie arbeitete an sich mit Binden und Korsettagen, an ihrem gewaltig, üppig und üppiger anschwellenden Körper. Sie war früher so schlank und elegant gewesen, ein Liebling sehr vieler Männer. Ihr Körper war wie ein Acker, der eine Zeitlang nichts hergab – und jetzt so viel, dass man keine Hände hatte, um alles Korn einzuholen. (Wenn das heute jemand so schriebe: Könnte er es überleben?) Man muss es so hinnehmen: Döblin, der Nervenarzt, ist kühl und gelegentlich gnadenlos. Er macht sich, wie (Hanns Joachim Friedrichs) mit keiner Sache gemein, auch nicht mit einer guten. Dabei sein, aber nicht betroffen sein. So bekommt der Leser ein undramatisches Bild der Ausläufer des Kriegs und einer diffusen Revolution. Döblin redet etwa von guterzogenen Revolutionären.
Gut zu vergleichen: Dos Passos verfolgt die Wege seiner Figuren, die Irrungen und Wirrungen zielstrebiger; man sieht, wie das Schicksal arbeitet. Döblins Gestalten werden bald vom Strom der Ereignisse verschluckt. Man erkennt sie kaum wieder, wenn sie erneut auftauchen.
Der Roman handelt in Berlin und im Elsaß. In Folge des Kriegs fiel Elsaß-Lothringen an Frankreich. Die Deutschen mussten das Gebiet mit ein paar Habseligkeiten verlassen, meine Oma auch mit ihrer siebenjährigen Tochter. Danach war sie mehr oder weniger heimatlos. Sie war sehr religiös und hasste die Franzosen. Ihre Tochter (meine Mutter) gewöhnte sich an Stettin, dann an Güstrow und schließlich an Minden. Meine Oma besuchte noch ab und an ihre Brüder, die merkwürdigerweise im Elsaß bleiben konnten, die Passlacks, Onkel Otto und Onkel Edi (Eduard). Döblin hat mir jetzt nachträglich geholfen, meine Oma ein bisschen besser zu verstehen, die Umstände ihrer Flucht.
Eine Elsässerin lässt Döblin über die Deutschen sagen: „Sie haben das Land so – dumm gemacht. Wohin sie kommen, machen sie die Menschen plump, dick und dumm. Sie verbreiten das Schafsgemüt. Habe ich recht? Die sauberen Straßen, die pünktliche Post und das. Ich mag nicht mal ihren Heinrich Heine, obwohl der Jude war und gegen sie sein sollte …”
Aber das ist nur eine Stimme aus einem Stimmengewirr. Du liest das Buch und stehst mitten in einer Wirklichkeit, wie sie vielleicht war vor hundertundzwei Jahren.

Was ist mit ihm

November 11, 2020 1 Kommentar

Für alle Fälle: Seine Yacht am Ufer der Oder
© JuTh

Vorwerfen müssen wir Donald Trump (Master of the Universe), dass er die Wahlen überhaupt stattfinden ließ. Was soll das? Es kostet viele Dollars, die erst eingesammelt und dann rausgehauen werden müssen. Und ich gewinne sowieso und erspare Sleepy Joe eine Blamage. Auf der anderen Seite kann man Trump nachsehen, dass er nicht auf seine Show verzichten wollte, mit dem unverschämten Herausforderer Auge in Auge, den Baubudenrülps geben, den Feind mit Worten wegspülen, sich produzieren vor den Massen in USA und überall auf der Welt. Die Begeisterungsstürme seiner Fans. Einmal Trump-Wähler immer Trump-Wähler. Wer einmal die Unschuld verloren hat, bekommt sie nie wieder.
Und das kommt dabei raus, wenn Trump einmal inkonsequent ist. Diese Hängepartie. Die Scheiße ist immer noch nicht ausgezählt. Dafür gibt es aber mal zwei Ergebnisse. Ehrlich gesagt, ich habe gewonnen. Und: Joe Biden, der 46. Präsident. Er hätte sich vieles ersparen können: Die Demokraten wollen uns diese Wahlen stehlen. Das werde ich (Master of the Universe s. o.) niemals zulassen. Stoppt die Auszählung. Stoppt den Betrug. Als er das sagte, konnte man glauben, der Wahnsinn habe ihn gepackt. Es war aber wohl die pure Verzweiflung. Mein Gott, warum hast du mich verlassen. Noch glaube ich, mit der Gabe meiner Rede Steine erweichen zu können. Aber glauben das die Steine auch? Nur ein schlechter Verlierer ist ein guter Verlierer. So gut, dass er sich schon als Sieger ausrufen muss.

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Endlichkeit

Denn sie sollen getestet werden. Ein halber Security-Mann (rechts außen) ist auch noch dabei
@ FJK

Letzte Woche war ich das letzte Mal bei meiner Zahnärztin, die macht jetzt Schluss. Bis Köpenick mit der S-Bahn, dann weiter mit dem Bus ins Allende-Viertel. Früher waren die Busse oft sehr unzuverlässig, aber ich bin nie zu spät gekommen, weil man ja diese verdammten Busse kannte und dann bin ich noch ein bisschen rumgerannt, zwischen diesen Neubauten. Bei mir ist nicht viel zu machen, es ist die Vorsorgeuntersuchung, es geht auch um den Stempel im Bonus-Heft. Als ich das erste Mal in dieser Praxis war, sagte meine Zahnärztin, als sie mir in den Rachen sah: Oh, da haben wir ja eine Fundgrube. Das hab ich gesagt?, sagt meine Zahnärztin jetzt. Ja, das haben Sie gesagt. War ja auch so. Es lag nicht unbedingt daran, dass meine Zähne so schlecht gewesen wären, sondern an den Vorgängern meiner Zahnärztin, da war der gemütliche Dr. Ossenkopp aus Güstrow, der immer wieder eine provisorische Füllung einlegte, bis ich endlich die Geduld verlor und die nächsten Termine nicht mehr wahrnahm. Der Zahnarzt im Deutschen Fernsehfunk war ähnlich betulich, und der bei der Nationalen Volksarmee war ein Brutalist, der machte sich nicht die Mühe zu bohren und zu plombieren und so gerieten meine Zähne etwas aus der Kontrolle. Meine Zahnärztin war pragmatisch genug, um das wieder hinzubekommen. Wir schauen in die Akte: 1977 war ich das erste Mal bei ihr. Die Jahreszahl beeindruckt mich weniger als die Tatsache, dass da nun 43 Jahre vergangen sind, man war eine junge Frau oder ein junger Mann, man sah sich mindestens einmal im Jahr, persönliche Highlights und Katastrophen ereigneten sich, von denen man nur ahnen konnte, aber der Kontakt zwischen meiner Zahnärztin und mir war immer zuverlässig und solide.
Eigentlich wollte sie erst im Mai aufhören, aber die Sprechstundenhilfe ist schon seit Dezember krank und der Vermieter will was anderes mit seinen Räumen anstellen, wie Vermieter so sind. Eine Nachfolgerin gibt es nicht, alles muss raus. Einige Packungen Einmal-Handschuhe, ich hätte auch noch zwei Zangen, wollen Sie die? – Zum Ziehen? Nee, so weit will ich nicht gehen. Und das ganze Instrumentarium? – Na ja, das ist ja auch so um die fünf Jahren alt, da ist keiner mehr scharf drauf. Es endet im Nirwana. Meine Zahnärztin ist illusionsfrei. War sie schon immer.

Freuen Sie sich auf die freie Zeit? Haben Sie sich was vorgenommen? Ja, sie freut sich. Ja, sie hat sich was vorgenommen, was aber jetzt nicht realisierbar ist. Sie ist in einem Keramik-Kurs der Volkshochschule, der muss jetzt wegen Corona zumachen. Sie könnte ja auch zu Hause weitermachen und die Sachen woanders brennen lassen, wo einer einen Brennofen hat. Ist aber alles nicht das, was man sich vorstellt. Und Reisen geht ja auch nicht.
Meine Zahnärztin hat noch etwas Zahnstein entfernt und einen Spalt im Zahnfleisch geschlossen. Die Minute des Abschieds ist gekommen. War schön mit Ihnen, die Jahre, sagt meine Zahnärztin, ja, mit Ihnen auch, sage ich.

Letzte Besuche

Kajillionaire im Kino in den Hackeschen Höfen
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Wenn du (ich sprech mal so mit mir selbst), wenn du in einen Film von Miranda July gehst, solltest du vorher ein bisschen was über sie wissen, sonst wirst du in diesem Film eine ganze Weile herumirren, bis du dann vielleicht weißt, wo es lang geht. So ging es mir, der ich keine Ahnung hatte. Jetzt, am letzten Tag, wo die Kinos noch geöffnet haben, spielen sie Kajillionaire. Kajillionaire. Auch nachdem ich den Film sah, wüsste ich nicht zu sagen, was das bedeuten soll. Ist meiner Aufmerksamkeit entgangen.
Miranda July ist 1974 geboren und hat sich alles selbst beigebracht. Ihre Eltern sind Schriftsteller und haben einen Sparten-Verlag. Miranda July hat schon als Kind (ich müsste sagen als Mädchen, weil sie feministisch unterwegs ist) mit Gesprächssentenzen und Bildern gespielt, hat Kurzfilme gemacht, Fanzines, Underground, war Performerin. Geld zum Überleben verdiente sie bei einem Schlüsseldienst für Autotüren. Ein Schriftsteller, dem sie ihre Texte zeigte, sah, dass sie die Regeln nicht kannte, aber die Weirdness beeindruckte ihn, die Seltsamkeit ihrer Hervorbringungen.
Als ich im Kino saß, dachte ich, hm, Gaunerkomödie, sowas mögen wir eigentlich nicht, aber das Lachen blieb einem wieder mal im Halse stecken und immer mehr wurde einem die Seltsamkeit des Films bewusst. Für Robert (Richard Jenkins) und Theresa Dyne (Debra Wenger) sind Diebstahl, Betrügereien und Glücksspiele Lebensprogramm, Robert hat die Ideen und die Ansprüche, die Tochter, die sie Old Dolio genannt haben, schicken die Eltern an die Front; sie muss ihre Haut zu Markte tragen. Evan Rachel Wood ist ein Mädchen mit langen glatten Haaren, die gleichsam ein Vorhang sind, den sie nicht brauchte, denn auch ihr Gesicht zeigt selten Reaktionen. Liebe und Nähe erfährt sie von den Gaunern, die ihre Eltern sind, nicht. Die Family hat den Keller der ominösen Firma Bubbles Inc. gemietet, aus dessen Wänden ständig pinker Schaum quillt, den die drei wegwischen müssen, was ihre Miete, die sie trotzdem nicht bezahlen, mindert. Zu dem Gaunertrio tritt schließlich Melanie hinzu (Gina Rodriguez), ein unbekümmertes Latino-Girl, das Old Dolio letztlich aus ihrem Kokon und von ihren Eltern befreit. Ich habe gemerkt, dass Frauen die Seltsamkeiten dieses Films einer Frau viel besser checken als Männer. Diese Invasion des pinken Schaums (kennt Miranda July das Märchen vom süßen Brei), diese lange Hinnehmbarkeit des Unhinnehmbaren, diese flache Handlungskurve, wenn es denn überhaupt eine solche gibt. Eine längere Szene spielt ihm Haus eines Sterbenden, den die Dynes gemeinsam mit Melanie natürlich auch ausnehmen wollen; den alten Mann stört das nicht, er ist vielmehr dankbar, in seinem vereinsamten Haus noch mal soziale Geräusche zu vernehmen, noch mal Leben zu spüren. Auch noch zu bemerken, dass die seelisch so steife Old Dolio unglaublich biegsam, schnell und gelenkig ist.
Es war wie gesagt der letzte Tag vor dem erneuten Eintreten der Einschränkungen, und natürlich trifft es die Kinos und die Kneipen am härtesten, ungeachtet dessen, dass sie so diszipliniert waren und vorbildliche Hygiene-Konzepte entwickelten. Der letzte Kinotag und auch der letzte Kneipentag also. Wir gingen ins Restaurant Sophien 11. Der Biergarten war immer noch geöffnet, mit durchsichtigen Plastikzelten in mehrere Separees unterteilt, die mit bunten Lampen geschmückt und elektrisch beheizt waren. Die Kellnerin war handfest und schlagfertig wie eh und je und gar nicht geneigt, in Depressionen zu versinken, auch wenn die Aussichten noch so schlecht sind. In den Zeiten der Rückverfolgbarkeit trugen Namen und Adresse in den Vordruck ein, tranken böhmisches Bier und huldigten der deutschen Küche (Grünkohl mit Pinkel und Bratkartoffeln, Sellerieschnitzel) und wollten ebenfalls nicht bereit sein zu trauern.

Good bye, dear old Beergarden. We will see again next time