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Posts Tagged ‘Alfred Döblin’

Dreißig Jahre Krieg

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Mit Alfred Döblins Roman „Wallenstein“ war es so: Ich verlor nicht das Interesse, aber immer wieder die Übersicht. Das ist eben der Dreißigjährige Krieg. Es fängt schon damit an, dass da nicht dreißig Jahre lang Krieg war. Und es setzt sich damit fort, dass man die Kriegsparteien nicht auseinander halten kann. Wer gegen wen. Wer mit wem. Das wechselte auch. Döblin war selbst vom Krieg geprägt als Akteur im 1. Weltkrieg. Als solcher versuchte er dem Geheimnis der Kriege auf die Spur zu kommen. Als Lazarettsarzt hörte er den Geschützdonner und behandelte die Verwundeten; sah das schlimmste Elend, war aber nicht in der Schlacht. Insofern bezeichnete er sich als Scheinsoldat, diese Bezeichnung ist mit Vorsicht zu genießen, aber insofern relevant, als Döblin in Wallenstein am wenigsten Schlachten beschreibt. Was den Krieg nicht minder schrecklich macht.

Knapp 900 Seiten und immer wieder rätseln: Wer spricht, wer flieht, wer intrigiert, wer stirbt. Bis ich begriff: Es geht Döblin nicht um Folgerichtigkeit, er will das wüstwirre Geschehen nicht in ein perfektes Kunstwerk heben. Er bildet ein Panorama des Gesamtgeschehens, die totale Konfusion einer wüsten Zeit im mittleren Europa. Es ist alles da, Jagden, Bankette, Orgien, Komplotte, Seuchen und Plünderungen, Hinrichtungen und Folter, Menschenmassen und Verlorene, Magier und Mörder, Schlemmer und Bettler, Kaiser und Könige, Kurfürsten und Kardinäle, Beichtväter und Pfaffen, Herzöge und Grafen, Generäle und Hauptleute, Soldaten, Deserteure, Bauern und Landstreicher. Nach diesem Buch hätte Tübke ein zweites Bad Frankenhausen malen können, nach dem Bauernkrieg den Dreißigjährigen. Und – das ist Döblin am höchsten anzurechnen – er verzichtet auf ein Heldenbild. Wallenstein, Gustav Adolf, Ferdinand II. von Habsburg, Tilly, Piccolomini … In dieser Zeit kann es nur Schurken geben, blutbesudelt, krank, größenwahnsinnig. Nicht mal in ihrer Negativität sind sie groß. Stattdessen menschliche Ruinen, verrückt nach Macht, zerstört von Macht.

Es ist ein Buch voller Finsternis. Liebe findest du nicht, nur Abhängigkeiten. Am Ende Genugtuung, dass man das Werk nicht unbeendet beiseite gelegt hat, auch wenn man oft den Faden oder sich im Gewimmel der Gestalten verlor. Ein Urteil über den Dreißigjährigen Krieg ermöglicht es uns nicht. Außer, dass man einen Sinn, eine Logik im Krieg oder der Geschichte überhaupt vergeblich sucht. Ein Religionskrieg, Katholiken gegen Protestanten, war es jedenfalls nicht. Das war vorgeschoben. Es geht um Geld, um Macht, um Land. Wallensteins Gabe war eine absolut kapitalistische. Er verstand es, riesige Armeen zu rekrutieren, zu bewaffnen, zu versorgen (aus eigenen Mühlen und Fabriken) und ruhigzustellen, wenn eben nicht gekämpft wurde, Kontributionen einzutreiben, Menschen auf seinen Seite zu ziehen und fallenzulassen. Ein schwerkranker Mann, der den Leuten unheimlich war, seinen Verbündeten noch mehr als seinen Feinden.

Mit wenigen Strichen zeichnet Döblin die (historischen) Figuren. Da treffen sich Aktenstudium, bildnerische Phantasie, Unbeirrbarkeit und epische Arroganz. Die Figuren sind auf einen Schlag geortet, haben kräftige Konturen. Es ist sicher vermessen, Menschen so einzunorden, aber als Epiker brauchst du diese Macht über die Welt, die du zu deinem Stoff gemacht hast.

„Krieg ist sehr, sehr vieles in einem“, schrieb Döblin 1921, „vor allem grenzenlose Dämonie und Entfesselung, Chaos; die Welt, bevor das Gotteswort hineinfiel.“

Alfred Döblin, Wallenstein, Fischer Klassik, 2014

Ein schönes Scheißleben, was du da hast

Vorjahrescollage Januar – Februar – März ’21

„Wenn du Lust hast anzubinden …”
© FJK

Die Banalität des Programms blieb uns erspart. Sie hatten das Zeug wohl noch vom Vorjahr und aus Polen. Die Fresse hält nicht, was der Arsch verspricht. Man geht da hin, um zu sterben. Ein Jogger mit so großen Füßen, dass er die Beine nicht heben konnte. Sogar die Vegetarierin isst eine Faser von der Gans. Man sieht, dass die Frauen es immer noch schwerer haben. Sie müssen noch an vielen Schräubchen drehen. Ich bin auch oft übersehen worden. Sherwood Andersons Winesburg und Döblins November. Er hat eine schwarze Erinnerung. Die Bilder von Trumps eindringenden Mob. Frauen verlieren ihre Mädchenhaftigkeit schneller als Männer ihre Jungenhaftigkeit. Diese Ästhetik begreifen sie nicht. Das Hemd ist so alt, wie meine Mutter tot ist. Steinmeier, der Betroffenheitspilger. Monika Maron schreibt jetzt Hundebücher. Das Grau soll raus. Ich war gebannt von Rhythmus ihrer Hüften. Das ist ein interessanter Gedanke, der könnte von mir stammen. Morgen kommt Frau Stümer zu Tisch, die in der Regel nur eine Kartoffel und eine Möhre ins Wasser wirft. Wie dick ist sie heute? Das Elend begann mit der Elektrizität. Sogar die Bettler haben Homeoffice. Einsamkeit ist auch etwas, das du nicht kennst. Die Bauern wollen einfach nicht mehr nach Hause fahren. Bei Dorfler & Seidel sind alle glücklich, braungebrannt und musikalisch. Der Hund im deutschen Film. Oder aber: Der deutsche Hund im Film. Es geht immer nur um die Pflanzen! Wann geht’s hier eigentlich mal um mich?

Den Whisky danach verkniff ich mir. Da waren acht Kilo Heroin drin. Sein Sorglos-Gesicht ist recht zerfurcht und verquollen. Hans-Peter Puffky aus Eichwalde (besser Eichelwalde). Manchmal am Tag scheint die Zeit stillzustehen und das Internet auch. Der springende Punkt ist nicht, entweder naiv oder ironisch zu sein, sondern beides. Kalendergeschichten mit Franz Müntefering und Rolf Mützenich. Er heizte die Öfen, studierte das unergründliche Wesen des Feuers … Verlust des Wirklichkeitssinns. Man soll bekanntlich immer das tun, wozu einen der Dämon treibt. Ich bin die Parodie eines strengen Ehemannes. Uns bleibt der Fußball. Drei alte Männer stören die Friedhofsruhe, indem sie sich auf eingeschlichene Westleichen aufmerksam machen, zum Beispiel Johannes Rau und Egon Bahr. Auch Piefkes und Biedermänner liegen hier. Vier Totengräber trugen seinen Sarg. Ihre Freunde hatten Angst, dass sie aufhören würde zu essen. Verkündigung!, ruft eine Frau. Ich beachte sie erst gar nicht, ehe sie mich nicht beachten kann. Sie sind beide keine Lesbierinnen, aber cool genug, um zu sehen, dass die Sache sich rechnet. Wir haben durch Ab- und Zugänge an Kreativität verloren, aber an Pflichtbewusstsein gewonnen. Schemenhaftes Personal aus der eher parasitären Schicht. Das große Laber-Thema Würde im Deutschlandfunk Kultur. Zwei Nerds, die nie tiefer als einen halben Meter gehen. Welche Frau ist schon zufrieden mit ihrem Mann.

Früh um fünf ist der Moderator im Deutschlandfunk Kultur noch im Halbschlaf. Manchmal muss er auch nach Hause getragen werden. Ein schönes Scheißleben, was du da hast. Es geht mehr um Klang als um Musik. Auch wenn heute Frauentag ist, muss doch Recht bleiben, was recht ist. Geht das jetzt den ganzen Tag so mit Benachteiligung, niedrigeren Gehältern, häuslicher Gewalt, sexueller Belästigung? Und die Hundertschaft von Figuren ohne äußere Merkmale, die auftauchen, verschwinden und wieder auftauchen; man fragt sich oft: Was war denn jetzt mit dem oder der? Nach großer Literatur sieht das nicht unbedingt aus. Sie bohren von morgens um neun bis nachmittags um vier. Ich fühle mich hier nicht zu Hause. Sie Ärmster. Wenn ick mal Zeit habe, bedauer ick Ihnen. Der Wald stirbt wegen Trockenheit. Das Betrachten und Ausdeuten weiblicher (nie männlicher) Körper schiebt den Akt ins Unwesentliche. Der Mann macht sich jetzt öfter unsichtbar. Der hat auch allen Grund, bescheiden zu sein. Ein Festival der Taktlosigkeit und Dummheit. Dann kam noch ein Mann aus dem Lift, im Schlafanzug, dafür ohne Zähne. Für die Kinder werden Sahnebonbons bereitgehalten. Die haben einfach zu viel Geld. Ich kann mich hier nicht auf Fachgespräche einlassen, dazu fehlen mir die Voraussetzungen. Heute gab’s, nach dem Corona-Abstrich, eine Reizklima-Wanderung. Die Trinker trinken, die Bettler haben sich warm angezogen und die Polizisten haben vermutlich alles im Blick. Shiting and fucking, fucking and shiting. Um sowas zu vollbringen wie Döblin brauchte einer wie ich fünf Leben. Da wird laut gelacht und auch laut geweint. Ich weiß immer noch nicht, ob da ein Verbrechen vorlag. Am Nebentisch sitzt die Bundeswehr. Sie sah aus wie ’ne Schrippe. Können Maschinen ein Partner fürs Leben sein? Was bleibt sind die Gedächtniskirche und das Marmorhaus. Holst selbst war ein hochgewachsener, väterlicher Mann. Nur die Toten kennen Brooklyn.

Zitate: Eugen Verheugen, Alfred Brendel, Bruno Schulz, Hermann Broch, Kai Bülow, Frau Ude, Reg in „Mum”, ADe, FAS, Thomas Wolfe

A German Revolution

Berlin. Historisches Pflaster. Überall und immer.
© FJK

Ich hätte nicht gedacht, dass ich Döblins „November 1918”-Tetralogie zu Ende lesen würde, aber ich hab’s, mit Pausen, gemacht, zuletzt Band 4, „Karl und Rosa”, 800 Seiten. Man glaubt ja, bescheid zu wissen, über Liebknecht und Luxemburg; tragische Helden einer steckengebliebenen Revolution, aber das ist ein Trugschluss. Döblin weiß viel mehr. Er schrieb das Werk in der Emigration, in Frankreich und dann im Amerika, er schrieb unter erschwerten Bedingungen, hatte wenig Geld und wenig Zugriff auf Dokumente; er konnte in den fremden Ländern nicht in seinem Beruf als Arzt arbeiten; aber er hatte einen enormen Antrieb: Döblin war überzeugt, dass die verlorene November-Revolution von 1918, die Haltung der Sozialdemokraten Ebert, Scheidemann, Noske, die Ursache für die faschistische Machtergreifung 1933 und damit auch für sein Schicksal waren.
„Noske war ein baumlanger Mann mit Stahlbrille und niedriger Stirn. Er stammte aus Brandenburg und hatte sich vom Holzarbeiter zum Gemeindevertreter, Journalisten und Reichstagsabgeordneten heraufgearbeitet. Aber das Eigentliche sollte erst kommen.” Noske, der Bluthund der Reaktion. So griffig ist der Text in seinen 2400 Seiten nicht immer. Döblin bemüht sich, nah an seinen Figuren zu sein, den fiktiven ebenso wie den historischen. Wer Lust hat, kann darauf achten, wie der Autor mit den erfundenen und wie mit realen Personen umgeht. Sicher ist er bei den historischen Gestalten unfreier, auch bei großem Einsatz geraten sie flacher. Wie authentisch die Dialoge der Luxemburg und Liebknecht, der Ebert, Noske und Scheidemann sein können, ist dahingestellt. Sie geben ein Bild der Akteure und der Verläufe dieser deutschen Revolution, in der es keinen kaltblütigen Strategen gab, jedenfalls nicht auf der Seite der Revolutionäre. Wenn es um das Voreilige, Verzagte, Kleinmütige im Handeln der Protagonisten geht, kann Döblin nichts anders, als zu Spott und Sarkasmus zu greifen, was vielleicht nicht seine stärksten Seiten sind. Es war auch in der Zeit des Exils, da er sich tief in die Religion versenkte und die Ereignisse aus christlicher Sicht deutete, wobei er wohl unter seinen intellektuellen und erzählerischen Möglichkeiten bleiben musste.
Döblins Held ist der Studienrat und Offizier Friedrich Becker, als Faust-Figur angelegt, im Krieg schwer verwundet, dem Tod entronnen, daheim in Berlin auch mit seinen seelischen Verletzungen und seine Dämonen kämpfend, ohne Chance gegen Restauration und Nationalismus verliert er seinen Beruf, sein Zuhause, seine Liebste und ist gleichsam auf mystischer Wanderung unterwegs. „So trug sich Becker, ein hoher, bärtiger und immer mehr gebrechlicher Mann, noch jahrelang durch die deutschen Gaue.” Döblin erklärte: „Der Mann, den meine Geschichte in Karl und Rosa darstellt, war bewusster Christ in einer verwahrlosten Zeit; er fühlte sich gedrängt zu bekennen.”
Der Heimkehrer Döblin hatte, wie der Heimkehrer Becker, kein Glück mehr in Deutschland. Er war vergessen oder als Milieu-Autor herabgestuft. Für die November-Tetralogie war im Nachkriegsdeutschland kein Papierkontingent und auch keine geistige Bereitschaft vorhanden. Erst lange nach seinem Tod, zu seinem hundertsten Geburtstag, konnte das Werk erstmals geschlossen in einer Taschenbuchausgabe erscheinen.
Nicht zuletzt: Man kann mit den Bänden durch Berlin gehen und findet alle beschriebenen Orte wieder. Die Topographie ist exakt. Wir leben in einer historischen Stadt. Das ist ja klar. Aber so anschaulich wie in diesem Werk wird es nicht noch mal.

Alfred Döblin: November 1918, Tetralogie, Rütten & Loening, Berlin, 1981

Wilfried F. Schoeller, Döblin. Eine Biographie, Carl Hanser Verlag München, 2011

Die die Göttin ihrer Bilder ist

November 23, 2020 2 Kommentare

Freier Blick auf freie Bilder
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Momentum

Man kann froh sein, wenn überhaupt noch was stattfindet neben dem, was man selbst stattfinden lässt, und so ist man auch dankbar für eine Ausstellungseröffnung mit kleinem Besteck. Ellen Fuhr bei Helle Coppi, Berlin Mitte, Auguststraße. Keine Rede, keine Musik, kein Wein, aber eine Kanne und eine Turm von Bechern, vielleicht für Kaffee. Maximal 16 Besucher dürfen rein, aber als wir kommen, stellt sich das Problem nicht mehr.
Ellen Fuhr ist 2017 mit 59 Jahren gestorben; man begreift es nicht. Man begreift es noch weniger, wenn man ihre Bilder sieht, in denen so viel Kraft steckt. Man sieht da, was man in der Realität nur ahnt, das Eruptive der Großstadt, sie nimmt alles auseinander und setzt es neu wieder zusammen, Trassen, Brücken, Treppen = Auf- und Abstiege, Brandmauern, Hochhäuser, Stahl, Stein und Beton, die schrägen Winkel, die scharfen Kanten, die Kurven, der Text der Stadt, Gesichter, die plötzlich auftauchen und dich verfolgen, die Schluchten, der Dreck, der dir in die Fresse fliegt, und es liegt doch alles in der Hand der Malerin, die die Göttin ihrer Bilder ist. Die Hinterlassenschaft von Ellen Fuhr. Es ist mehr Döblins als Zilles Berlin, die Selbstbehauptung in der Verlorenheit. Für den Himmel bleibt wenig Raum. Und immer wieder dieses Berliner U-Bahn-Blau. Die Stadt war ihr Thema. Die Stadt. Das Meer. Der Kopf. Und das Glück. Die Köpfe: Das sind wie immer wenige kräftige Linien, du bist der Meinung, du kennst diese Leute, und du kennst sie wirklich, Simone Signoret, Elvis Presley, Christa Wolf, immer hat Ellen Fuhr das einzigartig Individuelle erfasst.
Im Gespräch mit Urszula Usakowska-Wolf hat sie erzählt, dass sie schon immer gezeichnet hat, schon als Kind, und dass sie die Erfahrung machte, dass die Leute das, was sie zeichnete, besser verstanden als das, was sie sagte. In der DDR war sie eine Künstlerin, die von den Radierungen, die sie verkaufte, gut leben konnte. „Es passierte nichts, man hat sich verkrochen, man hat seine Künstlerfreundschaften gepflegt, ich habe damals Kette geraucht, man hat sehr viel getrunken, man hat sehr viel gejammert. In Dresden war es noch schlimmer als in Berlin … da war schon eine sehr starke Selbstbemitleidung. Das war dann in Berlin nicht mehr so. Es gab im Prenzlauer Berg … damals noch eine sehr romantische und melancholische Grundstimmung, das war ein Lebensgefühl dort Wir kannten uns alle untereinander. Das hatte etwas von einer Schrebergartenkolonie.”
Als der Westen kam, dachte sie daran aufzuhören. Angeblich war nun alles falsch, was sie gemacht hatte, das gegenständliche, figürliche Malen, aber wie Neo Rauch konnte sie sich sagen: Was bin ich denn, wenn ich nicht male!, und so haben wir diese Bilder, diese Wirbel, diese Dynamik, diese Hinterlassenschaft, an einem Sonnabend im November und für immer.

Alfred Döblin und November

November 1918. Erschienen bei Rütten & Loening Berlin 1981

Ich war bei Döblin gelandet. November 1918. Tetralogie. Erster Band Bürger und Soldaten. Sie blickte mit einer kleinen Kopfbewegung in die Stube zurück. Das ist der erste Satz. Die Zeit, in der es noch Stuben gab. Es ist früh, die alte Frau geht an jungen Soldaten vorbei, sie kehrt Pferdemist für ihr Gärtchen in einen Eimer, dann ist sie im Lazarett und wischt die Korridore. Die alten Frau Hegen, ihr Mann mit seinen Krücken, der Pfarrer, der blinde Hauptmann, der Oberstabsarzt des Lazaretts, die Krankenschwester Hilde, der verwundete Oberleutnant Becker, sein Kamerad Maus, der fliehende Leutnant Heiberg, Hanna, seine Geliebte, der Soldatenrat, der Spekulant, der Weiberheld, Karl Liebknecht. Die Krieg ist aus. Wir haben Revolution. Eine deutsche Revolution. Viel Platz gibt Döblin seinen Figuren nicht, wenig Tiefe, der Leser verliert sie leicht, aber so sind eben die Zeiten. Der Mensch spielt eine mindere Rolle. Er schluckte an dem Kaffee, schob ihn weg, sagte: „Minute.” Sie ließ ihn allein. In der Küche kein Bursche, keine Aushilfe, kein Geschirr. Oh, diese Revolution. Und dann das Hühnerauge. In diesemTon. So schreibt Döblin über diesen deutschen November. „Man muss sprechen, um zu wissen, was man ist.”
Ich sehe die historische Nähe zu Dos Passos’ USA-Trilogie und weiß auf Seite 275 immer noch nicht, wie sehr oder wie wenig mir das Buch gefällt. Auf jeden Fall gefällt mir diese Stelle über eine Zimmer-Wirtin in einem der niedrigen Häuser der unteren Wilhelmstraße in Berlin: Sie war in den Fünfzigern und ehemals reizvoll, jetzt mehr fett. Sie arbeitete an sich mit Binden und Korsettagen, an ihrem gewaltig, üppig und üppiger anschwellenden Körper. Sie war früher so schlank und elegant gewesen, ein Liebling sehr vieler Männer. Ihr Körper war wie ein Acker, der eine Zeitlang nichts hergab – und jetzt so viel, dass man keine Hände hatte, um alles Korn einzuholen. (Wenn das heute jemand so schriebe: Könnte er es überleben?) Man muss es so hinnehmen: Döblin, der Nervenarzt, ist kühl und gelegentlich gnadenlos. Er macht sich, wie (Hanns Joachim Friedrichs) mit keiner Sache gemein, auch nicht mit einer guten. Dabei sein, aber nicht betroffen sein. So bekommt der Leser ein undramatisches Bild der Ausläufer des Kriegs und einer diffusen Revolution. Döblin redet etwa von guterzogenen Revolutionären.
Gut zu vergleichen: Dos Passos verfolgt die Wege seiner Figuren, die Irrungen und Wirrungen zielstrebiger; man sieht, wie das Schicksal arbeitet. Döblins Gestalten werden bald vom Strom der Ereignisse verschluckt. Man erkennt sie kaum wieder, wenn sie erneut auftauchen.
Der Roman handelt in Berlin und im Elsaß. In Folge des Kriegs fiel Elsaß-Lothringen an Frankreich. Die Deutschen mussten das Gebiet mit ein paar Habseligkeiten verlassen, meine Oma auch mit ihrer siebenjährigen Tochter. Danach war sie mehr oder weniger heimatlos. Sie war sehr religiös und hasste die Franzosen. Ihre Tochter (meine Mutter) gewöhnte sich an Stettin, dann an Güstrow und schließlich an Minden. Meine Oma besuchte noch ab und an ihre Brüder, die merkwürdigerweise im Elsaß bleiben konnten, die Passlacks, Onkel Otto und Onkel Edi (Eduard). Döblin hat mir jetzt nachträglich geholfen, meine Oma ein bisschen besser zu verstehen, die Umstände ihrer Flucht.
Eine Elsässerin lässt Döblin über die Deutschen sagen: „Sie haben das Land so – dumm gemacht. Wohin sie kommen, machen sie die Menschen plump, dick und dumm. Sie verbreiten das Schafsgemüt. Habe ich recht? Die sauberen Straßen, die pünktliche Post und das. Ich mag nicht mal ihren Heinrich Heine, obwohl der Jude war und gegen sie sein sollte …”
Aber das ist nur eine Stimme aus einem Stimmengewirr. Du liest das Buch und stehst mitten in einer Wirklichkeit, wie sie vielleicht war vor hundertundzwei Jahren.

Es war einmal im Buchhandel (3)

Buch Disko Florastraße. Die Buchhändlerin von Arbeit mehr oder minder zugedeckt
© FJK

Auf nach Pankow. Ostkreuz Rolltreppe rauf und rein in die Ringbahn. Eine volkstümlich dicke Familie dominiert weitgehend den Wagen. Die übrigen Passagiere staunen mit offenen Mündern. Der Hehler ist schlimmer wie der Stehler, belehrt die Mutter ihren Sohn, der aber nicht geneigt ist, die Lehre anzunehmen, falls er überhaupt zugehört hat, während er aufs Smartphone einhackt.

Im Bistro „Wo der Bär den Honig holt” sitzen meine Töchter, die mir die Tour durch die Berliner Buchläden schenkten, um durch eine Art Initialzündung den Buchhandel zu retten. Ich nehme einen Espresso. Die Buchdisko ist gleich neben dem Bistro, eine Buchhandlung für Literatur + Theater. Die Inhaberin, am Tisch sitzend, ist Dramaturgin oder Dramaturgin gewesen. So ist auch Krischa Hasselbachs Laden wie eine Bühne. Die Bücher zeigen ihre Gesichter, nicht ihre Rücken. Plakate, Fotos und Zitate an den Wänden. Amos Oz, Robert Seethaler und Flake. Heute hat die Welt Geburtstag. Mich interessieren die Bücher, die ich anderswo nicht sehe. Zwei Romane von Claude Simon, eine der interessantesten Stimmen des Nouveau Roman. Am Ende entscheide ich mich für Döblins Wallenstein und für Samuel Beckett: The End, ein kleines Paperback aus der Reihe Penguin Modern Classics. „Nachdem die Böhmen besiegt waren, war niemand darüber so froh wie die Kaiser. Noch niemals hatte er mit rascheren Zähnen hinter den Fasanen gesessen, waren seine fältchenumrahmten Augen so lüstern zwischen Kredenz und Teller, Teller Kredenz gewandert.” Wenn ein Roman so anfängt, kann ich schwerlich widerstehen. Und der Beckett: „They clothed me and gave me money. I knew what the money was for, it was to get me started.” Ich zeige der Dramaturgin/Buchhändlerin meinen Gutschein und erzähle ihr die Geschichte. Irgendwas müssen Sie richtig gemacht haben mit Ihren Töchtern, sagt sie. Ja. Wenn ich nur wüsste was, sage ich.

Einar & Bert Winsstraße. Hinten rechts wird auf- und eingeräumt

Die Florastraße liegt im Schatten, der nächste Laden, Einar & Bert, ist in der Winstraße, da gehe ich durch die heißesten Steine der brütenden Großstadt. Einar & Bert klingt verdammt nach Einar Schleef, soll auch so sein, und Bert klingt nach Brecht, das ist eine Theaterbuchhandlung, in der man auch Belletristik und Philosophie kaufen und Kaffee trinken kann, ab und an soll in dieser gediegenen Atmosphäre auch ein Theaterschaffender vor sich hin arbeiten. Am Ende der langen Regalwand sind zwei, ich denke, Abiturientinnen, die schätzungsweise spanisch sprechen, damit beschäftigt, auf- oder einzuräumen, sie sind lustig, sie lassen ab und zu was fallen und wenn ich mich nicht täusche, stellen sie die Bücher auf den Kopf, damit man die Buchrücken von links lesen kann, und nicht von rechts, wie man es gewöhnt ist.

Ich könnte hier endlich mal einen Roman von Catalin Dorian Florescu kaufen oder den schnellberühmt gewordenen Fluchtroman „Underground Railroad” von Colson Whitehead oder auch die neue Übertragung der Ilias, die sich erstaunlich modern liest. Bleibe aber hängen bei „Arbeit am Mythos” von Hans Blumenberg. Fast 700 Seiten. Da werde ich lange zu lesen haben. Hans Blumenbergs Sätze sind nicht leicht zu überschauen. Wie hat der Mensch seine Götter gefunden und erfunden. Was hat es mit dem Absolutismus der Wirklichkeit in Vergangenheit und Vorvergangenheit auf sich. „Er bedeutet, dass der Mensch die Bedingungen seiner Existenz nicht annähernd in der Hand hatte und, was wichtiger ist, schlechthin nicht in seiner Hand glaubte. Er mag sich früher oder später diesen Sachverhalt der Übermächtigkeit des jeweils Anderen durch die Annahme von Übermächten gedeutet haben.” Das könnte die Geburtsstunde der Götter gewesen sein.

Whisky Market. Heller Whisky zum dunklen Buch

Es begibt sich aber, dass ich jetzt noch einen Gutschein für den Whisky Market in der Tasche habe, der sich ebenfalls in der Winsstraße befindet. So viele schöne teure Flaschen. Im Gespräch mit dem Whisky-Händler wird mir meine ganze Ahnungslosigkeit bewusst. Ich will einen hellen Whisky ohne diese rauchige Geschmacksnote. Der Händler führt mich an den Flaschen entlang, ich kann nicht anders, als ihm vertrauen, und das ist ja auch mal ganz schön im Leben. Ich entscheide mich für Hepburn’s Choice Blair Athol 2009. Einen so hellen Whisky hatte ich noch nie. Fast so hell wie Wasser.

Unlust auf Anderes

Berlin Warschauer Straße, unterer Bereich
© Fritz-Jochen Kopka

Ich habe eine Gutschein gestützte Tour durch sieben Berliner Buchhandlungen vor mir, und bei Shakespeare & Sons fange ich an. Warum bei Shakespeare & Sons? Weil das in der Warschauer Straße ist und die Warschauer Straße ist mir eben aufgefallen. Die Straße ist alles andere als hübsch. Vielmehr laut, dreckig, schroff. Und in der Nacht ist sie am S-Bahnhof Partymeile, wo die berüchtigten Antänzer auftreten und dich berauben. Hörensagen. Wenn du abends um zehn in der vollen S-Bahn sitzt, am S-Bahnhof Warschauer Straße steigen alle jungen Leute, vor allem junge Touristen, aus und erwarten was ganz Tolles von der Nacht. Aber das Erwartete kommt nicht. Kommt nie. Döblins Berlin Alexanderplatz ist jetzt hier, habe ich gesagt. Nicht der beste Ort, um etwas Neues anzufangen, und doch gibt es viele Läden, Restaurants, Bistros, mehr oder weniger wilde, bunte Versuche, mehr zu schaffen als den Start, und als ich das letzte Mal hier war, saß ich im New Arirang, einem koreanischen Imbiss, und hatte das Gefühl, ich sei in New York.

Der Fahrradhelden vom Frankfurter Tor

Ich steh am Frankfurter Tor und warte auf Verheugen, der beim Start der Tour dabei sein will. Am Rand des Platzes sitzen einige junge Fahrradkünstler, von denen ab und zu einer in die Pedale tritt, die Treppe des Turms in kurzen Sprüngen überwindet, abbiegt und mit einem einzigen Sprung hinunterstürzt, wobei er mitten im Flug vom Rad abspringt.

Verheugen ist mürrisch, weil er für das Stück vom Alex zum Frankfurter Tor zehn Minuten länger brauchte als angenommen. Sind das schon die nachlassenden Kräfte des Alters? Die Fahrradhelden interessieren ihn nicht, sowas sieht man in Berlin an jeder Ecke. Wir biegen in die Warschauer ein. Vollgestopft mit Straßenbahnen, PKW, schrägen Läden, Graffiti, alles schreit nach Aufmerksamkeit. Aufbruch, Durchhalten und Untergang. Hier hast du deinen Roman, sage ich, Berlin Warschauer Straße. Verheugens Mundwinkel haben Merkel-Format: So sieht’s doch überall aus.

Freche Gemeinschafts-Bettler in Feierlaune, melancholisch-schläfrige Solobettler. Sprachengewirr. Anmache und Verfall. Studenten, Groß- und Kleinfamilien. Händler, die vor ihren Läden stehen, um Kunden anzulocken. Bei New Arirang sind die Jalousien unten. Geschlossen. Das Poster mit dem Speisenangebot. Alles auf koreanisch, sagt Verheugen höhnisch. Eine Welt, die ihm immer fremder wird, wenn auch unter den koreanischen Zeilen die deutschen Übersetzungen stehen. Wir suchen das nächste Asia Restaurant auf. Der Laden ist leer, für Verheugen ein schlechtes Zeichen. Nicht mal die charmante Kellnerin hellt seine Stimmung auf. Er nippt nur mal so am Saigon Bier, stochert in seinem Chicken-Salat, um in Abständen zu sagen: Die Sauce ist komisch. Als könnte er von ihrem Genuss jeden Moment tot umfallen.

Shakespeare & Sons, Books & Bagels

Wo ist denn nun diese verdammte Buchhandlung! Sie ist genau da, wo sie unter anderem Namen schon zu DDR-Zeiten war. Ein langer Schlauch, rechterhand die Regale, links die Fensterfront. Viel verschenkter Platz für einen Buchladen. Und jetzt gibt’s neben Büchern eben auch Bagels, Tee- und Kaffee-Spezialitäten. An der Fensterseite Tische, an denen hacken sie in ihre Laptops, junge Typen in T-Shirts, Kniejeans und Basecaps. Das sind ja nur englische Bücher!, sagt Verheugen. Er ist schon immer ein großer Leser gewesen, hat mit elf Jahren Dostojewski, Thomas Mann und Tolstoi gelesen, aber dass er in einem Bücherparadies steht, das ihn ausschließt, da er kein englisch kann, das machte ihn echt cholerisch. Er ist wie der Verdurstende vor einem Krug Wasser, den er nicht zu öffnen vermag. Er will hier raus, sofort, und drängt mich zur Eile. Ich wähle James Joyce „Finnegans Wake”. Macht Sinn, ein unübersetzbares Werk zu kaufen. Mal sehen, was man als deutscher Leser damit anfangen kann. Willst du das mit’m Wörterbuch lesen?, fragt Verheugen höhnisch. Ich sage nichts. Der Tag ist nicht mehr zu retten.

An einem warmen Wintertag

Januar 25, 2018 2 Kommentare

Hier war mal ’ne Post. Oder ’ne Bank. Lange her
© Fritz-Jochen Kopka

Im Radio erforscht eine Schriftstellerin die Psychologie der Bettler und der Passanten, die ihnen was geben oder auch nichts geben. Dafür bemüht sie ihre Freunde D. und A. und ihre Freundinnen K., C. und B. Das Ganze ist dann ein politisches Feuilleton. Es ist mein Augenarzttag. Schneller als gedacht ist die Zeit rum. Ich muss meinen Raum verlassen. Ohne Laufschuhe, wegen des Lochs im Obermaterial. Die normalen Herrenhalbschuhe sind meinen Beinen unangenehm. In der S-Bahn sitzt der Wiesel (wir nennen ihn so wegen seiner steten Eile) neben mir. Ich höre, während ich Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, lese, von ihm in Abständen ein inwendiges Stöhnen.

Mit den Bahnen habe ich Glück. Sie kommen ohne Verzug. Koch-Straße, das Haus, in dem wir das Begrüßungsgeld holen wollten, ist jetzt ein Starbucks. Das war damals eine Post oder eine Bank. Denen war das Geld ausgegangen, wir mussten weiter in die Ritterstraße, wo ein Mann aus der Provinz das Geld für seine gesamte Familie einforderte. Dann müsse er auch den Personalausweis seiner Frau vorzeigen. Der Mann rückte und rührte sich nicht. Wahrscheinlich hatte ihm seine Frau eingeschärft, dass er sich nicht abweisen lassen solle. Das mit dem Personalausweis – Das ist uns in Cottbus nicht gesagt worden, sagte er. Das wurde für uns zum geflügelten Wort. Das ist uns in Cottbus nicht gesagt worden. Immer, wenn etwas nicht nach unseren Wünschen lief. Friedrichstraße. Markgrafenstraße. Ich könnte hier ehemaligen Chefs und Exfrauen in die Arme laufen. Was mir erspart bleibt.

Alte oder dicke oder seltsame Männer beim Augenarzt. Man spürt, wie das Leben vage an ihnen vorbeizieht. Der Graue Star ist, wie sich das für ihn gehört, bei mir auf dem Vormarsch. Das muss nun in Halbjahresabständen beobachtet werden bis zur Operation. In der Nähe des Springer-Hauses rauchen viele hochgewachsene Männer E-Zigaretten. Der Vorgang hat etwas Technisches, gar nichts Genussvolles, eher Obszönes. Springer und die E-Zigarette, das passt zusammen, finde ich, kann es aber nicht begründen.

Es war einmal eine City-Klause

Ich gehe jetzt nicht die lange, lange Friedrichstraße runter, ich fahr mit der Bahn bis Oranienburger Tor. Da ist ein altes Eckhaus anspruchsvoll rekonstruiert. Das Partnerhaus an der anderen Ecke ist noch grau und voller Narben. Hat auch was. In der City-Klause hat sich immer noch nichts getan. Der Eigentümer war stolz auf seine besonders gute Bockwurst und seine prominenten Gäste, er nannte Nina Hagen und Armin Müller-Stahl, aber dann war hauptsächlich der Herr Friedrich da, das war eine lebensgroße Puppe, die potentiellen Gästen die Angst vor dem leeren Lokal nehmen sollte. Das nördliche Stück der Friedrichstraße wurde damals umgewühlt, Baulärm und Baudreck waren allgegenwärtig, die Straße war mehr oder weniger tot, und an diesem Ende hat sie sich auch noch immer nicht richtig erholt. Das war 1994. Dem City-Klause-Wirt sollte ein Reisebüro nachfolgen; aber nichts ist.

In der Reinhardt-Straße zweigt der kleine Nebenarm Am Zirkus ab, ansonsten gibt es hier italienisches Essen, japanisches Essen, türkisches Essen und liberales Essen. Und den Buchladen Langer-Blomqvist, den Autoren und Verlagsmitarbeiter besser meiden sollten wegen der halben Preise, zu denen ihre Bücher hier nicht lange nach Erscheinen angeboten werden. Man kann nichts dazu sagen. Diese Buchhändler sind clevere Leute, die einen guten Überblick über Verlage und Ausgaben haben. Jetzt gibt’s auch noch ’ne Bonuskarte. Wer 9 Taschenbuch-Mängelexemplare gekauft hat, bekommt eines gratis. Warum ist mir das nicht gesagt worden, sage ich scherzhaft und denke an den Mann aus Cottbus, siehe oben. Wahrscheinlich haben Sie keine Taschenbücher gekauft, sagt sie. Doch doch, sage ich, aber ich nehme an, ich sehe zu vermögend aus. Ja, sagt sie, reiche Leute profitieren nicht von dieser Maßnahme.

Koreaner, Studenten, Lebenskünstler

Ein Buchladen am Tag reicht. Ich geh heut nicht mehr ins Dussmann-Kulturkaufhaus. Das Currywurstbistro ist leer. Ich steige in die Bahn und Warschauer Straße wieder aus. Ein milder, fast schon ein Frühlingstag. Ich würde sagen, Döblins Berlin Alexanderplatz ist jetzt hier. Eine lärmende, unaufgeräumte Straße. Bettler aus aller Herren Länder sitzen auf ihren zusammengerollten Schlafsäcken und warten auf ihr Glück. Ein Russe mit dem bewundernswerten Bass der Ostkirchen. Ich will in den Malerbedarf, muss aber vorher was essen, sonst kriege ich schlechte Laune und kaufe gar nichts. Ein kleiner Koreaner. New Arirang. Zwei Achtertische, drei Zweiertische, siebzehn Leute, nach meiner Schätzung alle Studenten und Lebenskünstler. Und der größte Lebenskünstler ist der Wirt. Er kocht, er serviert, er kassiert, er verbeugt sich, was nicht das Unwichtigste ist, er springt zwischen Töpfen, Tiegeln und Pfannen hin und her. Flammen zischen auf, im Laufschritt geht es an die Tische. Ein junger Koreaner mit androgyner Ausstrahlung hat seine Freunde mitgebracht und bereitet ihnen am Tisch mit asiatischer Gelassenheit eine authentische Mahlzeit.

Vorspeisen. Rechts unten war die schärfste

Der Wirt ist ein Mann in mittleren Jahren mit langen Haaren und einer hohen Stirn. Unwillkürlich muss ich an den weitgehend unbekannten koreanischen Tennis-Spieler Hyeon Chung denken, der gerade die Australian Open aufmischt. Ein Sportler mit weißer Popart-Brille, Popart-Frisur und stämmigen Beinen, die extreme Bälle erlaufen. Das hat schon was Unheimliches. Erinnert an eine Comic-Figur. Ein künstliches Wesen. Er hat Sascha Zverev und Novak Djokovic aus dem Turnier geworfen. Aber hier, der Wirt im New Arirang, sein Landsmann, überzeugt mich mit seiner ungebremsten Leistungsfähigkeit davon, dass auch Chung zu hundert Prozent echt ist. Die Koreaner sind eben im Kommen.

Ich kriege erstmal ein koreanisches Bier und die Vorspeisen auf vier weißen Schälchen, mariniertes Gemüse, so feurig, dass mir der Rachen brennt. Gut scharf, sage ich. Der Wirt deutet auf die Sauce auf dem Tisch. Nein, nein, wehre ich ab, ist scharf genug.

Warschauer Straße kommt nicht zur Ruhe

Die Studenten und Lebenskünstler haben sich viel zu erzählen. Wir sind wie unter Schwestern und Brüdern. Es ist ein kleines Lokal in einer lauten Straße in Ostberlin, und es ist eine glückliche Stunde an einem verdammt warmen Wintertag.

 

 

 

Döblin

Vor sechzig Jahren starb Alfred Döblin in Emmendingen bei Freiburg. Er war 78 Jahre alt und hatte nach seiner Rückkehr aus dem Exil keine guten Jahre mehr in Deutschland gehabt. Er fühlte sich vergessen und wenn nicht, dann auf seinen Roman „Berlin Alexanderplatz” reduziert. „Sie hatten mich auf eine Formel gebracht: Schriftsteller des Milieus, der Unterwelt, der Berliner Unterwelt, so dass, als ich in Berlin sprach, mich wieder diese Formel empfing.”

Döblin und Berlin. Er arbeitete als Armenarzt und schrieb; er schaffte ein gewaltiges Pensum. 1933 musste er die Stadt verlassen, 1947, nach dem Exil in Frankreich und den USA, nach Krieg und in der Nachkriegszeit, sah er sie wieder. Man kann nicht sagen, dass er erschüttert war. „Ich wusste schon alles. Es ist keine große Phantasie nötig, nachdem man ein Dutzend zertrümmerter Städte gesehen hat, sich auch diese vorzustellen. Verstümmelung ist Verstümmelung, also auch hier die traurigen Reihen der Häuserskelette, die leeren Fassaden, die Schutthaufen, alles, was die Kriegsfurie und der Brand übriggelassen hatten. ” Als Kind, 1888, war Döblin nach Berlin gekommen, das schon Großstadt war, aber die „eigentliche riesenhafte Entwicklung” noch vor sich hatte. Die Orte, wo er seine besten Zeiten erlebte, sind noch zu erkennen, aber zum Schweigen gebracht. Döblin versucht sich zu erklären, was falsch gelaufen war in Berlin und in Deutschland. Er erwähnt den fürchterlichen deutschen Provinzialismus, den geistigen Rückstand – man konnte sich nicht zur Großstadt, zur Demokratie, ja, nicht einmal zur Gegenwart bekennen. Alle Deutungen helfen ja nichts. Man fällt der Resignation anheim und bleibt, jedenfalls Döblin, angriffslustig und kämpferisch. „Und wieder sehe ich: Ein Mensch hat es leichter als eine Stadt, sich zu ändern. Ein Mensch kann sich wandeln. Eine Stadt stürzt ein.” Ein Kunststück so eine Bemerkung, die sowohl zu zuversichtlich als auch zu pessimistisch ist.

Zitate aus Alfred Döblin: Autobiographische Schriften und letze Aufzeichnungen, Walter-Verlag AG Olten 1980

Berlin Alexanderplatz (26): Kurz vor Ostern

März 25, 2016 2 Kommentare

Forder ick dir uff oder du mir?

Forder ick dir uff oder du mir?

Wieder spielte eine Band auf dem Alexanderplatz, dieses Mal unter der S-Bahnbrücke. Es war, wie ich meine, eine englische Band, eine junge Frau und fünf junge Männer. Viel Volk hatte sich um sie versammelt und fotografierte mit gezückten Smartphones. Eine Betrunkene mit bunt bemaltem Gesicht und ein Zugedröhnter, der sich eines Teils seiner Kleidung entledigt hat und seine picklige Schulter zeigt, finden sich zu einem taumeligen Tanz. Es ist Donnerstag vor Ostern und es scheint Mode zu sein, dass die Leute nicht mehr Eier bemalen, sondern ihre Gesichter. Die ewig gleiche Kulisse für alle Feste wird aufgebaut, Buden, Kinderkarussell, Biergarten, Windmühle. Ich bin auf dem Weg zu Verheugen und denke, er sollte hier nicht wohnen bleiben, es kreuzen zu viele abenteuerliche Gestalten hier rum. Bettler mit unterschiedlichen Techniken. Stille Demut in der Kälte und Frechheit siegt. Berlin Alexanderplatz wie bei Döblin. Aber es gibt auch sympathische Tage.

Mach mal Pause, Tambourineman © Fritz-Jochen Kopka

Mach Pause, Tambourine-Man
© Fritz-Jochen Kopka

Karl-Marx-Allee. Ich entsorge den Müll, dazu braucht man einen Schlüssel, sonst kommt man an das Entsorgungsparadies gar nicht erst ran. Die Container für den Hausmüll sind trotzdem am Überquellen. Und wieder gehe ich über den Alexanderplatz. Und wieder spielt eine Band, die aber hauptsächlich von der Konserve lebt. Ein Trinker tanzt mit seiner Pulle und findet es großartig, wenn er das Bier verschüttet, muss er es nicht mehr selber trinken, hat sowieso genug. Zwei Funkwagen stehen bereit. Die Bullen sehen sich das nicht lange an. Bei kik kaufe ich eine Freizeithose der Marke Identic und zwei Boxershorts. Beileibe nicht für mich. Jetzt habe ich Hunger und ordere eine Currywurst XL. Was zu trinken?, fragt der Verkäufer, Bier, Cola, Wasser, Wein, Schnaps? Nein. Nichts. Bei der Soße müssen sie noch lernen. Sie ist so dick wie Pudding und schmeckt auch ein bisschen puddingmäßig. Gegen acht gehe ich ein letztes Mal an diesem Tag über den Platz. Je dunkler der Alex ist, desto unheimlicher wird er auch. Auf in den Südosten Berlins, sage ich. Das ist eine ruhige und harmlose Gegend, meinte einst ein Mitarbeiter der Bundestagsverwaltung, der von Bonn nach Berlin ziehen musste.