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Archive for Januar 2024

Kaninchen oder Hase – Hauptsache vegan

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Verfasserin war „fast zwölf Jahre in den fünf ersten Hotels Mecklenburgs in der Küchenwirtschaft engagirt“

Im Jahreswechsel kaufte ich ein Kaninchen, das heißt, nein, ich kaufte tiefgefrorene Kaninchenteile. Sowas kommt bei uns selten vor. Ich wollte wissen, wie man damit umgeht und dachte, versuchst du es mit dem Mecklenburgischen Kochbuch von 1868. Ich besitze den fotomechanischen Nachdruck des Hinstorff Verlags von 1982. Ich habe das Buch damals gekauft, jedoch selten oder nie danach gekocht. Es ist in Frakturschrift gesetzt, ich kann die lesen, aber ein bisschen mühsam, kann zum Beispiel s und f nur schlecht auseinander halten. 

Über Kaninchen findet man da nichts, aber über Hasen. Dann eben so, dachte ich. Wie brät man also einen Hasen? „Dem Hasen wird zunächst der Balg abgestreift, was man bewerkstelligt, indem man durch unten am Bauche zusammenlaufende Schnitte den Balg an der unteren Seite der Hinterläufe auftrennt und rund um die Pfoten, dicht unterhalb derselben, einen diesen Schnitt kreuzenden zweiten Schnitt macht. Von diesem aus zieht man den Balg zunächst von den Hinterläufen ab, fasst dann dieselben zusammen mit der einen Hand, das lose Ende des Balges mit der andern und streift nun durch kräftiges Ziehen den ganzen Balg über den Körper, und zwar bis zum Kopfe, der abgehauen wird.“

Das Buch hat seinerzeit eine Frau Frieda Ritzerow geb. Burmeister geschrieben als einen „Rathgeber für alle, welche der Kochkunst beflissen sind, speziell für Mecklenburgische Hausfrauen und Solche, die es werden wollen“.

 Meine Kaninchenteile waren zum Glück schon vom Balg befreit. Sowieso war mir etwas der Appetit vergangen, und ich verschob diesen Braten auf einen anderen Tag. Die mecklenburgischen Hausfrauen früherer Zeiten hatte ich mir etwas sanfter vorgestellt. Ich kann mir auch kein heutiges Kochbuch vorstellen, das eine ähnlich klare Sprache spräche, wie etwa im Abschnitt 47 „Vom Abschlachten des Geflügels“.

Es scheint so zu sein, dass uns über die Jahrhunderte das Martialische abhanden gekommen ist. Zumindest in der Küche. Es wird delegiert. Irgendwo hin, wo wir nicht dabei sind. 

Alte Liebe

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Der wundert sich  © ADe

Berlin Alexanderplatz. Die Frau ist drin in der Bahn. Der Mann ist draußen. Er kommt auch nicht mehr rein. Die Lautsprecherstimme hat schon „Zurückbleim“ geschrien, die Türen haben sich geschlossen, die Frau von innen, der Mann von draußen zerren an dem, was sie in diesem Moment so deutlich trennt. Sie zerren so wild und unkoordiniert, dass sie sich selbst im Zustand der Trennung noch gegenseitig behindern. Jetzt schreit die Lautsprecherstimme so laut, dass es auf allen Bahnhöfen der Welt zu hören sein muss, noch mal “Rückbleim“, und das entkräftet unser altes Ehepaar erst recht. Die Bahn fährt ab, der Mann gibt auf. (Warum ist sie da drinnen, wenn ich doch noch hier draußen bin. Was denkt sie sich dabei.) Er sieht aber nicht aus wie ein Aufgebender! Er ist wütend, schüttelt die Fäuste, droht, nicht der Technik, nicht der Bahn, sondern der Frau, seiner verrosteten Liebe, und auch die Frau ist erbost, zeigt ihm den Vogel, unterbricht den Wutausbruch, um den Mann, ihrer verrosteten Liebe, mit den Händen zu sagen, er soll hier warten, sie kommt zurück! Aber ob er sie versteht? Und ob sie sich je wiedersehen?

Autofahrer, Hundehalter, Chorsänger

Januar 12, 2024 2 Kommentare

(und das jetzt alles mal selbständig gendern)

Jahresrückblick 2023, 2. Quartal

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Berlin, Hackescher Markt. Je leerer je lieber  ©FJK

Mit einer Auktion geht die Coppi-Galerie in den Ruhestand. Draußen vor der Tür führen wir moderne Gespräche, die gut anfangen, um im Nichts zu enden. Das Alter ist eine Zahl und eine Reihe schleichender Einschränkungen, aber kein Lebensgefühl. Deutschland sehen wir als Land der Autos, der Hunde und der Chöre. Oder richtig: als Land der Autofahrer, der Hundehalter und der Chorsänger. 

Nachspielzeit. Freiburg wirft München aus dem Pokal. Ein User auf Kicker online: Du glaubst gar nicht, wieviele Menschen Ihr mit dieser Niederlage glücklich gemacht habt. 

Der Neunzigjährige, der in der Prager Hopfenstube auf der Karl-Marx-Allee ein großes Bier trank und das ND las.

Der Konzern-Boss kam aus feinem Hause und war der Mann fürs Grobe, sah sich unter Demokratiefeinden und glaubte, es selbst nicht nötig zu haben, Demokrat zu sein. 

Ich lese ein bisschen Immanuel Kant: Der Mann ist leicht zu erforschen, die Frau verrät ihr Geheimnis nicht; obgleich anderer ihres (wegen ihrer Redseligkeit) schlecht bei ihr verwahrt ist. 

Und jetzt bin ich auch einer dieser Irren in der Bahn, die auf das Handy einhacken. Warum kommen wir uns manchmal so verloren vor? Weil wir kein Werk haben, das wir noch schaffen müssten (und wäre es nur ein kleines). 

Am Bahnhof Zoo gibt es keine Heinrich-Heine-Buchhandlung mehr, kein Holst am Zoo, keine Beate Uhse. Wenn nicht die Gedächtniskirche wäre, könnte man hier überall auf der Welt sein. Nirgendwo sind die Bettler erbarmungswürdiger, die Reichen blasierter und die Touristen ratloser. Das Elend provoziert den Reichtum. Und umgekehrt. Das KadeWe weiß um die Sterbestunde der Kaufhäuser und setzt Hochpreisigkeit dagegen, 119 € für ein Oberhemd, Füllfederhalter, die keiner mehr braucht, von 300 bis 1300 €. 

Eingangs der Nacht las ich, wie dick Adalbert Stifter war. Er hatte die Fress- und Trinksucht, erschrieb sich im „Nachsommer“ das schöne Leben, das er sich ersehnt hatte und schnitt sich, unglücklich wie er war, am Ende mit einem Rasiermesser in den Hals. 

Ethan Coen zu „A Serious Man“, den ich mir zum dritten Mal ansehe: „Das witzige an der Geschichte war für uns, immer wieder neue Wege zu finden, wie wir Larry quälen konnten. Sein Leben wird einfach immer schlimmer.“ 

Ich sah, dass zu Union Unversehrte und Versehrte kommen, Alte und Junge, Biedere und Schlaue, Männer und Frauen, Abenteurer und Bürokraten, Dicke und Dünne. Leider auch E-Zigarettenraucher.

Ich hörte, dass man Georg Stefan Troller, der 101 Jahre alt geworden ist, immer noch mit Gewinn und Vergnügen zuhören kann. 

Weißwein trinkende Hauptstadt-Damen erobern Potsdam, wenn auch nicht ohne Verluste. 

Berliner Verkehr. Das Chaos, die organisierte Verantwortungslosigkeit, die Bahnangestellten verbergen sich vor den Auskunft begehrenden Kunden. Die Bahn hatte sich selbst aufgegeben. Endlich auf einem Kahn im Spreewald. Eine solche Stille hatte keiner von uns je vernommen. 

Früher war der Hund der treueste Begleiter des Menschen. Heute ist es das Smartphone. Wir nennen es Fortschritt.  

Wir sehen Asteroid City, Wes Andersons neuen Film. Die Menschen sind flach, die Maschinen rätselhaft, die Pflanzen aus Plastik. Gegen den Willen der Kinder geschieht nichts in dieser Welt.

In diesem Jahr waren so viele Himbeeren am Strauch, dass ich gar nicht umhin konnte,  Marmelade zu kochen (was ich noch nie gemacht habe; ich musste googeln). Und dann aß ich das erste Mal seit dem Kinderferienlager wieder ein Marmeladenbrötchen.

Das nicht-ambitionierte Leben

Januar 5, 2024 1 Kommentar

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Perfekte Tage im Nieselregen © FJK

Schon beim Aufstehen ordnet Hirayama die Bettwäsche, drückt Paste auf die Zahnbürste, stutzt sich den Bart, wässert seine Bonsais. Er tritt vors Haus und blickt in den Himmel, der ihm jeden Tag Zuversicht zu geben scheint. Die Zuversicht eines Mannes, der Tokios Toiletten putzt, die kleine architektonische Meisterwerke sind. Er legt eine Kassette in den Rekorder seines Werkstattwagens und fährt seine Orte ab. Alles wiederholt sich, Tag für Tag. Und Hirayama ist ziemlich perfekt in dem, was er tut. Perfect Days heißt auch der Film von Wim Wenders, Perfect Day der Song von Lou Reed, den Hirayama gern einlegt und in dem es heißt, dass man an einem perfekten Tag eben erntet, was man gesät hat. So könnte ein Leben auszuhalten sein.  

Auf dem Weg zum Kino im Berliner Dauerniesel haben wir uns noch gefragt, welcher Film von Wim Wenders uns am besten gefallen habe, wir haben gesagt keiner und gelacht, und jetzt können wir sagen, dieser hier, Perfect Days. Obwohl wir noch in der ersten halben Stunde Laufzeit gedacht haben, sehr genau und unbedeutend, nicht unser Film. Nachdem wir über die Tagesabläufe Hirayamas bestens informiert sind, kommen die kleinen Ereignisse: die Unzuverlässigkeit des flippigen Jungkollegen, der Betrunkene, der in großer Not gerade noch so die Toilette erreicht, die Thai-Ji-Übungen des Obdachlosen, die knappen Urteile der Buchhändlerin, die Gesangseinlage der Barbesitzerin, der gut florierende Musikkassetten-Shop, das unerwartete Auftauchen der Nichte, das rätselhafte Zerwürfnis mit der Schwester, der Kontakt mit dem sterbenskranken Ex-Mann der Barbesitzerin. Und wenn all das passiert ist, haben wir nach und nach verinnerlicht, wie ein nicht-ambitioniertes Leben gelingen kann. 

Hirayama ist 60. Ein illusionsloser Mann mit Augenmaß. Er liest Faulkner und Patricia Highsmith (Highsmith weiß am meisten über Angst, sagt die Buchhändlerin), hört neben Lou Reed etwa Patti Smith, The Animals, Velvet Underground, Otis Redding, Van Morrison, die Stones und die Kinks, alles auf Kassette; die digitale Welt ignoriert er. 

Man könnte über Langsamkeit, Wiederholungszwang und Selbstverzwergung spotten. Wir jedoch haben uns über den Entwurf eines gelingenden Lebens, über die aufregenden Ansichten Tokios und über den genialen Schauspieler Koji Yakusho gefreut. Das war ein guter Abend im Kino International. Wir machten noch ein Bier auf und blickten aus dem oberen Foyer auf die Allee. Man erntet, was man gesät hat. Das wird nicht immer funktionieren, aber es ist eine Möglichkeit.  

Das Unausweichliche wird geschehen

Privater Jahresrückblick 1. Quartal

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Blick auf die Neue Nationalgalerie im Winter  © FJK

Zuerst waren wir im New Yorck-Kino und sahen „The Banshees of Inisherin“. Der Film erzählt, dass das  unausdenkbar Unausweichliche geschehen wird, jedenfalls auf einer rauen irischen Insel. Das Damen-WC war defekt (wie so vieles), die Herren-Toilette wurde zum Uni-Klo. 

Bei Jauch, der im fortgeschrittenen Alter zur selbstgefälligen Schwatzhaftigkeit neigt, ruiniert ein als Telefonjoker agierender Vater seine Tochter. 

Ich entdecke die Lyrics-(Text-)Funktion des iPad und weiß nun, was die Songs mir sagen wollen. Es ist nicht so weit von dem entfernt, was ich immer ahnte. Ich seh mir alte Bücher an und werde daran erinnert, in welcher blöden Lage die Nachwort-Schreiber der DDR-Lizenzausgaben bürgerlicher Werke waren. Die Autoren mussten ideologisch eingeordnet werden: Katherine Mansfield zum Beispiel war außerstande gewesen, die Große Sozialistische Oktoberrevolution zu verstehen. Da waren wir ihr voraus. Oder nicht?

Auch 2023 regneten die Tage so vor sich hin, was die Apokalyptiker nicht daran hinderte, vor der Austrocknung der Erde zu warnen. Wir sahen Kabarettisten, der nur ihren eigenen Humor verstanden und lustig fanden. Die deutschen Biathleten schossen schlecht außer denen, die schlecht liefen. Der VAR ist nur erfunden worden, um Hansa Rostock zu schaden (hier kann jeder seinen Verein einsetzen). Immer wenn Matthias Schweighöfer in der Reklamespalte von Kicker online rumhampelte, stürzte mein Rechner ab, bis ich ihn Zappel-Matthias nannte, was auch nichts half. Unser Gas-Anbieter vervierfachte den monatlichen Abschlag. WIR WOLLEN UNSER RUSSISCHES GAS WIEDERHABEN!!! Ich bin einer, der noch ins Kino geht, um einen Film anzusehen, andere wollen dort nur in Gesellschaft essen und trinken. Zu Hause konnten wir uns voll der Grundsteuererklärung widmen, uns besonders auf die „drei Eingaben, bei denen Zähler und Nenner verlangt werden“ konzentrieren. Frivol, was wir alles können und, wenn wir es nicht können, lernen müssen. 

Von einer Expertin erfuhren wir, dass wir einen charismatischen Wirtschaftsminister haben, während die Frau von FDP-Lindner verkündete, dass die Rote-Armee-Fraktion vor 78 Jahren Auschwitz befreit habe. Die Panzerdebatte ging nahtlos in die Kampfjetdebatte über. Im Spiegel bedauerte ein halber Held, dass er vor dreißig Jahren den Kriegsdienst verweigert hatte. Olaf sprach nicht mehr mit Annalena. Robert und Christian schrieben sich giftige Briefe. Wir haben es mit Leuten zu tun, die in kreativen KITAs aufwuchsen, wo sie phantastische Spiele spielten, die ihnen ermöglichen, ein Leben lang Kinder zu bleiben und Politik und Wirtschaft als Spielwiese zu sehen. Eine feministische Außenpolitik ist viel wert, wäre eine lesbische Außenpolitik nicht noch besser? Warum sieht keiner, dass der Kaiser nackt ist? Auch wenn er jeden Tag neue Kleider trägt. Oder Hosenanzüge. 

Und im gewöhnlichen Leben? Schnee am Frauentag. Eine Geisterfahrerin ist in Sachsen von Polizisten gestoppt worden und anschließend mit dem Streifenwagen der Beamten davongerast. Wenn man Radio hört, muss man sich besorgt fragen: Gibt es eigentlich noch Sprecherzieher in Deutschland? Es existiert im sogenannten Regierungsviertel kaum eine Straße, in der nicht gebaut wird. Gerhard Wolf stirbt und wird schon in den Nachrufen am Jahresende keine Rolle mehr spielen. Wir sehen Sozialschmarotzer und Invalidendarsteller. Die Frauen schicken ihre Männer zum Bäcker und führen die Hunde aus. Beim Currywurst-Imbiss am Bahnhof Friedrichstraße kostet ’ne Currywurst mit Pommes frites 9,80. Für das Geld hätte man sich in der DDR einen ganzen Monat ernähren können. Am Abend vor dem TV-Gerät. Ich! will! nicht! schon! wieder! einen! Scheißfilm! sehen!

Doch kamen mitunter auch seltsame Stunden, lese ich in Nabokovs „Lushins Verteidigung“, doch kamen mitunter auch seltsame Stunden, in denen es ringsum so still war, und wenn man auf den Korridor hinausschaute, standen vor allen Türen Stiefel, Stiefel und nochmals Stiefel, und in den Ohren klang das Rauschen der Einsamkeit.