Friedhof Reich der Toten
Der Jüdische Friedhof in Weißensee ist über 40 ha groß. Im Winter wird das Tor wegen hereinbrechender Dunkelheit um 16 Uhr geschlossen. Wer bis dahin nicht draußen ist, ist gefangen bei den Toten in der Dunkelheit; es sei denn, er hat ein Seil dabei oder kann sowieso gut klettern. Es ist eh nicht leicht, den Ein- und Ausgang wiederzufinden, insofern mahnte uns unsere Führungskraft, nicht hinter ihr zurückzubleiben; wir könnten uns verirren. Wir empfanden das als streng, aber es war nicht nur gut gemeint, sondern auch hilfreich.
Ich kenne den Friedhof noch aus Vorwendezeiten. In Erinnerung blieben umgestürzte Grabsteine und ungezügelte Natur. Das sah nun ganz anders aus. Der Friedhof wirkt unermesslich, aber bei aller labyrinthischen Ausdehnung wohl geordnet. Dieser Gang zu den Toten und ihrer Ruhe war der Wunsch unserer Jubilarin, die es verabscheut, am Geburtstag am Tisch festgenagelt zu sein, Torte zu essen und vom Kaffee betrunken zu werden.
Wir erfahren, dass der Weißenseer Friedhof 1880 entstand, weil alle anderen jüdischen Friedhöfe bis zum Rand belegt waren. Über den Friedhof zu gehen, ist eine ernste Sache, das weiß man von vornherein, und das wird einem mit jedem Schritt eindrücklicher. Wir waren eine kleine Gruppe aus anderthalb bis zweieinhalb Haushalten. Man kann nicht an den Toten vorbeigehen, ohne an das Leben und an ihr Leben, das der Toten, zu denken, an die schreckliche Zahl von 1907 Juden, die die hier liegen, weil sie im faschistischen Berlin Hand an sich legten, wir dachten an jüdische Schicksale in Deutschland, an Kaufhausgründer, an Musiker, an Maler, an Dichter, an Widerstandskämpfer wie Herbert Baum und seine Gruppe, alles junge Menschen. Wie kann man das vergessen. Nach zwei Stunden waren wir durchgefroren wieder am Eingang, nicht lange vor der Schließzeit.
Wir fanden am Antonplatz einen kleinen Markt, die Jubilarin war glücklich über die knusprigen Quarkkeulchen, die es hier gab, und eine Flasche vermutlich alkoholfreien Sekt hatten wir auch dabei.
Weitere späte Jahre
In Berlin ist jedes Jahr ein Schicksalsjahr.
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Aus Versehen habe ich mir „David Copperfield” als e-Book auf Tamil gekauft. Super. Kostet aber nur 0,93 €. Darum werde ich jetzt nicht extra Tamil lernen.
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Wenn einer zu viel Alkohol trinkt, da ist was los, alle beschimpfen ihn, er ist ein Säufer, sein Leben verpfuscht. Aber wenn einer genauso viel Kaffee trinkt, auch ein Genussmittel, vielleicht noch mehr – da sagt kein Mensch was.
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Staatlich geprüfter Alkoholiker.
Ein alter Mann will ein Max-und-Moritz-Brot ungeschnitten. Max-und-Moritz-Brot ist ausverkauft. Dann nehmen Sie doch ein Witwe-Bolte-Brot!
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In unserem Alter hat man keine Ehre mehr. Jedenfalls keine, die beschädigt oder verletzt werden könnte.
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Sie glauben an den Spiegel wie an den lieben Gott.
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Alter heißt verlorenes Interesse an Personen, Verlust von Illusionen. Kontakte, Freundschaften verlaufen im Sand.
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Unser Hund soll nicht als Einzelhund aufwachsen.
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Rentner bauchen keinen Krankenschein.
Der junge Riese
Der junge Riese ist vielleicht nur einen Kopf größer als die anderen Bürger dieser Kleinstadt mitten in der stagnierenden DDR, aber für mich ist er mindestens doppelt so groß wie die anderen, denen die Ungeduld, während sie auf den Pannenbus warten, deutlich anzusehen ist; dem Riesen nicht. Der Riese weiß immer noch den Eindruck zu erwecken, er könnte den Bus jederzeit herbeizaubern, wenn er nur wollte, aber er hat Zeit. Nicht jeder in der DDR wusste, dass er ein schier unbegrenztes Vermögen an Zeit hatte; der Riese weiß es; er ist auch der Einzelgänger auf dem Bild, was scheren ihn die Leute mit ihrer Ungeduld und ihren Nöten, das einzige, was er aus der Schule behalten hat, ist das: Der Starke ist am mächtigsten allein. Schiller. Wilhelm Tell. Papa Tell traf den Apfel ganz genau, das war eine Schau, und schon nicht mehr Schule, sondern Radio Luxemburg. Interessant auch die Architektur eines eher flachen Städtchens mit Anhöhen. Der Ruf nach Schönheit in dieser Hüttenhaftigkeit. Die merkwürdig versetzten Fenster. Die Fernsehantennen mit ihrem Ruf nach Westen. Die obsoleten oder auch nicht obsoleten Kreuze. Und der martialische Gürtel an der Hüfte des einsamen Helden ist ja auch beinahe Architektur. Letzten Endes hat ein solches Städtchen, es soll sich um Oderberg handeln, keine Queen zu bieten, die seiner würdig wäre. Er würde auch eine andere nehmen, aber die trauen ihm alle nicht: Einen solchen Riesen hast du nie für dich.
Der Geisterbahnhof ist real
Als ich unter dem Pflaster durch die Mitte der Stadt fuhr, von Friedrichstraße nach Kochstraße, glaubte ich für einen Moment zu träumen. Aus der Dunkelheit tauchte unwirklich ein Bahnhof im gelben Licht auf, der Zug hatte die Fahrt verlangsamt, man sah die Bahnsteige, die Treppen, die Anzeigen, Lichterkugeln, den Schriftzug Unter den Linden, die Vision eines perfekten, noch unberührten U-Bahnhofs, keine Gebrauchsspuren, keine Menschenseele, Unberührtheit und Makellosigkeit, solche Bahnhöfe kann man nur in Träumen sehen. Und dann war der Zug vorbei gefahren.
Tags darauf klärte die unabhängige Presse auf. Die U-Bahnstrecke vom Alexanderplatz zum Brandenburger Tor mit drei architektonisch anspruchsvollen neuen Bahnhöfen war nach einigen Verzögerungen vollendet. Toll. Aber ich dachte, so ein aus der Dunkelheit auftauchender unberührter Geisterbahnhof, brandneu, in dem sich nichts tut, keine Menschenseele, an dem man langsam vorbeirauscht wie im Traum, den man nur sehen, aber nicht betreten kann – das hätte schon was, ein irrationales Erlebnis im Untergrund der Metropole.
Eine Woche später fahre ich die Strecke noch mal. Nun hält der Zug Unter den Linden. Ich steige aus, es ist noch nicht viel los, aber es ist Wirklichkeit, the dream is lost.
Auf den Novemberblues folgt der Dezemberblues, wer denn sonst
Wir wollten einen kleinen zweistündigen Wandertag machen. Ich hatte vor, meinem naturnahen Charlottenburger Freund den Biesenhorster Sand zu zeigen, ein, wie sich herausstellte, anspruchsvolles Vorhaben, denn ich fand diesen Ort nicht, obwohl ich mir eine Karte ausgedruckt hatte, die allerdings veraltet war. Vielmehr fanden wir den Karlshorster Rennsteig, den ich vor einiger Zeit lange vergeblich gesucht hatte. Wir kraxelten an einer unzugänglichen Stelle hinauf. Ich hatte Mühe zu verbergen, dass ich einige Male abrutschte, weiß der Teufel, ob es mir gelungen ist. Die Bezeichnung Rennsteig ist übrigens auch inoffiziell. Zwischen kahlen Ästen erblickten wir linkerhand in der Schlucht einige Nutzfahrzeuge, ausgeschachtete, verschalte Gräben und Working Class Heroes, die aller Ruhe Rohre mit großem Durchmesser verlegten, es zumindest vorhatten. Ab und zu kamen uns Jogger auf dem engen Weg entgegen. Soweit es sich um Frauen handelte, machte mein Charlottenburger Freund übertrieben höflich Platz. So verhält man sich in Charlottenburg, und die Frauen wirkten hocherfreut. Wir können uns da einiges abschauen. Ansonsten gab es nicht viel zu schauen, verdorrtes Laub, unfrohe Bäume, plötzlich auftauchende absurde Betonelemente, rotweiße Absperrgitter, höchstens mal Street Art, die man hier wohl Forest Art nennen muss. Hier und da entdeckten wir Rückstände von kleinen inoffiziellen Feiern romantischer Jugendlicher. Aber auch wir brauchten ein Ziel, und so begannen wir, Arbeiter und Passanten auf Elektrorädern nach dem Biesenhorster Sand zu fragen, diesem Offenlandbiotop mit Trocken- und Halbtrockenrasen, von dem hatte hier aber noch kein Schwein was gehört. Aber die Kleingartenanlage, die sich in seiner Nähe befinden soll – ja, die kannte man. Man wusste auch, dass dies alles hier altes, stillgelegtes Bahn- und auch Militärgelände sei. Die Kleingärten waren mitten im November-Blues. Keine Vegetation verdeckte noch die Bausünden und Niedlichkeiten der Kleingärtnerseelen. Von Wald zu sprechen, lehnte mein Charlottenburger Freund ab. Wir stolperten buchstäblich durchs Gestrüpp und machten Bemerkungen, entdeckten Betonmauern, Wachtürme und eiserne Tore, die finsteren Hangars des alten Flugplatzes und schließlich den Biesenhorster Weg, der uns todsicher zum Biesenhorster Sand geführt hätte, wenn nicht unser zweistündiger Wandertag schon abgelaufen wäre, wir hatten uns gut unterhalten, unsere Erinnerungen aufgefrischt, und am Ende machte mein Charlottenburger Freund noch die Bekanntschaft eines jungen kaukasisch-italienischen Hirtenhundes, der ihm das Gesicht ableckte, naturnah, wie ich schon sagte. Es war der letzte Novembertag, dunkel und nasskalt. Tags darauf setzte unverzüglich der Dezemberblues ein.
In unseren späteren Jahren
Verheugen hat den neuen Sloterdijk gekauft, und zwar nicht im Alexa, das er meidet wegen der Kundenströme, die er jeden Tag vom Fenster aus sieht, sondern in der christlichen Buchhandlung, vor deren Türen er sich einst das Bein gebrochen hat. Weil das Buch „Den Himmel zum Sprechen bringen” heißt, machte er bei den christlichen Buchhändlerinnen einige ironische Anspielungen, etwa, dass er sie nun endlich von dem bösen (unchristlichen) Buch befreit habe. Es kam keine Reaktion. Ebensowenig während der Routineuntersuchung bei seiner Hautärztin, die ansonsten erfreulich ausfiel. Auch hier erntete er für seine geistreichen Bemerkungen nur Schweigen. Ich quassel so viel, klagt Verheugen, ich möchte das nicht, ich gehe aus dem Haus und nehme mir vor, gar nichts zu sagen, aber dann fang ich doch wieder an zu quasseln. Ach was, sage ich, die Menschen lieben doch deine Schlagfertigkeit, alle Menschen, sie können es nur nicht so zeigen, einige reagieren schon, ich würde sogar sagen die meisten. Mir gefällt das gar nicht an mir, sagt Verheugen, diese Quasselei. Ich möchte so nicht sein. Ich möchte ein stiller Mensch sein, ein Schweiger. Du schweigst doch schon genug, sage ich. Ja, wenn ich zu Hause bin. Allein. Aber draußen – ich hasse das, ich will anders sein. Du solltest so sein, wie du bist. Nein, ich möchte das nicht, ich stehe vor dem Spiegel und zeige mir zehn Mal am Tag den Mittelfinger. Ich will so nicht sein. Was soll denn nur dieser ungesunde Kampf gegen sich selbst, sage ich, mir gefällt auch nicht alles, was ich mache, aber nimm dich doch einfach an. Du hast keine Wahl. Während ich so rede, spüre ich schon, wie Verheugen das Schweigen übt. Warum hört keiner auf mich.
Auf dem Lande
Welche Erinnerungen kommen da hoch. Schüler und Studenten als Erntehelfer und wenn ich das sage schließe ich die Mädchen selbstverständlicher mit ein, als wenn ich Schüler*innen und Studierende sagte. Meistens Kartoffeln sammeln, das ging ins Kreuz, und es ging auch auf Tempo, der Trecker kam schneller zurück als gedacht. Wir trugen Hüte mit seitlich hochgeklappten Krempen, um wie Cowboys auszusehen. Wenn das Dorf einen See hatte, sprang man ins Wasser; so sahen wir unsere Mädchen das erste Mal nackt und sie uns. Wenn wir Pause hatten, lagen wir auf Strohballen, so hoch wie möglich, aßen unsere Stullen und dachten an das, was wir gesehen hatten. Zum Mittagessen waren die Teller voll, viel fettes Fleisch. Wegen der schweren Arbeit auf dem Land musste man dementsprechend fett essen, das war ein altes Gesetz. So sahen die Leute auch aus, so wie diese stattlichen Melkerinnen im Kuhstall ihrer LPG in der Altmark. Sie hatten eine ordentliche Handschrift, Haare auf den Zähnen und ließen sich nicht die Butter vom Brot nehmen. Es war nicht das Schlechteste, zu zweit unter lauter geduldigen Kühen in einem weitläufigen Stall zu arbeiten und durchzuhecheln, was im Dorf eigentlich eher unter der Decke bleiben sollte. Ein empörter Satz fällt mir gerade noch ein: Du hörst auch nur das, was du nicht hören sollst. Das ist ja in der Stadt nicht anders. Dass es mal eine Affäre zwischen einer Bäuerin und einem Studenten gegeben hat, schließe ich aus. Die Sphären waren zu unterschiedlich. Alle Seiten haben viel liegen gelassen im Leben.