Wie wir erfuhren, was Stille ist
Unter dieser Brücke müssen wir hindurchschweben © FJK
Keine Bäume, die der Biber schätzt
Wir waren nicht allein auf dem Wasser, aber fast
Am Ostkreuz war das Chaos ausgebrochen. Es war 10 Uhr am Vormittag, und die nächsten Züge sollten ab 15 Uhr fahren, fünf Stunden später. Die Leute schwankten zwischen Verzweiflung, Wut und Hysterie. Eine verdammte Scheiße ist das hier, schrie ein eigentlich vornehmer Herr, der seine Termine verpasste wie so viele andere hier. Die Bahnangestellten hatten sich in die organisierte Unsichtbarkeit zurückgezogen; sie wollten nicht ständig angeschrien werden und wussten selber auch nicht viel. Drei rüstige Arbeiterveteranen kriegten sich in die Wolle, weil einer immer mehr zu wissen glaubte als die anderen, von ihnen aber überstimmt oder überredet worden war. Wir fuhren zurück zum Ostbahnhof, und dort sollte der Zug in den Spreewald via Lübben und Cottbus wirklich halten und auch fahren. Bahnsteig 1, sagte der rechthabende Veteran, aber da war gar nichts. Null. Bahnsteig 6, schrie sein befreundeter Kontrahent, es ging jetzt um Meter und Sekunden. Ich hatte inzwischen irgendwas von Gleis 3 gelesen, aber der Zug fuhr nach Nauen oder so, aber Gleis 4, sagte der Schaffner, da geht’s nach Cottbus. Da saßen wir nun, und sicher konnte sich keiner sein. Die so rüstigen wie blondierten Veteranen hatten’s nicht gepackt.
Der Zug fuhr, aber mehr auch nicht. Keine digitale Anzeige, keine Ansage, weder auf den Bahnhöfen noch im Zug. Fahrkartenkontrolle auch nicht. Die Bahn, so schien es, hatte sich selbst aufgegeben. Auflösungs- oder gar Verfallserscheinungen. Wir waren immer auf dem Sprung, um unseren Zielort Lübben nicht zu verpassen.
Und da waren wir. In Lübben hatte ich vor einigen fünfzig Jahren meine Fahrerlaubnis gemacht, ohne zu wissen, dass das schon Spreewald war. Ich erinnere mich an nichts mehr, nur an den recht speziellen Fahrlehrer und eine junge Fahrschülerin in einer Neubauwohnung. Die Stadt war nunmehr wohlgeordnet und ziemlich menschenleer. Es dauerte, bis wir die Kahnanlegestellen erreichten. Ein breiter Mann mit Schiffermütze rief uns zu, ob wir mitfahren wollten, der Kahn habe gerade abgelegt, würde für uns aber noch mal anlegen. Das war ja genau, was wir wollten. Und von nun an war alles gut. Vor uns im Kahn ein schwäbisches Ehepaar, hinter uns ein sächsisches. Der Sachse versuchte ab und an, witzig zu sein. Der Schwabe ließ seine Frau sprechen, die sich auch um die zwei Hündchen kümmerte. Der Kahnführer, unser Käpt’n vom Anbieter „Flottes Rudel“, war rhetorisch hochbegabt, kenntnisreich und witzig von dezent bis zweideutig. Wer den Spreewald nur durch die Spreewald-Krimis kennt, wird sich wundern, meinte er. Dort werden nur die engen Wasserläufe und Kanäle gezeigt, aber es gibt auch richtig breite, weniger unheilvoll wirkende. Der Kahn glitt lautlos die Spreearme und -kanäle entlang, links sumpfiges Busch- und Strauchgebiet, rechterhand Waldung, von Bibern angefressen. Der Biber liebt Weiden und verschmäht Erlen (zu ihrem Glück), er wird von Unkundigen oft mit Nutrias verwechselt. Der Käptn machte uns auf einen Strohschober aufmerksam, in dem zwei Paar Stiefel steckten, das eine Paar mit den Hacken nach oben, das andere mit den Stiefelspitzen; das gehörte zum zweideutigen Teil seiner Ausführungen. Wir wissen jetzt auch, dass der typische Spreewaldkahn 9,5 m lang und 1,5 m breit ist. Dass es sehr viele Kähne gibt, von denen aber so mancher kaum genutzt wird und am Ufer vermodert. Der Wasserstand der Spreearme wird durch irgendwelche Schleusensysteme geregelt, und Lübben selbst war in den letzten Kriegstagen hart umkämpft, so dass es über keine historische Innenstadt mehr verfügt. Wir hörten Nachtigallen schlagen, Mönchsgrasmücken und Buchfinken; die Kenntnis all dieser Vogelstimmen hatte unser Käptn sich im Selbststudium angeeignet und gab sie selbstlos an uns weiter. Zu einem Zwischenstopp legte er steuerbord an. Ein athletischer Spreewälder nahm die Bestellung für Landleberwurst- und Schmalzstullen auf, Spreewaldgurken selbstverständlich inklusive. Das Schwabenpaar aß nichts, ihre Hunde hätten gern, wurden aber nicht gefragt. Wir waren im Biosphärenreservat, schließlich schwebten wir durch die fast verbotene Zone 3, und unser Käptn ließ die märchenhafte Stille der Welt wirken. Eine solche Stille hatte keiner von uns je vernommen. Wir werden sie mitnehmen. Als wir nach anderthalb Stunden wieder anlegten, waren wir glücklich und stellten fest, dass wir uns dieses Glück an den Berliner Bahnhöfen hart erarbeitet hatten. Wir aßen Backfisch mit Bratkartoffeln und tranken Bier. Die Ente neben uns wartete, das etwas für sie abfiel, das war aber nicht der Fall. Die Tiere können sich anderweitig versorgen, nicht am Tisch.
Das Kino im Kino
Freitagabend Hackeschen Markt
© FJK
Das Kino in den Hackeschen Höfen
Wir waren drei in diesem dunklen Saal
Drei Treppen rauf zum Kino, die geduldige Schlange vor der Kasse für Tickets, Bionade und Popcorn, und dann ganze drei Zuschauer in unserem Saal, du und ich und eine Gehbehinderte. Womit hat Sam Mendes, der Regisseur, das verdient! Vielleicht damit, dass sein Portfolio so disparat ist. Gangsterfilme, Kriegsfilme, Bond-Filme, Familiendramen, Familienkomödien. Wir denken immer noch gern an „American Beauty“.
Und jetzt „Empire of Light“. Das Kino im Kino. Empire heißt das Kino im Film. Das Team, das den Laden schmeißt. Der Chef, der Filmvorführer, Hilary (Olivia Colman), die Popcorn verkauft, Karten abreißt, die Besucher willkommen heißt und den Neuen, Stephen (Michael Ward), einarbeitet, einen jungen Mann, ich glaube, aus Trinidad. Es könnte alles ziemlich schön sein, wenn nicht der Kinodirektor (Colin Firth) bei seiner Frau abgemeldet wäre und zur Kompensation Hilary in sein abgedunkeltes Büro beordert, wo er dann dumpfen Sex will. Unzucht mit Abhängigen ist das umso mehr, als Hilary (Olivia Coleman) wohl eine bipolare Gemütsstruktur hat.
Das Empire hat schon bessere Zeiten gesehen. Saal 3 und 4 sind aufgegeben und vermüllt, auf dem zugigen Boden brechen sich Tauben die Flügel. Stephen kann kranken Tauben helfen. Hilary mag den Neuen, was nicht ausschließt, dass sie ihn zurechtweist, wenn er übermütig wird. Dann haben sie eine Affäre, was den Kollegen nicht verborgen bleibt, sie müssen sich neu orientieren, aber es verbindet sie mehr als Sex, und Hilary findet in einem so großen wie peinlichen Auftritt die Kraft, gegen den Direktor aufzubegehren.
Der Film spielt in den Achtzigern an der englischen Südküste, eben da, wo enttäuschte junge Männer die Schuld für ihre Misere bei den Migranten suchen, die ihnen angeblich die Arbeit wegnehmen. Sie sind so orientierungslos wie brutal.
Wie soll das nur ein halbwegs erträgliches Ende finden! Sam Mendes sucht lange nach diesem guten Ende und verschafft dem Film damit eine unnötige Überlänge. Für mich endet der Film da, wo Hilary, die seit Ewigkeiten im Kino arbeitet, aber sich nie einen Film ansieht, weil sie meint, zu viel zu tun zu haben, den Filmvorführer (Toby Jones) bittet, ihr einen Film zu zeigen. Der Filmvorführer, ein Freak vor dem Herrn der bewegten Bilder, sucht „Being there“ aus, „Willkommen Mr. Chance“ mit Peter Sellers und Shirley McLaine. Hilary ist tief gerührt. Sie sieht, dass ihr viel entgangen ist in all den Jahren und ein neues Reich auf sie wartet, Stephen war es, der sie beschwor, in die Welt der Filme einzutreten, und umgekehrt hat auch er Hilary viel zu verdanken.
Aber damit ist der Film nicht zu Ende. Stephen, der von den entwurzelten Chaoten zusammengeschlagen wurde, kommt wieder auf die Beine und erhält den ersehnten Studienplatz. Was wir nicht unbedingt wissen müssen, wir sind auch nicht ganz ohne Phantasie.
Glanz und Elend im Fußballgeschäft
Zwischen Erdwällen und Bierduschen. Der Weg zur Alten Försterei.
© FJK
Ein Leergut-King
Vor dem Spiel: Essen, Trinken, Fachsimpeln, Life and Lost in Community
Die Tribüne performt
Wenn wir ein Ticket ergattern, gehen wir armen Hansa-Rostock-Schweine gern mal zu Union; das ist der Verein vor der Haustür. Und als wir aufbrechen, hat Kai Pröger auf dem Betze gerade das 1:0 für uns arme, abstiegsbedrohte Hansa-Rostock-Schweine geschossen; oh, wenn wir das durchbringen könnten!
Bahnhof Köpenick warten die Programmverkäufer und die Ärmsten, die noch um eine Karte betteln müssen. Am Bahndamm wird im großen Stil gebaut. Man muss, vorbei an der Tanke, den jenseitigen Bürgersteig nehmen, eingenebelt von Bier und Bratwurstduft. Am Nadelöhr beim Einbiegen in die Hämmerlingstraße wird’s schwer. Die Straße ausgeschachtet, nur eine schmale Schneise zur Alten Försterei. Was habt ihr hier nur immer gegen die Unioner! Durch das Wäldchen, in dem sich der Unioner vor und nach dem Spiel gründlich ausschifft, zum Tribüneneingang. Wir werden abgetastet, haben keine Waffen und keine Schnapsflaschen dabei, setzen uns mit einem Becher Berliner Pilsner auf die Holzbank und sehen, dass wir das 1:0 gegen Kaiserslautern durchgebracht haben, was soll jetzt noch schiefgehen an diesem Fußballsamstag. Während wir im Abstiegskampf stecken, plaudern entspannte Union-Fans neben uns über die Champions League. Vor RB Leipzig brauchen wir eigentlich keine Angst zu haben.
Union ist das rotweiße Wunder aus dem Osten. Es sieht aus wie in einem Wirtschaftsunternehmen, bei dem grad alles passt. Alle da: Unversehrte und Versehrte, Alte und Junge, Biedere und Schlaue, Männer und Frauen, Abenteurer und Bürohengste, Fangruppen, Familien, Einzelkämpfer. Die Erfolgswelle des Clubs hat die Aggression weggeschwemmt. Das Stadion ist immer ausverkauft, der Rasen märchenhaft grün, die Spruchbänder akkurat, der Stadionsprecher eloquent und familiär, der Trainer ein diskretes Genie, die Gesänge voll Power, die Mannschaft ist sich ihrer Geschlossenheit bewusst. Man kann den Erfolg mit Händen und allen Sinnen greifen.
Und auch die Mannschaft der Stunde, Bayer Leverkusen, ist nicht in der Lage, Union zu besiegen. Union hat sogar ein Chancenplus, aber auch Bayer ist ein paar Mal gefährlich vor Rönnows Kasten. Sheraldo Becker bricht mit seiner Schnelligkeit ein paar Mal durch, aber in der Mitte rutschen sie leider am Ball vorbei. Auf der anderen Seite hat Moussa Diaby einen gebrauchten Tag erwischt, stolpert über den Ball, rutscht aus, bleibt liegen, trifft die Kugel mit dem Schnürsenkel. Und Florian Wirtz, das große Talent des Bayer-Teams! Seine Ideen kommen oft aus der Unsichtbarkeit, aber die Unioner wissen, mit wem sie es zu tun haben und fangen die Steckpässe ab. Über das 0:0 kann letztlich keiner böse, schon gar keiner verzweifelt sein.
Neben mir sitzt ein dicker Mann mit ausgebreiteten Beinen und e-Lulle, ich kriege die Dämpfe und die Körperfülle ab, sage aber nichts, man soll beim Fußball nicht zimperlich sein. Vorn rechts springt einer auf, schreit Eisern Union und reißt den Arm in die Höhe, er versucht, die ganze Tribüne mitzureißen, will aber nicht gelingen. Vorn links wiederum sitzt der Choleriker vom Dienst. Springt auf, nimmt zornbebend den Schiedsrichter ins Gebet, setzt sich wieder und wartet auf die nächsten Chance.
Am Ende quälen wir uns wieder durch das Nadelöhr, einige balancieren auf dem Eisenträger über der Ausschachtung. Die Jungen können nicht aufhören zu singen, immer noch ist Torsten Mattuschka („Tusche“) ihr Held, den sie vielleicht gar nicht mit eigenen Augen gesehen haben; so lange ist das her. Die nächste S-Bahn fällt aus. Typisch BVG. Die nächste platzt aus allen Nähten. Man kommt nur mit Mühe und Gewaltbereitschaft rein und noch schwerer wieder raus. In der Nähe steht einer, der jeden Moment kotzen könnte. Ein Fußballspiel ist immer anstrengend, besonders für den Fan. Das wird zu selten gewürdigt.
Berlin, deine kleinen Museen
Usagi – der Hase steht in der japanischen Mythologie für Barmherzigkeit und Fürsorge © FJK
Wir hatten Geburtstag und wollten nicht den ganzen Tag bei Kaffee und Kuchen auf den Stühlen verharren. Ein Überraschungsausflug war geplant, Plan B trat in Kraft, die Schlecht-Wetter-Variante, es regnete schon die ganze Nacht und machte keine Anstalten aufzuhören. Wir nahmen die Bahn nach Spandau und stiegen Heerstraße aus. Eine unwirtliche Großstadtstraße, aber in ihrem Rücken zeigte sich Berlin schon wieder aufgeräumt, wohlhabend und grün. Das ist die Gegend, in der der Bildhauer Georg Kolbe sein Atelierhaus mit innenliegendem Garten hatte, das nun eines von Berlins kleinen Museen ist und das Ziel unseres Überraschungsausflugs war. Es regnete weiter.
Das Georg-Kolbe-Museum beherbergt eine bedeutende Skulpturensammlung und tut etwas für die Klassische Moderne. Zur Zeit stellt es Werke von Leiko Ikemura aus. Die Ausstellung trägt den Titel Witty Witches, das heißt Listige Hexen, und wenn man das weiß, weiß man schon viel und ist auf dem richtigen Weg: Wir befinden uns in Räumen heiterer, nie ganz harmloser Magie und treffen gleich mal auf Usagi double headed Hoshi. Usagi heißt Hase; die überlebensgroße Figur ist ein Hybrid aus Hase und Frau, in deren offenem Rock man Schutz und Geborgenheit finden kann.
Leiko Ikemura wurde irgendwann in Japan geboren, studierte in Osaka spanische Literatur, ging nach Spanien und in die Schweiz, um sich schließlich in Berlin niederzulassen und zu lehren. Die Transformation scheint ihr Thema zu sein; Hybride aus Mensch und Tier oder Pflanze, früher hätte man Zwitterwesen gesagt, aber Hybrid ist offener und vielsagender, trifft auch auf Cat Man und Cat Woman zu. Irgendwie auch auf die Lichtpunkte der schwarzen Bilder. In der Stimmung heiterer Verzauberung, in die uns Leiko Ikemura versetzt hat, wandeln wir durch den verregneten Skulpturengarten und nehmen schließlich unseren Platz im Restaurant ein, das wie ein öffentliches Wohnzimmer anmutet mit Regalen voller Bücher, Schallplatten, Spiele und Fläschchen. Ich kriege ein Glas heiße Leberwurst und ein ofenfrisches Brötchen. Das reicht für einen halben Tag. Wir hätten schon genug erlebt, aber noch haben wir nicht den Waldfriedhof Heerstraße gesehen; das kommt jetzt. Der Friedhof ist mitten in den Wald hineingegraben. Der Mensch geht dahin zurück, woher er gekommen ist. Es gibt Hänge, Steigungen, kleine Schluchten und in der Mitte einen magischen See, den Sausuhlensee. Jeder weiß, dass hier Loriot begraben liegt, aber auch Georg Kolbe, Tilla Durieux, Joachim Ringelnatz, Michael Althen, Evelyn Künneke und auch Klausjürgen Wussow (Professor steht auf dem Stein) fanden hier ihre letzte Ruhe. Und immer noch regnet es.
Ach ja, Berlins kleine Museen! Man lebt lange in der Stadt und hat keine Ahnung, dass es sie gibt. Du findest sie per Zufall an unerwarteten Orten, oder ein Freund hat dich auf sie aufmerksam gemacht. Sie existieren neben dem Mainstream und machen ihre Arbeit ohne Geschrei. Dafür gibt es bei ihnen immer etwas zu entdecken, und gute Gastgeber sind sie auch. Du kannst lange bleiben.
Vergebung
Aus: Die Erde. Haack Kleiner Atlas. Gotha 1982
Steinmeier in Kanada. Wofür will er sich da entschuldigen, im Namen aller Deutschen?
Ein Hauch Vollendung
Gruppenbild der Künstler mit Galeristin. Zweite von links Helle Coppi, dritter von rechts Harald Metzkes
© Corinna Fricke
Wir standen vor der offenen Tür der Galerie und versuchten, moderne Gespräche zu führen. Was geschieht, wenn man die Künstliche Intelligenz fragt, ob Friedrich Nietzsche dem Faschismus geistigen Vorschub geleistet habe. Da kommst du ins Grübeln, bei dem Text, sagte Wolf, der noch die spanische Bräune im Gesicht trug. Sie kann sicher auch Bilder malen, die KI, sagte der Sizilianer, aber ich male meine Bilder selber und werde das immer machen.
Vor einem Jahr hatte ich ihn für ein Gedicht seines Landsmanns Giuseppe Ungaretti begeistert. Du hast dir wahrscheinlich immer noch keinen Band von Ungaretti besorgt…
Nein. Ich weiß nicht. Die Sprache ist so synthetisch. Ich verstehe die Gedichte nicht.
Sei froh, wenn du etwas nicht verstehst. Aber eine Ahnung bekommst von dem, worum es geht.
Das gefiel Giuseppe, dem Sizilianer.
Ab und zu kamen Passanten. Was ist da los, hinter der offenen Tür? Wir zeigten auf das Schild. Finale. Die letzte Ausstellung der Galerie Helle Coppi.
Oh, sagten sie, warum? Helle Coppi hat das 35 Jahre gemacht.
Alle guten Galerien machen hier zu! Hat sie denn keinen Nachfolger?
Wer hat heute noch Nachfolger? Die Handwerker haben keine Nachfolger, die Galeristen nicht, keiner.
Helle Coppi hatte eine Rede gehalten. Keine wehmütige. Ein Hauch von Vollendung. Sie hatte erzählt, was in diesen Jahren geschehen war und ihren Künstlern, unter ihnen der legendäre Harald Metzkes, eine Rose in die Hand gedrückt. Warum soll etwas nicht sein Ende finden dürfen. Es überlebt in unseren Köpfen. Die Bilder leben. Die Skulpturen leben. Die Maler werden weiter malen. Die Leute werden weiter Bilder ansehen. Bilder kaufen. Sammeln. An die Wände hängen.
Gerade hatte die Auktion der vorletzten Bilder begonnen. Vorn drängten sich die Bieter, weiter hinten hörte man die gedämpften Galeriegespräche, und wir standen draußen vor der Tür.
Der Zigarilloraucher wunderte sich, dass ihn noch keiner an diesem Monatsersten in den April geschickt hatte. Der Aprilscherz stirbt aus. Wolf kam auf den Maler Ronald Paris, der so gerne Besuch hatte, weil er dann Schnaps trinken und Zigarren rauchen durfte, was seine Frau ihm normaler Weise untersagte. Lebt er noch, Ronald Paris? Nein. Im vorletzten Jahr gestorben.
Es waren viele alte Leute in der Galerie. Die jungen gehen anderswo hin. Aber was ist alt? Was ist Alter? Das Alter ist eine Zahl und eine Reihe schleichender Einschränkungen, aber kein Lebensgefühl. Gerade waren wir doch noch jung. Und die Galerie, die mit dieser Ausstellung für immer schließt, kommt uns auch jung vor.
Wolf begeisterte sich für die hellen Länder des Südens und verzweifelte am dunklen, mit seelenlosen Blöcken zugeklotzten Berlin. Deutschland ist das Land der Autos, der Hunde und der Chöre. Ja. Gerade der Chöre. Oder nein. Richtig ist: Deutschland ist das Land der Autofahrer, der Hundehalter und der Chorsänger. Wir vereinigen uns in einem Chor und bringen einen Klang hervor, den wir uns sonst nie zugetraut hätten. Der Hund steht für die Natur, das Auto steht für die Maschine. Die exemplarische Maschine. Die wir beherrschen, mit der wir Herr über die Geschwindigkeit sind. Und der Hund, das Lebewesen, der treue Gefährte des Menschen, der uns folgt, uns nicht widerspricht.
Zwei Häuser weiter, unterm Dach, dreht einer durch, apokalyptische Schreie in dieser Straße in der Mitte Berlins. Aus dem Hotel haben sie ein Asyl gemacht. Flaschen werden aus dem fünften Stock herunter geschleudert, zersplittern auf Autodächern und Pflastersteinen, harmlose Passanten kommen so eben mit dem Schrecken davon. Wir hätten ein Loch im Kopf haben können.
Wir stehen vor der offenen Tür der Galerie. Zeitgeistgespräche. Es geht etwas zu Ende, das wir vermissen werden. Wir finden keine Nachfolger. Nicht mal der Aprilscherz findet welche.
Was geschah mit der Schallplatte
All you can do. Ein Tag in den Rieckhallen © FJK
Früher Penck
Soundscape
Die Schallplatte war tot, als die Compact Disc und der CD-Player kamen. Verheugen gab seine ganze Plattensammlung zum Trödler, obwohl er alles andere als ein moderner Mensch sein will. Bis heute bereut er es. Denn die Schallplatte war nicht tot, sie war nicht einmal scheintot. Schon früh sprach man vom besseren Klang der Platte gegenüber der CD. Nun gut, dafür haben wir nicht die Ohren. Aber wir sahen, dass die Sänger und Bands, die auf sich hielten, ihr neues Album nicht nur als CD, sondern auch als LP rausbrachten. Die Platten wurden teurer und schöner, richtige Liebhaber- und Sammlerstücke. Und auch die Plattenspieler wurden besser und teurer. Etwas für besondere Menschen. Hat man das Recht, sich dazuzugesellen?
Wir wissen es nicht. Der Hamburger Bahnhof zeigt die Ausstellung „Broken Music Vol. 2 – 70 Jahre Schallplatten und Soundarbeiten von Künstler*innen“. Die zugehörigen Rieckhallen stellen 700 Tonträger in zehn Kapiteln aus. Es geht um das Zusammenwirken von Musikern und Künstlern, auch um den Musiker im Künstler, den die Schallplatte als „fester Gegenstand, der einen körperlosen Klang enthält“, fasziniert oder zumindest sehr interessiert. „Die Schallplatte als Leitmedium des vielfältigen Austauschs von Kunst und Musik.“
Die ersten Cover, die wir sehen, tragen Titel wie „Selten gehörte Musik“, „Tote Rennen“, „Better an Old Demon than a New God“, „Sugar, Alcohol & Meat“, und „You’re a Hook“. Selten gehörte Musik ist ein gutes Stichwort, abgehobene Musik, innovative Musik, Avantgarde. Künstler, die immer wieder oder öfter mal die Finger im Spiel haben, sind Laurie Anderson, Joseph Beuys, Yoko Ono, William S. Burroughs, John Cage. Natürlich sind auch berühmte Cover der Beatles, der Stones, von Aretha Franklin zu sehen. Der Reissverschluss auf „Sticky Fingers“ lässt sich wirklich bewegen. Der Besucher kann Platten scannen und die Musik plus Erläuterungen hören, er kann auflegen und sich vor einem Monitor ausstrecken, er kann sich in Klanginstallationen begeben und sein Wissen unentwegt erweitern.
A. R. Penck darf nicht fehlen. 1978, heißt es, trat er dem Arbeitskreis Jazz der FDJ bei. Das kommt hier unerwartet. A + B = 0. Eine Amiga-Platte sehen wir auch, das Bergisch-Brandenburgische Quartett (mit Stücken wie „Empfindungen und Nachempfindungen“ oder „Kalldautzki“), aber auch Kurt Schwitters’ Ursonate, Lyrik und Jazz mit Peter Rühmkorf und Johnny Griffin, Laibach („Rekapitulacja 1980 – 84), Jean-Michel Basquiat, Zwitschermaschine – DDR von unten, Andy Warhol, Keith Haring, Damien Hirst, Die tödliche Doris und jede Menge mehr.
Die Rieckhallen sind unerschöpflich. Immer wenn du glaubst, am Ende zu sein, öffnet sich das nächste Universum. Die Hallen sind wie Landschaften mit weißen Wänden, an denen nun eben mal Schallplatten hängen. Die Besucher sind Touristen, die sich nur entfernt begegnen. Man mag sich wundern, dass es diese Großzügigkeit noch gibt.
Warum Broken Music Vol. 2? 1989 fand in der daad galerie in der Kurfürstenstraße die Ausstellung „Broken Music.Artists’ Recordworks“ statt, wenn man so will die Vol. 1. Ursula Block, die die Ladengalerie „gelbe Musik“ in der Schaperstraße betrieb, hatte sie veranstaltet. In die Ladengalerie gingen sie alle, wenn sie in Berlin waren: John Cage, Yoko Ono, Sonic Youth oder auch Björk. Diese berühmte, schon halb auch vergessene Lokation liefert den Anknüpfungspunkt für die randständige, hochoriginelle Schau, die Sven Bechstette und Ingrid Buschmann in großartiger Kleinarbeit kuratierten. Ehre, wem Ehre gebührt.
Lebensverlauf
Ein schöner Tag am Strand. Anstehen, Eis essen, dick werden, Transzendenz spüren. © N. S.
Im Souterrain. Man sah von der Welt die Füße der Vorübergehenden.
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Männliches Unterbewusstsein – sowas gibt’s?
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Bitte helfen Sie mir!
Wobei?
Das weiß ich nicht. Ich brauche Hilfe an sich.
Botho Strauß, Nicht mehr. Mehr nicht
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Der Sturm wirbelte ein Dixie-Klo durch die Lüfte.
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Vorzüge des Alters: Man weiß, dass die Bäume nicht mehr in den Himmel wachsen.
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Auf dem Weg zum Markt sah ich vorn in der Heiligenberger zwei alte Männer im Garten neben dem Haus Schach spielen. Der eine mit langem grauen Bart und weißem Unterhemd, der andere mit einer abgeschabten schwarzen Lederjacke. Als ich zurück kam, war die Partie zu Ende. Sowas will ich öfter sehen in meinem Teil von Berlin.
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Ein ganz moderner Mensch: Dreitagebauch und Waschbrettbart.
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Das wahrgenommene Alter der etwa Fünfundsechzigjährigen reicht von fünfzig bis achtzig …
Die Psychologie der Generationen ist … auf wechselseitige Harmonie angelegt. Im Gegensatz zu anderen Konflikten, wie etwa dem zwischen Schwarz und Weiß oder Reich und Arm, sind wir alle gleichzeitig jung und alt. Die Jugend denkt im Vorausgriff an ihr eigenes Alter und an ihre Eltern, ebenso die Alten im Rückgriff an ihre Jugend und deren Auswirkungen auf das Altwerden. Dieses gleichzeitige Jung und Alt harmonisiert und verbindet.
Paul B. Baltes, FAZ 12. 5. 2004
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Du musst den Wörtern trauen.
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„Heute ist jeder mit einem Smartphone ein potentielles Monster.“ Jamie Lee Curtis, FAZ, 15. 10. 22
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Ein Businessman (Kulturbereich) betritt den Bahnsteig. Schwarzer Anzug, weißes Hemd, solider Bauch, den Arm voller Zeitungen (FAZ), in der anderen Hand das Phone. Die Schuhe hat seine Frau blitzblank gewienert. Ein Pudel bellt das vornehme Bein an. Der Boss drängt in die Bahn, breitet sich aus und liest die Zeitung von gestern, die anderen liegen auf dem Sitz daneben. Darf ich mich hier setzen, fragt eine Frau in Köpenick vorwurfsvoll. Es ist so eng, klärt der Vornehme sie auf. Ich pass da hin, sagt die Frau. Und sie hat recht. Nun müssen sich auch noch die besten Leute im Lande einschränken. Nie wieder in der Bahn. Nie wieder unter solches Volk.
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Gedanken über die Relegation im Fußball. Es gab Verletzte, aber keine Toten. Das ist schon verwunderlich.
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Ich finde, dass ich das richtig mache. – Geben sich die Schüler jetzt schon selbst die Zensuren?
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Rentner-Auftrieb bei Edeka. Sie versperren das Regal und lesen den Einkaufzettel für alle hörbar von A bis Z durch. Und dann noch mal von Z bis A. Beraten: Wo müssen wir denn noch hin. In welche Gasse, zu welchem Regal. Sie haben den Rollator und den Wagen und keiner kommt an ihnen vorbei.
Aber du bist auch ein Rentner. – Davon mal abgesehen.
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Die besten Köpfe meiner Generation: Alle sind tot, im Heim, dement oder laufunfähig.
Positives Denken
Unser Mittelstürmer (im karierten Hemd) muss sich noch umziehen. Er spricht vor Spielbeginn gern noch mit den Fans
© FJK
Wir armen Hansa-Rostock-Schweine sind Meister des positiven Denkens. Zwar sind wir jetzt auf einem direkten Abstiegsplatz gelandet, aber zwei Tore in einem Spiel zu schießen – wann ist uns das zum letzten Mal gelungen! Wir sind doch die Mannschaft, die keine Tore schießt. Diesen inoffiziellen Titel macht uns keiner streitig. In dieser Hinsicht haben die andern Teams anscheinend keinen Ehrgeiz. Nun. Der Trainer muss gehen. Er ist zwar noch nicht lange da, er hat auch gerade noch gesagt, dass seine Spieler gierig auf Erfolg sind, aber das konnten sie gut verbergen. Er, der Trainer, wurde auch nicht gerade mit offenen Armen empfangen. Er kam eben von unten, hatte zwar eine gute Performance, aber keine Erfolge. Wir armen Hansa-Rostock-Schweine sagen immer: Vorsicht bei Trainern, die rhetorisch begabt sind. Das Musterbeispiel ist Florian Kohfeldt. Der hatte in jeder Lage die besten Argumente und alle Leute in einer Weise besoffen gequatscht, dass der Sieg im nächsten Spiel geradezu unvermeidlich schien. Nun müssen wir weiter sehen. Wenn wir weiterhin keine Tore schießen, werden wir in einer Liga landen, wo das möglich ist. Das ist doch ein guter Trost.
Obwohl wir auf uns und unser Schicksal fixiert sind, haben wir doch mitbekommen, dass der BVB plötzlich Tabellenführer ist. Bayer Leverkusen mit einem Sieg gegen Bayern München hat’s möglich gemacht. Der hier immer gern als Skandalschiedsrichter bezeichnete Tobias Stieler vergisst zwei Mal, dass es den VAR gibt und zeigt dem Leverkusener Stürmer Adli die Gelbe Karte wegen Elfmeterschinderei. Es sind aber keine Schwalben des Leverkuseners, sondern echte Fouls der Münchner Verteidiger und damit Elfmeter. 2:1 für Leverkusen. Stieler bevorzugte anschließend die Flucht nach vorn und sagte, dass der VAR sein Lebensretter war und auch das Spiel gerettet hat. Scheint Humor zu haben. Dass ihm zwei Mal das gleiche Missgeschick passiert, spricht allerdings dafür, dass es den typischen Bayern-Blick gibt. Fouls begehen immer die anderen. Falls sich das jetzt ändert, sei dem VAR vieles verziehen.