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Archive for Januar 2015

Geht doch

Jeder Rekord hat auch seine Kehrseite. Bayern München hat in einem einzigen Spiel der Rückrunde so viele Gegentore hinnehmen müssen wie in der gesamten ersten Halbserie. Das darf man dann einen Negativrekord nennen.

Aber klar. Im Fußball geht es nicht um Rekorde, sondern um Punkte. Rekorde im Fußball sind nur die mediale Begleitmusik, die dann ertönt, wenn den Reportern und Kommentatoren zur Sache selbst nichts mehr einfällt. Dann stimmen sie die Hymne an, welchen Rekord der FC Bayern München jetzt schon wieder gebrochen oder aufgestellt hat. Rekorde, die nirgendwo offiziell verzeichnet sind und die man Lyrik nennen könnte, wenn das nicht ungerecht der Lyrik gegenüber wäre.

Wichtig ist vor allem, dass wir gestern sahen: Die Bundesliga könnte wieder spannend werden. Vielleicht noch nicht in dieser Saison, aber wohl dann in der nächsten. Der VfL Wolfsburg besiegte den mehr oder minder feststehenden Meister, der in der gesamten Hinserie unbesiegt geblieben war, klar mit 4:1. Es ist also möglich. Aber wie konnte das geschehen? Jedes Spiel hat seine eigene Dramaturgie, aus der sich eine ganz eigene Dynamik ergeben kann. Der VfL macht in der 4. Minute das 1:0. Balleroberung im eigenen Strafraum, drei Pässe, Schuss, Tor. Der Spielzug war so schnell und überzeugend, dass Bayerns Torhüter Manuel Neuer nicht mal wie sonst üblich auf Abseits reklamierte. Das frühe Tor spielte natürlich den Wolfsburgern in die Füsse. Sie wurden mutig und mit ihrem One-touch-Fußball auch spielerisch besser als die Bayern. Auffällig, wie überlegen die jungen Männer im Wolfsburger Mittelfeld mit ihrer Lauffreude den betagten WM-Helden zweier Nationen auf der Gegenseite waren. Und dann kommt zum psychologisch günstigsten Zeitpunkt, in der Nachspielzeit der ersten Halbzeit, das zweite Tor. Und wieder hat Neuer keine Gelegenheit zu reklamieren, es war ein Fernschuss von Bas Dost, und das Tor hat ihm auch noch der Bayer Lewandowski mit einem missglückten Abwehrversuch aufgelegt. Und wieder zum psychologisch günstigen Zeitpunkt, früh in der zweiten Halbzeit, als die Bayern auf den Anschlusstreffer drängen, fällt das 3:0 nach einem Superpass von Maxi Arnold, mit seinen 20 Jahren schon eine der prägenden Gestalten dieser Wolfsburger Mannschaft.

Sagen wir es so: Nicht die Bayern spielten schlecht. Die Wolfsburger spielten einfach überragend. Ihnen fehlte es nicht an Mut, ihnen fehlte es nicht an Klasse, ihnen fehlte es nicht an Kaltblütigkeit. Was war bei den Bayern zu sehen? Nachdem die Wolfsburger mit ihrer läuferischen Überlegenheit die Mittelfeldspieler Schweinsteiger und Alonso abgemeldet hatten, fehlte den Münchnern ein Konzept. Dante, dem es merkwürdig an Körperspannung fehlte, sollte das Spiel von hinten heraus aufbauen, das waren in der Regel leicht vorhersehbare Abspiele. Robben zerfranste sich in Einzelaktionen. Thomas Müller verging schnell die anfänglich überschäumend gute Laune und von Lewandowski war wenig zu sehen. Die Liga könnte wieder interessant werden, auch wenn nur wenige Teams so viel Potential haben wie Wolfsburg.

Herzen in Rom

Rom, ewige Stadt, hier im Jahr 1990 © Christian Brachwitz

Rom, ewige Stadt, hier im Jahr 1990
© Christian Brachwitz

Wir sind in Rom, und es ist auch mir nicht unbekannt, dass an vielen Orten Italiens die Zeit und der Verfall ziemlich ungehindert an Stein, Glas, Kalk und Beton arbeiten. Abriss, Modernisierung und Neubau spielen eine Nebenrolle oder nicht mal das. Straßen und Plätze altern in Würde. Wenn man vor Ort ist, fällt einem das gar nicht so auf. Man sieht es erst dann, nach der Reise, auf den Fotos. Eine bizarre Szenerie für Lebenslust. Wir haben uns früher mit Vorliebe diese Filme angesehen, die aus Italien kamen. „Vier junge Männer ohne Arbeit versuchen, mit allerlei fantasiereichen Tricks, aber ohne Erfolg, Geld zu ergaunern.” So schreibt das rororo-Lexikon des internationalen Films über „Vier Herzen in Rom” von Gianni Franciolini aus dem Jahr 1955 nach einem Roman von Alberto Moravia. Die Jungs hatten echt kein Geld und keine Aussichten und wenn sie sich mit einem trickreichen Manöver in eine gute Position gebracht hatten, kam etwa der Professor Semplini (gespielt vom genialen Komiker Totò) und sahnte statt ihrer ab. Frauenhelden waren sie trotzdem, aber ihre Mädchen hatten am Ende immer die besseren Karten. Ich erinnere mich, wie Giovanni Ralli sich mit einer unnachahmlichen, schlangenhaften Bewegung in ihren etwas knappen Badeanzug zwängte und wie das halbe Kino in Ohnmacht fiel. Da kann man den Verfall der Häuser doch voll vergessen.

Stolz und Hochmut des Migranten

Sprich, Erinnerung, sprich, das sind die Memoiren Vladimir Nabokovs bis zu dem Tag, an dem die Familie 1940 das Schiff nach Amerika betritt. Nabokov ist einen Tag älter als das Jahrhundert, er war gerade 18, als die Nabokovs Russland wegen der Oktoberrevolution verließen, aber schon ein ziemlich fertiger Mensch, wie man liest. Die Erinnerung spricht besonders gern und innig über die Kinder- und Jugendjahre in Russland, die Zeit in St. Petersburg, die russische Landschaft, das Leben auf den Gütern der Nabokovs, Ferienaufenthalte in Frankreich. Diener, Chauffeure, Privatlehrer, Gouvernanten, Eltern, Schwestern und Brüder, Onkel und Tanten werden bedacht; allzu große Ehrfurcht empfindet Vladimir vor niemandem, dazu ist er sich der eigenen Größe zu bewusst. Seine Leidenschaft ist die Jagd auf Schmetterlinge, Nabokov ist gleichsam schon als Lepidopterologe auf die Welt gekommen.

Nabokovs Erinnerungen, erschienen einst bei Rowohlt

Nabokovs Erinnerungen, erschienen einst bei Rowohlt

Kein Wunder, dass die Welt des Exils ihn nach dem Heimatverlust weitgehend kalt lässt. Da ein Mann wie Nabokov gewohnt ist, offener zu sprechen als die Masse der Menschen, erfahren wir von ihm Unerwartetes über die Gefühlswelt der Emigranten. Er lebte vorwiegend in Berlin und Paris „ein Leben unter völlig belanglosen Fremden, geisterhaften Deutschen und Franzosen, in deren mehr oder minder unwirklichen Städten … Diese Einheimischen schienen genauso flach und durchsichtig wie aus Zellophan geschnittene Figuren …”. Fremd ist der Fremde nur in der Fremde? Der Fremde vermag es nicht, sich selbst als fremd zu empfinden, fremd sind immer die anderen, in diesem Fall die Einheimischen. Man kommt kaum umhin, vom Hochmut des Eingereisten, des Gastes, zu sprechen, der aber verständlich ist, trägt er doch seine Welt im Kopf mit sich herum; und so stört ihn die neue, andere Welt, statt dass er ihr mit Neugier und Sympathie begegnen könnte. Jedenfalls mag das Menschen so ergehen, die derart vorgeprägt sind wie der Aristokrat Nabokov. Er drückt sich um das Wort Arroganz nicht lange herum. An Berlin und Paris interessierten ihn die Russen, die wie er emigriert waren; „unter den wenigen deutschen und französischen Bekannten (meistens Zimmervermieterinnen und Literaten)” hatte er in zwanzig Jahren „nicht mehr als zwei gute Freunde”. Es ist unter diesem Aspekt sicher falsch, wenn wir uns den Migranten als dankbaren und demütigen Gast vorstellen. Mehr als das braucht er seinen Stolz, um in den fremden Ländern nicht klein und hässlich zu werden.

Die Antwort lautet nö

Alles ’n bisschen unheimlich im Norden

                                          Alles ’n bisschen unheimlich im Norden

Je harmloser der Tatort aus Kiel anhebt, desto unheimlicher will er dann werden. Borowski, Axel Milberg, macht Vogelstimmen in der Balz nach, Kollegin Brandt lacht, und was machen Sie in der Balz?, fragt er dann, etwas, was diesem armen FDP-Mann, dessen Namen wir alle längst vergessen haben, sicher zum Verhängnis geworden wäre, aber Sarah Brandt, Sibel Kekilli, lacht nur noch mehr. Der Ironiker hat gute Laune, er mag die eigenwillige junge Kollegin, auch wenn das Ei manchmal schlauer sein will als die Henne. „Herr Borowski, wissen Sie eigentlich, zu was Frauen unter Drogen fähig sind?”, fragt Sarah Brandt eindringlich. Und nicht nur unter Drogen, hätten wir fast vorlaut geantwortet.

Schluss mit lustig. Im Fluss liegt der abgehackte Kopf eines Junkies. Die Ekstasen und Abgründe der Sucht. Wir wollen das nicht wissen, aber es gibt das nun mal. „Junge, schöne Menschen sind es, die hier einen scheinbar nicht endenden Rausch der Sinnlichkeit durchleben …”, schreibt die FAZ. So ist es natürlich überhaupt nicht, aber jeder sieht eben das, was er sehen will. Ermittlungen im Drogenmilieu, noch dazu in dörflicher Szenerie, gestalten sich besonders schwierig. Wir sehen verrückte Fahrrad- und Treckerfahrer, und die Antwort der Eingeborenen auf alle Fragen lautet in der Regel: Nö. „Der Kommissar hat noch ’ne Frage, und die musst du mit der Wahrheit beantworten”, sagt der Dorfpolizist zum Dorftrottel (die leicht ihre Rollen tauschen könnten), und Borowski gibt kund und zu wissen: „Für mich hat das wenig Ermittlungscharme.” Er meint zwar konkret die Auswertung von Handydaten, aber es ist schon so: Wenn Süchtige töten, kommt man mit Logik und Motivforschung nicht weiter. Es hilft ein zufälliges Detail, eine vage Beobachtung, ein minimales Beweisstück. „Borowski und der Himmel über Kiel”, der Tatort aus dem trüben Norden enttäuscht uns nicht, Axel Milberg und Sibel Kekilli spielen eine schwebende, nie unkomplizierte, aber immer einnehmende Beziehung vor.

Die ekelhaftesten Gestalten kamen in diesem Krimi zu unserem Kummer ungeschoren davon. Wie (manchmal) im wirklichen Leben. Werden wir sie wiedersehen?

Die Wege der Kindheit

Januar 23, 2015 2 Kommentare
Wege der Kindheit in Mecklenburg-Vorpommern © Christian Brachwitz

Wege der Kindheit in Mecklenburg-Vorpommern
© Christian Brachwitz

Die Wege der Kindheit sind weit. Sie scheinen sogar unendlich zu sein. Manchmal hatte man das Gefühl, im Sand stecken zu bleiben, und an den Seiten war auch nichts als sinnlose Zäune, gezogene Furchen, magere Strommasten, unbewegliche Feldsteine und autistische Häuser. Es konnte nichts anderes gewesen sein als das Schicksal, das Spuren im Sand hinterlassen hatte, eine Zeichnung, die niemand lesen konnte. Was soll aus uns werden. Wenn man wusste, es geht in den Kleingarten von Frau Eckert, an den Sumpfsee, zur Kiesgrube oder zur Grenzburg, war die Strecke erträglich. Aber es gab auch unbekannte Ziele, Wege, die man noch nie gegangen war, die Füße wurden schwer, der Durst unerträglich, kein Ende abzusehen. Das Bild will noch etwas anderes sagen. Rollenspiele, eingeübtes Geschlechterverhalten. Der Junge auf dem Fahrrad, das Mädchen mit dem Puppenwagen. Beide merkwürdigerweise in einer leichten Schieflage. Das droht alles nach rechts abzukippen. Das Feld, der Weg, der Acker, das Haus. Die ganze Welt. Als wir dann alle Fahrräder hatten, wurden die Wege kürzer, und jeder wollte schneller als die anderen sein. Die Friedensfahrtfanfare, das Reportergeschrei im Kopf. Das war auch anstrengend.

Berlin Alexanderplatz (14): Wie schön, nichts los

Solch eine Leere möcht ich sehen

Solch eine Leere möcht ich sehen

Der Alexanderplatz im Winter. Kein Event findet statt, die Straßenmusikanten können mit steifen Fingern nicht spielen, den Passanten wäre es sowieso zu umständlich, in den dicken Klamotten nach Geld zu suchen. Sogar die beliebten Primarktüten sieht man kaum. Nur die Männer, die in den Müllbehältern mit kundigen Blicken nach Verwertbarem suchen. Von den Pflastermalern sind noch ein paar Farbreste übrig, große, traurige Augen. Eine weite leere Fläche. Wie öde, wie gewöhnlich, wie abstoßend, würde die Grüne Künast nun wieder sagen, wenn sie den Platz nicht längst flöhe (meine Güte, was für ein Konjunktiv). Aber ein großer freier Platz, sage ich, das ist doch was fürs Auge. Diese Weite in der Mitte der Hauptstadt. Du fühlst dich wie am Meer. Und jeder Mensch, der den Platz kreuzt, ist schon mal von vornherein ein Individuum. Der selbstverliebte alte Herr mit dem stolzen Hut. Die Dicken und die Dünnen. Die finsteren Russenmützenverkäufer. Menschen aus aller Herren Länder. Frau fotografiert Mann. Mutter schiebt Kinderwagen. Überall ist Schlussverkauf. Rabatte bis 50 Prozent. Auf der Rolltreppe des New Yorker fragt die Verkäuferin: Kann ich Ihnen helfen? Ich hab nichts anzuziehen, sage ich. Das ist mal ne Ansage, sagt sie. Aber das sagt sie, glaube ich, zu den meisten. Die S-Bahn fährt vorbei wie ein Film, der nie aufhören wird und nicht aufhören soll, auch wenn er immer nur das Gleiche zeigt. Die Nuttenbrosche, Womackas Brunnen, ist ohne Wasser. Aber voller Unrat.

Individuen unter sich

Kapuzen, Hut und Tüten

Diese Ambivalenz eines Tages

Vorm Kulturforum. Die Kameraeinstellung war zufällig auch ambivalent

Vorm Kulturforum. Die Kameraeinstellung war zufällig auch ambivalent

Is’n Freitag, Anfang des Jahres. Wir fahrn in die Gemäldegalerie am Kulturforum. Kurz vor Bahnhof Friedrichstraße steht der Schaffner schon an der Tür des Regionalzugs und schwitzt. Tickets kontrollieren ist ihm zu aufwendig gewesen. Zug hält, der Schaffner betritt den Bahnsteig; ein Mann stürmt auf ihn zu, fragt hektisch: Hält der Zug am Hauptbahnhof? Der Schaffner bedient sich der Berliner Schnauze und sagt lässig: Wennse jetzt einsteigen ja. Is zwar schlagfertig, aber auch absurd. Der Zug hält sowieso Hauptbahnhof, ob der Chaot einsteigt oder nicht.

Gemäldegalerie am Kulturforum, das heißt Alte Meister, heißt auch gemischte Gefühle. Deutsche. Italiener. Niederländer. Man denkt, wenn man da eintritt, nicht, wie groß das ist. Wie nach jedem Saal ein Saal sich anschließt und an den wieder ein Saal. Bilder der christlichen Ikonographie. Zunächst von unbekannten Meistern, etwa aus dem Böhmischen oder Süddeutschen. Maria, die Verheißung, die Geburt Jesu, die Anbetung der drei Könige, das Leben Christi, Pontius Pilatus, die Folter, der Weg nach Golgatha, die Kreuzigung, die Kreuzabnahme, die Auferstehung, die Ruhe auf der Flucht nach Ägypten. Manchmal ist das Jesukind erschreckend klein und erwachsen, manchmal wirkt es pummelig und debil. Ich habe im Neuen Testament nachgesehen. Die Flucht nach Ägypten nimmt da gerade mal fünf Zeilen ein. Warum ist dieses Motiv so oft gemalt worden. Bilder von einer dunklen Farbigkeit. Später kommen die Bilder der namhaften Künstler. Dürer, Cranach, Rembrandt, Frans Hals, Breughel, Rubens. Dorfszenen, Kneipenprügeleien, Bettelmusikanten, Porträts von Kaufleuten, Juristen und Senatoren. Der Maler und seine Familie. Der Maler und sein Atelier, in dem gerade das Bild auf der Staffelei steht, das wir jetzt sehen. Am Ende Botticelli. Am Ende ist man auch apathisch, wundert sich aber doch, welche erheblichen Bestände die Gemäldegalerie aufzuweisen hat. Der Mann mit dem Goldhelm, Botticellis Madonnen. Hätte man nicht vermutet. Na ja. Man könnte sich eine modernere Form der Kunstvermittlung vorstellen. In der Museumskantine sitzt eine Gruppe französischer Kulturtouristen zu Tisch. Die Leute haben sich ihr Mittagbrot verdient, sind aber erst an Tagesordnungspunkt drei von sechs insgesamt angelangt und bereiten nun, während sie noch essen, mit ihren Smartphones die nächsten Aktionen vor. Touristen können einem auch leidtun. Besonders Kulturtouristen.

Wir haben genug Kunst gesehen und besuchen erstmals seit Jahren wieder die Potsdamer-Platz-Arkaden. Nicht zufällig landen wir bei H & M., und dort kommt es dazu, dass ich einen dicken blauen, durchaus modischen Winterpullover für 10 € kaufe. So etwas gehört ja nun wohl auch zu den Absurditäten der neueren Zeit. Als wir noch alle Ostler waren, hat uns mal eine ehemalige Kollegin aus dem Westen besucht, die einen Pullover für 600 Westmark trug. Wir waren sprachlos. Gut, auf den Pullover war eine Landschaft eingestrickt. Aber 600 Westmark für einen Pullover! Wie viel Whisky oder Chanel No. 5 hätte man dafür kaufen können. Es ist bekannt, dass diese Pullover, wie teuer auch immer, nach der zweiten oder dritten Wäsche wie Strickkleider aussehen. Und Männern stehen Strickkleider nicht. Da kaufe ich zehn Pullover für 10 €, und wenn der erste dann wie ein Strickkleid aussieht, ziehe ich den nächsten an. Ich könnte mit diesen zehn Pullovern für 100 € zehn Jahre leben, und über diese Absurdität komme ich im Moment nicht hinweg.

 

 

Sie erzählt ihm ihre Träume

Diese Pferde sind müde, aber außer Gefahr © Julia Thalheim

Diese Pferde sind müde, aber außer Gefahr
© Julia Thalheim

Lena läuft wieder. Nach dem Burnout ist sie zur Reha in der ländlichen Pfalz. Der Therapeut macht ihr gute Laune, sie erzählt ihm ihre Träume, aber das Verbrechen holt sie ein. Im Dorf hat sich rumgesprochen, dass eine Kommissarin vor Ort ist. Ein Pferdepfleger wurde erstochen, ein Pferd wurde aufgeschlitzt, es liegt da im qualvollen Todeskampf, Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) lässt sich die Waffe des empfindsamen Dorfpolizisten geben, aber auch ihr fällt es nicht leicht, dem Pferd den Gnadenschuss zu geben.

Bei den Tatortfolgen steht die Frage, wieviel – auch abartige – Wirklichkeit des Landes importiert werden kann, und zweitens, ob es den Machern gelingt, einen Verdächtigenkreis problematischer Existenzen aufzubauen, von denen am Ende nicht der unsympathischste der Täter sein sollte – in diesem Fall der hochnäsige Anwalt – , denn das wäre Populismus. Wir sehen düstere, mit Jagdtrophäen geschmückte Bauernwohnungen, kotzende Diskobesucherinnen, Tänze zu Helene-Fischer-Songs, pornographische Angebote im Netz. Die Wirklichkeit muss wehtun, sonst ist sie keine. „Menschen, die Pferde verletzen, sind meistens psychisch gestört”, sagt Lena Odenthal mit einem vor Sorge zerklüfteten Gesicht. Ja, da mag was Wahres dran sein, und der Film bestätigt es auch. Der neurotische Jüngling kann uns sogar leidtun. Der Anwalt nicht. Er setzt sich auf die Badewanne, in der seine Verlobte ein üppiges Schaumbad nimmt, er sagt: „Ich liebe dich mehr als mein Leben. Ich muss noch ins Büro.” Die pfälzische Bürgerwehr lauert dem Pferderipper mit hochprozentigen Getränken und scharfen Waffen auf. „Sie waren wie die Tiere”, sagt Odenthals Kollege Kopper, während die coole junge Fallanalytikerin die Kommissare damit nervt, dass sie immer nur Wahrscheinlichkeiten bewerten will.

Ich kriege jetzt nicht mehr zusammen, ob der Titel „Die Sonne stirbt wie ein Tier” tatsächlich durch die Handlung gedeckt war, aber wenn man auf so einen Satz kommt, dann will man ihn auch verwenden, das kann doch jeder einsehen.

Zu unserer Beruhigung wurde im Abspann mitgeteilt, dass für diesen Film aus Ludwigshafen keine Tiere verletzt, gequält oder getötet wurden. Es sah nur so aus.

Lob des Mülls

Berlin Prenzlauer Berg 1979. Soeht aber älter aus. © Christian Brachwitz

Berlin Prenzlauer Berg 1979. Sieht aber älter aus.
© Christian Brachwitz

Es war einmal im Prenzlauer Berg. Mit Hilfe eines alten Sessels und einer Holzkiste erklommen die Kinder den Müllcontainer. Die Straße machte einen Bogen. Die Autos waren froh, dass sie so weit gekommen waren. Das Haltestellenschild wurde ignoriert. Der 1. FC Union Berlin erbrachte mit Kreide den Nachweis seiner Existenz. Der Tag war grau. Die Sonne kam nicht durch. Irgendetwas wie Zuversicht auch nicht. Gab es nicht diese Frau, die das Fenster aufriss und in den Hinterhof schrie: Elendsbuchte, keene Zuversicht? Ja, die gab’s. Alle zwei Wochen dieselbe Aktion.

Da lohnt es sich, wenigstens noch auf den Müll zu gehen. Leute, die ihre Wohnung ausräumen, werfen in Hektik und Not immer was weg, was man gebrauchen kann. Vielleicht sogar Schätze. Die Blumen sind erst der Anfang.

Ich sehe, wie alte Leute stundenlang vor den drei Tonnen des Hauses stehen und den Müll untersuchen. Ich kenne die voluminöse Künstlerin, die sich auf der Suche nach Fundstücken für ihre Werke zu weit über den Rand des Containers beugte, hineinfiel und nicht allein wieder rauskam. Da hat man dann wenigstens was zu erzählen. Jahre lang. Dieselbe Geschichte. Kann man sich immer wieder ausschütten vor Lachen. Und was ich nicht schon alles gefunden habe im Müll …

Hier überlegen wir, was mit den Blumen zu machen wäre. Der Junge schenkt sie dem Mädchen? Das Mädchen schenkt sie seiner Mutter? Die Mutter wirft sie auf den Müll?

Die Straße sieht ooch aus wie Müll. Is aber keener.

Nachtrag zum Friedhof

Ich komme auf das Foto vom Friedhof zurück. Erst spät fiel mir auf, dass die drei Sargträger die Anmutung von Zwergen haben, und darauf beruht ein erheblicher Teil der Wirkung des Bildes. Sie sind nicht besonders klein, sie tragen Zylinder und auch sonst keine Zwergenkleidung (rotes Wams, Stiefel, Pluderhosen) – wieso das Zwergenhafte ihres Images? Weil sie sich so gleichen, quasi uniformiert sind. Auch der Ort des Geschehens spielt eine Rolle. Der Friedhof, da treffen sich die Geheimnisse von Leben und Tod, und die Zwerge waren von jeher Geheimnisträger, denen man die Kenntnis des Verborgenen und übermenschliche Körperkräfte nachsagte. Dann haben wir hier also drei Zwerge, die keine Zipfelmützen, sondern Zylinder tragen. Da fällt mir eine Kürzestgeschichte von Franz Hohler ein:

„Es war einmal ein Zwerg, der war 1,89 m groß.”

Zylinderzwerge © Christian Brachwitz

Zylinderzwerge
© Christian Brachwitz

Ja, wenn das so ist, dann ist alles möglich. Dann geraten alle Begriffe und Weltbilder ins Rutschen.

Wir kennen die Gartenzwerge, die Giftzwerge, Fruchtzwerge, Zauberzwerge, Wurzelzwerge, und jetzt hier also diese Zylinderzwerge. Und alle leben unter einem Himmel und kommen miteinander aus.

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