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Archive for Mai 2018

Unlust auf Anderes

Berlin Warschauer Straße, unterer Bereich
© Fritz-Jochen Kopka

Ich habe eine Gutschein gestützte Tour durch sieben Berliner Buchhandlungen vor mir, und bei Shakespeare & Sons fange ich an. Warum bei Shakespeare & Sons? Weil das in der Warschauer Straße ist und die Warschauer Straße ist mir eben aufgefallen. Die Straße ist alles andere als hübsch. Vielmehr laut, dreckig, schroff. Und in der Nacht ist sie am S-Bahnhof Partymeile, wo die berüchtigten Antänzer auftreten und dich berauben. Hörensagen. Wenn du abends um zehn in der vollen S-Bahn sitzt, am S-Bahnhof Warschauer Straße steigen alle jungen Leute, vor allem junge Touristen, aus und erwarten was ganz Tolles von der Nacht. Aber das Erwartete kommt nicht. Kommt nie. Döblins Berlin Alexanderplatz ist jetzt hier, habe ich gesagt. Nicht der beste Ort, um etwas Neues anzufangen, und doch gibt es viele Läden, Restaurants, Bistros, mehr oder weniger wilde, bunte Versuche, mehr zu schaffen als den Start, und als ich das letzte Mal hier war, saß ich im New Arirang, einem koreanischen Imbiss, und hatte das Gefühl, ich sei in New York.

Der Fahrradhelden vom Frankfurter Tor

Ich steh am Frankfurter Tor und warte auf Verheugen, der beim Start der Tour dabei sein will. Am Rand des Platzes sitzen einige junge Fahrradkünstler, von denen ab und zu einer in die Pedale tritt, die Treppe des Turms in kurzen Sprüngen überwindet, abbiegt und mit einem einzigen Sprung hinunterstürzt, wobei er mitten im Flug vom Rad abspringt.

Verheugen ist mürrisch, weil er für das Stück vom Alex zum Frankfurter Tor zehn Minuten länger brauchte als angenommen. Sind das schon die nachlassenden Kräfte des Alters? Die Fahrradhelden interessieren ihn nicht, sowas sieht man in Berlin an jeder Ecke. Wir biegen in die Warschauer ein. Vollgestopft mit Straßenbahnen, PKW, schrägen Läden, Graffiti, alles schreit nach Aufmerksamkeit. Aufbruch, Durchhalten und Untergang. Hier hast du deinen Roman, sage ich, Berlin Warschauer Straße. Verheugens Mundwinkel haben Merkel-Format: So sieht’s doch überall aus.

Freche Gemeinschafts-Bettler in Feierlaune, melancholisch-schläfrige Solobettler. Sprachengewirr. Anmache und Verfall. Studenten, Groß- und Kleinfamilien. Händler, die vor ihren Läden stehen, um Kunden anzulocken. Bei New Arirang sind die Jalousien unten. Geschlossen. Das Poster mit dem Speisenangebot. Alles auf koreanisch, sagt Verheugen höhnisch. Eine Welt, die ihm immer fremder wird, wenn auch unter den koreanischen Zeilen die deutschen Übersetzungen stehen. Wir suchen das nächste Asia Restaurant auf. Der Laden ist leer, für Verheugen ein schlechtes Zeichen. Nicht mal die charmante Kellnerin hellt seine Stimmung auf. Er nippt nur mal so am Saigon Bier, stochert in seinem Chicken-Salat, um in Abständen zu sagen: Die Sauce ist komisch. Als könnte er von ihrem Genuss jeden Moment tot umfallen.

Shakespeare & Sons, Books & Bagels

Wo ist denn nun diese verdammte Buchhandlung! Sie ist genau da, wo sie unter anderem Namen schon zu DDR-Zeiten war. Ein langer Schlauch, rechterhand die Regale, links die Fensterfront. Viel verschenkter Platz für einen Buchladen. Und jetzt gibt’s neben Büchern eben auch Bagels, Tee- und Kaffee-Spezialitäten. An der Fensterseite Tische, an denen hacken sie in ihre Laptops, junge Typen in T-Shirts, Kniejeans und Basecaps. Das sind ja nur englische Bücher!, sagt Verheugen. Er ist schon immer ein großer Leser gewesen, hat mit elf Jahren Dostojewski, Thomas Mann und Tolstoi gelesen, aber dass er in einem Bücherparadies steht, das ihn ausschließt, da er kein englisch kann, das machte ihn echt cholerisch. Er ist wie der Verdurstende vor einem Krug Wasser, den er nicht zu öffnen vermag. Er will hier raus, sofort, und drängt mich zur Eile. Ich wähle James Joyce „Finnegans Wake”. Macht Sinn, ein unübersetzbares Werk zu kaufen. Mal sehen, was man als deutscher Leser damit anfangen kann. Willst du das mit’m Wörterbuch lesen?, fragt Verheugen höhnisch. Ich sage nichts. Der Tag ist nicht mehr zu retten.

Ein komischer Mensch sein

Art and Nature
© Fritz-Jochen Kopka

In der S-Bahn waren nicht alle mit ihren Smartphones beschäftigt. Aber fast alle. Ein langer Typ mit Kappe und dichtem Bart versuchte, seine Begleiterin mit seinen Erzählungen zu beeindrucken, der ganze Wagen hatte was davon. Ich weiß gar nicht, was schlimmer ist. Die an den Smartphones oder die Performer. Markt auf dem Hackeschen Markt. Ein träger junger Bettler. Da wird schon was reinfallen, in seinen Plastikbecher, irgendwie, irgendwann und dann. Die Sparkassenfiliale ist geschlossen. Die Koreanerinnen haben keinen Reis mehr. Der Wurstverkäufer kann sein Englisch anbringen und ist bestens gelaunt. Die Gesichter hinter den Scheiben von Café Cinema. Die Fotos der Gäste, wahrscheinlich doch von Arvid Lagenpusch, wem der Name noch was sagt. Der lange Gang zum Kino. Viele junge Touristen, die die Street Art fotografieren. Ein paar liegengelassene Laufschuhe. Der Eisverkäufer hat keinen, der ihm ein Eis abkauft. Vor dem Asia Imbiss stauen sich die Asiatinnen und haben keine Lust, Platz zu machen für die Passanten. Ist das so bei euch? Die Gäste des Alten Europa unter schattigen Bäumen studieren minder begeistert die Speisekarte. Zwischen Liegewiese und Kinderspielplatz recken Bäume ihre radikal zurückgeschnittenen Äste in den wolkenlosen Himmel. Es brechen schon wieder neue Zweige aus. Der Königspudel der Friseurin soll nicht hinter fremden Hunden herrennen. Ein Ziehharmonika-Zaunteil hindert ihn weniger als seine Müdigkeit. Deborah hat die königliche Hochzeit in der British Embassy miterlebt. Harry und Meghan, sie lieben sich wirklich, das sieht man ja. Schön, dass sich das Könighaus für diese schöne Fremde, Schauspielerin, geschieden, geöffnet hat. Weniger schön, dass jetzt viele Britinnen sagen: Ich bin stolz, dass ich Britin bin. Was hat das eine mit dem anderen zu tun. Und seit dem Brexit ist alles anders. Im Ausland, sagt die Friseurin, ist es viel leichter, ein komischer Mensch zu sein als zu Hause. Den Rest des Tages verbringe ich im Biergarten vom Haus Berlin, Strausberger Platz. Verheugen hat seine Pfeife mitgebracht, eine ziemlich kleine, und eine ziemlich kleine Tabaksdose. Sieht bisschen schwul aus, sage ich. Unverschämtheit! Wieso, das ist doch nicht mehr abfällig zu verstehen. Das Schwule ist doch anerkannt. Er zögert, die Pfeife zu stopfen bei dem Wind. Der Wind kann schädlich für die brennende Pfeife sein. Ach was, sage ich, ich stopf dir die Pfeife mal richtig. Verheugen hasst es, wenn ich so tue, als verstünde ich mehr vom Pfeife rauchen als er, der er sein Leben lang Pfeife raucht (zur Zeit die Berliner Mischung) und sich schon die Zähne damit ruiniert hat. Man kann auch zu Hause ein komischer Mensch sein.

Was sagt uns das jetzt?

Immer mal schön, in Berlin zu sein

Das wird schon wieder

Einzelkämpfer und Gruppe. Und wo sind die Girls?

Der Serienschreiber als Romanautor

Nein. So stellen wir uns Heather Breakstone nicht vor. Ist ja auch Berlin Alexanderplatz und nicht New York
© Fritz-Jochen Kopka

„Alles über Heather”. Da war ich aber gespannt. Ein Roman von Matthew Weiner, dem geistigen Vater von „Mad Men”, mit denen für uns das Serienzeitalter begann. Das Buch wurde sofort hoch gelobt oder hochgelobt. „Eine teuflische Geschichte, die man in einem einzigen Atemzug lesen muss”, sagte James Ellroy. „Ich konnte das Buch nicht aus der Hand legen”, sagte Michael Chabon. „Atemberaubend”, sagte Nick Cave. Was sage ich? Mir hat es den Atem nicht geraubt. Ich musste es nicht in einem einzigen Atemzug lesen. Ich habe das Buch oft aus der Hand gelegt.

Da findet sich ein Paar, das gerade in seiner Mittelmäßigkeit so interessant ist. Und da sie, Frau und Mann, trotz ihrer Mittelmäßigkeit ihre Ansprüche haben, dauert es eben so lange, bis sie jemanden finden, mit dem sie zusammen sein können und wollen. Sie sind fast vierzig. Minus mal minus ergibt plus. Heather, die Tochter von Mark und Karin Breakstone, ist schön, intelligent, begabt und edel. Die Eltern können kaum fassen, was ihnen da gelungen ist, und Karen lebt nur noch für Heather, während Mark, dem Banker, alle Male der Sprung in die Spitzenklasse des Finanzadels misslingt. Sein bester Satz ist übrigens: „Manchmal unterschätzen die Leute mich.” Der nimmt Karen für ihn ein. Am anderen Ende der Skala wird im städtischen Krankenhaus von Newark Robert Klasky, genannt Bobby, geboren, Sohn einer alleinerziehenden Mutter, die sich während der Schwangerschaft hauptsächlich von Bier ernährte und einige Männer aufzählen könnte, die als Vater von Bobby in Frage kommen könnten. Von nun an bewegen sich der Heather-Planet und der Bobby-Mond unweigerlich aufeinander zu; das kann nur schlecht ausgehen, und das tut es auch, aber auf anderen Weise, als man vielleicht dachte. Das ist es. Am Ende zählt Weiner einige hundert Leute auf, denen er zu danken hat, dass dieser kurze Roman zustande gekommen ist. Offenbar haben sie ihm jede Menge schlechte Ratschläge gegeben und ihm geschmeichelt, denn der Text ist überraschend ungeschickt, naiv und altmodisch. Etwa so, als versuchte jemand, heute eine Kleistsche Novelle zu schreiben. Ist aber auch angenehm mitzubekommen, dass es keine Alleskönner mehr gibt. Der Serienkönig ist als Romanschreiber ein kleines Licht. Übersetzt hat Bernhard Robben. Ein erfahrener Mann und einer der, wie es heißt, renommiertesten deutschen Übersetzer, dessen deutschen Übersetzungen es immer ein wenig an Eleganz und Wucht fehlt.

Juan Rulfo

Drei Versuche, Juan Rulfo zu zeichnen

Vor hundert Jahren wurde Juan Rulfo geboren, wer war das: ein mexikanischer Schriftsteller, der mit ganzen 300 Seiten Prosa Weltruhm erlangte, dem Erzählungsband „Der Llano in Flammen” und dem Kurzroman „Pedro Páramo”, 1953 und 1955 erschienen. Seitdem schwieg er. Einen weiteren Roman, an dem er Jahre geschrieben hatte, vernichtete er.

„Ich bin kein professioneller Schriftsteller, ich bin nur ein einfacher Amateur. Ich schreibe, wann immer mich die Lust überkommt und wenn nicht, dann nicht … ”

Kindheit im Waisenheim. Arbeit in einer Reifenfabrik. Posten bei der Einwanderungsbehörde. Arbeit am Bewässerungsprogramm der Regierung. Werbetexter. Mitarbeiter des Instituto Nacional Indigenista.

Rulfos Sujet ist die gescheiterte mexikanische Revolution. Juan Preciado, der nach Comala kommt, um seinen Vater zu suchen, den Großgrundbesitzer Pedro Páramo, trifft auf ein apathisches Dorf. Die wenigen Menschen kommen ihm wie Verrückte vor, aber es dauert nicht lange, bis man feststellt, dass die Grenze zwischen Leben und Tod längst überschritten ist. Das Dorf ist voller Echos, die Nacht ist voller Gespenster, die Menschen sind voller Demut und blinder Wut. Trostloser kann Scheitern nicht aussehen. Was bleibt, ist ein Schattenreich. Der Roman „Pedro Paramo” endet so:

„Er stützte sich auf Damiana Cisneros’ Arme und machte einen Versuch zu gehen. Nach ein paar Schritten fiel er zu Boden. Er betete in seinem Innern, aber er sagte kein einziges Wort. Er schlug hart auf die Erde auf und fiel auseinander wie ein Haufen Steine.”

In den Regalen unserer Hallenser Freunde entdeckte ich noch eine andere Seite von Juan Rulfo und doch noch ein drittes Buch: „Wind in den Bergen. Liebesbriefe an Carla”. Rulfo sieht Carla Aparicio zum ersten Mal 1941 in Guadalajara. Sie ist ein Mädchen von 13 Jahren, er 24. Offensichtlich hat er sofort das Gefühl, dass Carla das Verschlossene, Albtraumhafte seines Lebens auflösen könnte. 1944 erklärt er sich ihr. Die Sechzehnjährige bittet ihn, drei Jahre zu warten. Juan Rulfo wartet und schreibt Briefe. Briefe, die mit seiner elementaren Prosa nicht zu vergleichen sind. Eine ähnliche Geschichte erlebte übrigens Gabriel Garcia Márquez. Auch er verliebte sich in ein Mädchen. Auch er verstand zu warten.

Die Geschichte von Clara und Juan geht gut aus, so weit die Geschichte eines traurigen Menschen eben gut ausgehen kann. Sie heiraten, haben vier Kinder. Die Bücher bringen Rulfo Ruhm, aber nicht genug Geld für die Familie. Der Ruhm aber wird für Rulfo mehr und mehr zur Verpflichtung, zu einem Anspruch, den er nicht erfüllen zu können glaubt. Das Unausweichliche geschieht, er zieht sich in sich zurück, verabschiedet sich vom Abenteuer Literatur.

Letzte Dinge

Unter alten Bäumen

Komm herab, zottige Nacht, Wolkenpelztier mit den alten Augen … So beginnt, wenn ich mich recht erinnere, Ingeborg Bachmanns Anrufung des Großen Bären. Warum fällt mir das jetzt ein, geht mir das jetzt im Kopf herum? Ich steige auch herab, aus dem zehnten Geschoss, als zottiges Wolkenpelztier, na ja, zumindest die alten Augen treffen zu, ich gehe an den südöstlichen Rand von Berlin zur Beerdigung, die Mutter eines Freundes ist gestorben, hat das rettende Ufer erreicht, sie war schon 104 und lag in einem Pflegeheim und lag und lag und wartete. Nun, da das Warten beendet ist und zum Ziel geführt hat, findet sich auf einem Friedhof eine große Familie ein. Alle sind gekommen. Söhne, Schwiegertöchter, Enkel, Urenkel. Diese große Familie ist es, was mich rührt. Junge Gesichter, in denen man ältere Gesichter wiedererkennt. Lebenswege, die sich kreuzen. Leben, die irgendwie gemeistert werden, tragische Ereignisse, komische. Mein Freund, der Sohn, sieht sich aus verständlichen Gründen nicht in der Lage, selbst zu sprechen, hat aber dem Friedhofsredner, sagt man so?, eine Ansprache zugearbeitet. Wer könnte es besser als er, der Poet, der aufgehört hat zu dichten, aber ein Poet bleibt immer ein Poet, auch wenn er nicht mehr schreibt.

Der Friedshofsredner macht seine Sache nicht schlecht, er hat die Ruhe, die Andacht, er macht die wichtigen Pausen, und doch ist unverkennbar, dass er sich nicht als Dienstleister zu sehen vermag, sondern Hauptakteur sein will. Er lässt es sich nicht nehmen, beim langen Leben der Hingeschiedenen das Jahrhundert mit ins Spiel zu bringen: Was alles ist Zeit ihres Lebens geschehen, woran hat sie Teil gehabt. Ich sehe meinen Freund, den Poeten, sein Gesicht, es ist verstört – von all dem war in seinem Entwurf nichts zu lesen, der war einfach nur schlicht und schön.

Ich weiß nicht, ob man es von mir erwartet: Ich nehme am anschließenden Beisammensein nicht teil. Der sogenannte Leichenschmaus. Wenn man Glück hat, stellt sich nach den Tränen, der Empfindung des Unausweichlichen wie durch Zauberei eine gelöste, fast heitere Stimmung ein. Wenn sich ein Leben vollendet hat. Wenn die Leiden vorbei sind. Wenn man sich erinnert, was man zusammen erlebt hat und was nicht vergessen wird. Was man immer wieder erzählen wird. Das soll der Familie gehören. Ich bin nicht dabei.

Ich erinnere mich an die Sonntage meiner Jugend. Oder noch Kindheit. Die stille Stunde, ich glaube vom Norddeutschen Rundfunk, vormittags um elf. Da hörte ich die Gedichte von Ingeborg Bachmann zum ersten Mal. Komm herab, zottige Nacht. Der Sprecher sagte irgendwas zu den Metaphern und wie sie alle zusammenpassten in den Bachmann-Texten. Wolkenpelztier mit den alten Augen. Das waren schöne Momente. Die werde ich auch mitnehmen ins Grab.

Was können wir tun?

Männer, die Frauen Mut zusprechen. Wir werden immer mehr.

An der Fleischtheke kaufte ich zwei Lammlachse. Ich nehm auch zwei Lammlachse, sagte die Kundin nach mir. Nein, drei. Ach, doch lieber zwei, wenn die so groß sind. Halten die sich bis morgen?

Woran kann man eigentlich nicht zweifeln, dachte ich.

Soll ich die im Papier lassen oder lieber rausnehmen?

Tun Sie die in eine Schüssel, einen Teller drüber und dann in den Kühlschrank, sagte die Verkäuferin.

Ich bin doch sehr oberflächlich, in meinem Einkaufsverhalten, warf ich mir vor.

Und jetzt noch was Mageres, sagte die Kundin und ließ den Blick unschlüssig über die Auslage schweifen.

Das ist mal ’ne Ansage, dachte ich.

Ach, lassen Sie, resignierte die Kundin. Mein Mann kommt dann selbst noch vorbei.

Seine Majestät, mein Mann, kommt selbst! Endlich hatte ich das Problem begriffen.

Liebe Frauen, was können wir tun, sagte meine innere Stimme verzweifelt, was können wir Männer tun, damit ihr die Gleichberechtigung, die wir euch auf dem silbernen Tablett präsentieren – damit ihr sie endlich ergreift! Wie können wir helfen?!

Ich fing gleich damit an. Dem Obst- und Gemüsekurden wünschte eine Dame einen schönen Feiertag. Moderne Männer, mischte ich mich ein, trauen sich gar nicht mehr, den Herrentag zu feiern. Mein Mann feiert ihn noch, sagte die Frau. Dann waren Sie nicht streng genug, sagte ich. Ach doch, sagte sie. Aber Umerziehung funktioniert eben nicht. Das habe ich aufgegeben. Ganz Ihrer Meinung, sagte ich. Das gilt allerdings auch umgekehrt. Sie überlegte kurz und gab mir recht. Dieses gelungene Gespräch war vielleicht ein erster kleiner Schritt zum größeren Selbstbewusstsein der Frauen. Ich kann nur hoffen, dass ich nicht der einzige Mann bin, der sich darum bemüht. Aber wie ich uns Männer kenne, legen sich da viele ins Zeug.

Demnächst: das gerechte Endspiel

Das gerechte Endspiel der Champions League, hört und liest man jetzt aus integrierten Kreisen, wäre Bayern München gegen AS Rom gewesen. Dann macht es doch: das Endspiel der Enttäuschten, der Sich-betrogen-Fühlenden-immer-wenn-sie-mal-verlieren! Dann wird’s für die Bayern vielleicht noch ein Triple, ein leicht deformiertes! Man könnte aus dieser Idee ein komplettes Schattensystem konstruieren. Die Verlierer der Viertel- und Halbfinals, die immer einen Grund finden, sich betrogen zu fühlen, spielen gegen die Verlierer der Parallelpaarungen, bei deren Niederlagen es natürlich auch nicht mit rechten Dingen zuging. Dann haben wir neben den normalen Halbfinals und Endspielen die gerechten Halbfinals und Endspiele. Es werden die gewöhnlichen Pokale überreicht und die gerechten Pokale. Und den Medien wird es ein Leichtes sein, die gerechten Sieger hochzuschreiben und die normalen Sieger mit Zweifeln zu bedenken. Es wäre die (überfällige) Postmoderne im Sport. Die Auflösung der erstarrten Strukturen. Die Identität der Vereine wird instabil. Ein Ergebnis wir stets nur ein vorläufiges Ergebnis sein. Es gibt viele Wahrheiten. Fantastisch, was sich aus der Realität alles herausholen lässt.

In der Natur der Sache

Wir vermissen hier nichts. Im Gegenteil.
© Christian Brachwitz

Die Kleingärtner sind wieder da mit ihrem dezenten Übergewicht und allem Schönen, was blasierte Leute Kitsch nennen. Wagenräder, Lichterketten, Pergolen und Kunstschmiedearbeiten. Wir sind mit unserem Garten älter geworden, und wir waren nie unzufrieden. In der Kleingartenkolonie hilft einer dem anderen und der andere dem einen. Hier draußen schmeckt der Kaffee auch viel besser nach getaner Arbeit. Und Arbeit gibt es immer genug. Es kommt darauf an, dass der Garten dem Vergleich mit anderen Gärten standhält. Und dass er auch etwas Besonders zu bieten hat. Das kann zum Beispiel eine einfache Ansammlung von Feldsteinen sein, sowas Rustikales. Die Kinder können hier Hopse spielen und alles Mögliche. Ab März löchern die uns schon: Wann geht’s wieder in den Garten. Wir haben hier auch schon wunderbare Spartenfeste gefeiert; jeder leistet seinen Beitrag, und am Ende gibt’s immer einen, der nicht mehr Herr seiner Sinne ist. Wir sind ja unter uns. Da kann man das schon machen. Am nächsten Tag gibt’s dann ein bisschen Spott. Nichts Bösartiges. Ich sag mal: Alles Böse hat im Garten keine Chance. Das liegt in der Natur der Sache.

Wie im Film

Abendlicht

Wir geben den Versuch, unserem Gast aus der ostwestfälischen Provinz, der sich für modernes Tanztheater interessiert, in Berlin modernes Tanztheater zu zeigen, nicht auf, auch wenn es dabei zu verstörenden Erlebnissen kam, zum Beispiel in den Sophiensälen. So viel Nacktheit und über den Fußboden rutschen hatte keiner von uns je gesehen.

Wir fangen noch mal an. Wir geben nicht auf. Gegen Sasha Waltz wird unser Gast nichts einwenden können. „Dialoge – Wirbel” findet im Radialsystem statt, früher Pumpwerk, heute Ort für Ideen und experimentelle Arbeitsprozesse in der Kunst. Kaum habe ich die Karten im Netz gekauft, fällt mir eine Rezension in die Hände, die Zeichen von Verstörtheit erkennen lässt. Das Programm ist dermaßen improvisiert, dass man es einfach nicht zu fassen bekommt. Nach der Pause soll jedoch alles gut werden.

Die Location nicht schlecht. Industriearchitektur, darüber eine moderne Fassade gesetzt. Halbrunde Fenster in der Abendsonne. Es scheint hier öfter zu passieren, dass Männer auf dem Damen-WC landen. Herren dort hinten, sagt eine Angestellte. Sie haben mich gerettet, sage ich. Ist ja auch so.

Hinterm Haus fließt die Spree. Und zwischen Haus und Spree lange Tische, Sonnenschirme. Das Publikum, jung, schlank , sophisticated, gönnt sich vor der Kunst noch einen Wein. Es sind die Schönen und Schöngemachten. Ein Mann mit einem Künstlerhut schließt die Absperrung zu einem Beobachtungstürmchen auf und steigt mit einigen eleganten Damen hinauf, beschlagene Gläser in der Hand. Wie sie posieren – auch das ist eine Bühne. Sind wir in einem Fellini-Film? Ja. Unbedingt. Eine Dame war beim Holländer, Pflanzen kaufen. Sie erzählt davon, als wäre es auf Bali oder Sumatra geschehen. Schiffe ziehen vorüber. Gewinkt wird nicht. Alle haben gute Laune und die Hysterie unter der Haut. Aber nun funktioniert der Einlass nicht. Anscheinend werden sie drinnen nicht fertig. Dazu Geschwätz: Die Berliner alternative Szene ist uuun-ter-ir-disch! – Echt?

Dann geht’s rein, sturzflutartig, mit Stockungen. Die Karten werden digital gecheckt, das kann nicht in jedem Fall funktionieren. Ein ansteigender Zuschauerraum. Auf den Treppen gerät man ins Stolpern. Die Bänke haben Kissen, aber keine Lehnen. Dafür haben wir eigentlich nicht die geeigneten Rücken. Es mögen zwölf bis vierzehn Tänzer sein vielerlei Geschlechts und drei oder vier Musiker im verhängnisvoll trüben Licht. Der Fellini-Film läuft weiter. Die Tänzer tanzen nicht. Sie beben, strampeln machen Schlangenbewegungen. Die Musiker musizieren nicht. Sie erzeugen Geräusche. Es geht um den „freien Geist der Improvisation” und „die Lust am Experiment”. Das sind fragile Dinge, noch dazu, wenn die Trikots wirken wie aus dem Altkleidercontainer gezogen. Ein Paillettenkleid ist auch dabei. Wird von einem Mann getragen und dann ausgezogen. „Wirbel sind Ereignisse, die vom Strom abweichen. Künstlerische Unabhängigkeit bedeutet das Heraufbeschwören von Wirbeln in einem alles erfassenden Sog der ökonomischen Verwertungsmechanismen …” , steht im Flyer. Ist das das Gramm Kapitalismuskritik, ohne die Kunst nicht geht? Die Performance löst keine Assoziationen aus. Der Plan, Wirbel zu tanzen, ist halt nur so eine Idee. Der Mensch kann das nicht. Löblich, dass man die Idee trotzdem umsetzt. Scheitern hat einen guten Ruf.

In der Pause spielen wir den Fellini-Film weiter. Unsere Rücken wollen nach Hause. Sie sehnen sich nach Stühlen mit Lehnen. Wir wissen zwar, dass jetzt alles besser wird, aber wir sind so frei, unseren Rücken zu gehorchen. Und haben das Gefühl, dass der Abend doch was gebracht hat. Wir können es noch nicht definieren.

 

Wo der Fußball regiert

Inoffizielles Mahnmal in Berlin-Hellersdorf
© Fritz-Jochen Kopka

Hier regiert der FCU. Auf seine Art. Diese Säule findet sich irgendwo in Hellersdorf. Ich weiß nicht mal, ob der Platz zwischen Kaulsdorf Nord und Kienberg, auf dem sich ein Lidl und eine Bowlingbahn befinden, einen Namen hat. Die Fußballsaison nähert sich dem Ende. Von Union aus betrachtet, also vom FCU, dem 1. FC Union Berlin, fällt der Trainerwechsel ins Auge. Unter Jens Keller, dem früheren Schalker Trainer, spielte Union um den Aufstieg mit, schoss Tore, brachte seine Stärken auf den Platz. Keller wurde völlig überraschend entlassen. André Hofschneider, alter und treuer Unioner, der gerade seinen Trainerschein gemacht hatte, wurde installiert. War da was vorgefallen mit Keller? Nein. Union wollte den fünften Schritt vor dem dritten machen; die Mannschaft sollte nicht so ausrechenbar sein, ein variableres Spielsystem einüben. In der Folge spielten sie nicht schlecht, aber notorisch erfolglos, als wollte der Fußballgott die Union-Bosse für diesen frivolen Trainerwechsel bestrafen. Mittlerweile ist man ein Teil des Abstiegskampfes, der gut die Hälfte der Liga erfasst hat. Ich denke, dass Union nicht absteigen wird, aber was sie da verpasst bekommen haben, ist schon mehr als ein Denkzettel. Man wird jetzt richtig nachdenken müssen bei Union.

Und wenn wir jetzt von der zweiten Liga nach oben greifen wollen, kommen wir zum Ausscheiden Bayern Münchens im Halbfinale der Championsleague gegen Real Madrid. Wie heißt es jetzt: Der Traum vom Triple ist ausgeträumt. Tut mir leid. Ich kann den Traum vom Triple nicht verstehen. Meine patriotischen Gefühle sind kümmerlicher Art, wenn es um Bayern München geht. Spieler, die ich mochte, werden mir unweigerlich unsympathisch, wenn sie zu Bayern München wechseln. Das kann doch nicht nur an mir liegen. Sie werden da irgendwie zu Snobs. Und ich bin froh, wenn mir Uli Hoeneß’ Triumphgefasel erspart bleibt. Aber sie haben gut gespielt, haben alles reingeworfen, und Real Madrid hat mich nicht überzeugt. Die Abwehr wackelte bedenklich. Sie schlagen die feinere Klinge, aber sie spielen meistens einen Pass zu viel, um die beste Schussposition zu finden; und sie spielten in diesem Fall quasi ohne Stars, Cristiano Ronaldo, Toni Kroos und Asensio blieben blass. Und doch haben sie in der Gesamtabrechnung mit 4:3 gewonnen. Es ist klar, dass das Team, das mindestens drei Tore schießen muss, engagierter an das Match herangeht als die Mannschaft, die gar kein Tor zu schießen bräuchte. Bayerns Trainer Heynckes sagte am Ende: Wir waren in beiden Spielen die bessere Mannschaft. Der Reporter ließ wissen, dass Bayern München für ihn der moralische Sieger sei. Wie lächerlich ist das denn. Fußball ist ein Ergebnis-Sport, kein B-Noten-Sport. Die besseren Mannschaften verlieren nicht, da müsste der Schiedsrichter schon übermächtig sein. Und moralische Sieger sehen leicht bescheuert aus, falls es sie denn überhaupt gibt.