Männer und Hüte
Wenn Männer sich Hüte aufsetzen, sind sie in Not. Das mag früher anders gewesen sein. Da machte der Hut den Mann erst komplett. Heute ist der Mann mit Hut ein Potemkinsches Dorf.
Die Männer mit Hut auf unserem Foto sind Kurt Böwe und Dietrich Körner. Oder Orest und Pylades in „Iphigenie auf Tauris”, inszeniert von Alexander Lang am Deutschen Theater in Berlin 1984. Ja klar. Die edlen, gleichwohl mörderischen Griechen stellt man sich anders vor. Da ist es schon mehr als originell, wenn sie als bejahrte und beleibte Geschäftsreisende auftreten, die im falschen Hotel gelandet sind, wie es in einer Rezension hieß. Ich weiß nicht, ob Langs Rechnung aufging oder ob es um einen respektlosen Joke ging. Jedenfalls wurde der Inszenierung glänzende Laune und glänzende Form bescheinigt.
Wer Hut trägt, ist kein Held mehr, sondern ein Verlierer. Ein Verlierer, der mit Haltung verliert. Mir war so, als wären Böwe und Körner früh verstorben und als wäre der frühe Tod ein häufiges Schauspielerschicksal. Aber das stimmt so nicht. Böwe und Körner starben als junge Rentner mit 70 Jahren. Körner stand Pathos und Heroismus gar nicht. Ich sah ihn im DEFA-Film „Die Schwarze Galeere” 1962 als jungen Freiheitskämpfer mit gewaltigen Armschwüngen. Das konnte er am Theater zum Glück hinter sich lassen. Böwe war Asthmatiker und ein Humorist ohne gleichen. Er hatte es hinbekommen, die Kurzatmigkeit zu kultivieren.
Und nun das Bild. Der schwarze und der helle Verlierer, wie sie in einem merkwürdigen Winkel zueinander stehen. Sich gleichzeitig stützen und voneinander abstoßen. Sie haben sich von Anfang an nicht viel zugetraut. Insofern können sie dem Gang der Dinge mit Fassung entgegentreten. Entweder sie haben unverschämtes Glück oder alles geht schief.
Die sechziger, siebziger, zum Teil auch noch die achtziger Jahre waren eine große Zeit des Theaters in Ostberlin. Das hing mit Männern wie Benno Besson zusammen und damit, dass man Heldentum damals eher komisch fand. Wenn ich etwas bedauere, dann ist es dieses, dass man damals nicht noch viel öfter ins Theater ging. Dass man nicht begriff, dass eine solche große Zeit nicht ewig dauert.
Momentaufnahme Köpenick
Von unserem ewig im Bau befindlichen Bahnhof geht’s nach Köpenick. Die Passagiere kämpfen um ihre Lieblingsplätze. Ich lese im E-Book-Reader eine Geschichte von Eduard von Keyserling, an der ich übrigens schon lange lese, immer, wenn ich unterwegs bin. Die Aristokraten fahren in mehreren Kutschen zur Entenjagd und stellen Überlegungen an, was wohl die Schnitter auf dem Feld über sie denken mögen. Köpenick. Erhebliche Volumen, an denen man nicht vorbeikommt. Man muss sich ihrem Trott unterwerfen. Der Busfahrer nimmt keinen Anteil an meiner Jahreskarte. An der Station Krankenhaus Köpenick/Besuchereingang steigen viele aus; da bin auch ich ein Massenmensch. Die Asia-Imbiss hat jetzt auch ein breites deutsches Speisenangebot. Wenn’s dem Umsatz hilft. Die Kranken strömen ins Haus. Frauen, die nicht dick, aber dicklich sind und stolz darauf, ihr Zwischengewicht zu halten. Am Fahrstuhl. Warum müssen sie eigentlich immer stöhnen, wenn sie irgendwo einen Raum betreten. Oder ist es ein Seufzen? Nennen wir es ein tiefes ambivalentes Ausatmen: So weit sind wir gekommen. Schwer haben wir es gehabt. Jetzt sollte uns geholfen werden. Wir glauben nicht dran. Diese Frisuren. Ich weiß nicht, wie sie genannt werden. An den Seiten kurz, in der Mitte aufgefönt und –geblondet. Die Damen steigen aus, eine neue, muntere, steigt ein. Nehmen Sie mich mit, sagt sie. Ihr Handy klingelt. Ach, die schon wieder, sagt sie genervt. Was will die nur dauernd. Ich weiß es auch nicht, sage ich und steige aus. Für die Zahnarztpraxis habe ich mir schon einen Satz zurechtgelegt. Gibt es jetzt nur noch Zahnärztinnen auf dieser Ebene? Und ich sage den Satz auch. Ja, sagen Zahnärztin und Zahnarzthelferin. Unser alter Doktor Berg hat keinen männlichen Nachfolger gefunden. Müsste da nicht langsam über eine Männerquote nachgedacht werden? Dieser Satz kommt, ohne anzugeben, bei den Frauen gut an. Sie fühlen sich nicht bedroht. Woraus ich schließe, dass es um die Emanzipation besser steht als gedacht.
Wieder im Bus. Meine Zähne sind soweit okay. Ich sitze im Bus und denke über Köpenick nach. Über diese Frauen, die teils resigniert, teils militant daherkommen. Ich weiß nicht, was ich mehr schätzen soll. Und die Frauen, die mit ihrem numerischen Alter nichts zu tun haben. Und jene Frauen, die nur glauben, dass sie mit ihrem numerischen Alter nichts zu tun hätten. Diese Gemengelage ist schon recht subtil. Und das alte Problem: Warum sehen die Menschen in diesem schönen, wald- und wasserreichen Stadtbezirk so erschöpft und heruntergekommen aus? Der neue Versuch einer Antwort: Die alten kaputten Fabriken, die entmieteten Wohnblocks, die zerbrochenen Fensterscheiben, die es hier bestürzend oft gibt, strahlen irgendwie auf die Leute ab.
Wir haben ’ne Meise
Die Meisen frühstücken. Wir haben eine Vogel-Futter-Station mit Maiskörnern, Walnusstücken und Sonnenblumenkernen gefüllt und in die Korkenzieherweide gehängt. Wir hatten ja schon ein Vogelhäuschen im Walnussbaum plaziert, aber da haben wir noch keinen Vogel einkehren sehen, obwohl die Körner immer weg waren, wenn wir mal nachschauten. Mit der Vogel-Futter-Station war es anders. Es dauerte nur ein paar Minuten, da kamen die Vögel angeflogen, setzten sich auf die Zweige rund um die Station, und dann stellte sich ein Vogel auf eine der beiden Plattformen, pickte wild drauflos und flog wieder ab. Dann kam der nächste Vogel, selten, dass mal zwei oder gar drei sich über die Körner hermachten. Und es waren vor allem oder auch nur Meisen, die sich den Magen vollschlagen. Wir vermissen die Eichelhäher, die sich in unserem Quartier angesiedelt haben, aber gut, die Meisen sind schon okay. Hauptsache, es kommen keine Krähen und Tauben, die würden sich auf der zierlichen Station zum Glück nicht halten können.
Wir befinden uns mit unserer Aktion durchaus im Einklang mit neueren Erkenntnissen der Naturforscher. Man soll die Vögel nicht erst im Winter versorgen, sondern in Anbetracht der aktuellen Bedingungen ganzjährig.
Wenn wir nun morgens auf dem Fenster schauen, können wir sehen, dass die Meisen frühstücken. Wer die Meisen-Sprache versteht, kriegt auch mit, dass die Meisen sich demnächst ein Käffchen zum Frühstück wünschen. Das kriegen wir logistisch noch nicht hin. Mittlerweile ist die Hälfte der Körnersäule aufgefressen. Ob die Meisen klug genug sind, sich das Futter nun besser einzuteilen?
Übrigens sind sie kamerascheu. Sie lassen sich nicht gern beim Fressen fotografieren. Das geht uns Menschen ja auch nicht anders.
Berlin Alexanderplatz (32): Harmonie
Es war Freitagabend. Wir kamen aus dem Irish Pub, wo das Glas Bier 1 € teurer ist als normal und im Klo die gebrauchten Papierhandtücher aus dem Behälter quellen wie im Märchen der süße Brei. Da gehen wir erst mal nicht mehr hin. In Dublin sah das anders aus. In diesem sonnigen Oktober hat man keine Lust, gleich in die Bahn zu steigen, da gingen wir zum Alexanderplatz. Am Fernsehturm sprudelten die Fontänen. Was sich eine arme Stadt alles so leisten kann. In den Bassins badeten die gelbroten Herbstblätter und wollten einfach nicht untergehen. Vor dem – „ich sag jetzt mal” – Menschen Museum hatten sich die Menschen aufgebaut wie Exponate. Passt schon. Rechterhand tanzten zwei handliche Girls (war das jetzt schon Sexismus?) auf einem Bierdeckel, ließen sich dabei filmen und anschließend zeigen, wie das so ausgesehen hatte. Ein vor einiger Zeit eröffnetes Süßwarenparadies hatte schon wieder geschlossen, wahrscheinlich für immer. Die Tram trottete gewohnheitsmäßig am Bahnhof vorbei. Ein Gruppe Basecaps aus vieler Herren Länder hatte sich in der milden Luft versammelt, um gemeinsam zu lachen, zu lächeln und zu schweigen. Die Polizei-Wache am Alexanderplatz verhielt sich diskret. Polizisten genießen es, wenn sie nichts zu tun haben. Der Primark-Shop schien wieder viele Teenager glücklich gemacht zu haben. Der Pflastermaler erhielt Hilfe von einem Kleinkind. Beide Künstler respektierten und ignorierten einander. Vor dem Kaufhof spielte die Belfast Busking Band, teils im Stehen, teils im Sitzen. Ihr Song hätte sein können: Everybody Loves Fridaynight. Denn so war es: Am Freitagabend ist der Mensch ein anderer. Die Leute fühlen sich, als müssten sie nie mehr arbeiten. Zwei freie Tage scheinen eine Ewigkeit zu währen. Auf dem Alexanderplatz ist die Harmonie ausgebrochen, und keiner schlägt keinen.
Die Flut der Bilder am Sonnabendmittag
An einem sonnigen Herbstsonnabend sind Paare, Passanten in Berlin-Mitte angeregt bis unbewusst mit der Kamerafunktion ihrer Smartphones beschäftigt. Im langen Gang zwischen Seitenflügel und Ziegelmauer zum Haus Schwarzenberg bringen die Streetart-Werke den besonderen Background für das Bild „Ich war in Berlin mit meiner Freundin, meinem Freund, schräge Stadt”. Auf das Smartphone, das Foto können sich alle einigen. Eine Smartphone-Partei könnte absolute Mehrheiten erringen, wobei ich der Einzige bin, der auf diese Idee kommt. Wer unterzieht sich der Anstrengung, aus dem Tsunami der Bilder die haltbaren herauszufinden? Mit gefallen die kleinen Japanerinnen auf dem Alexanderplatz. Ihre Zuwendung, Brillen, ihre Röcke, ihre Lebkuchenherzen und die Freude darüber, dass sie eine Berlinerin gefunden haben, die für sie auf den Knopf drückt, so eine Blonde.
Unvergesslich ist die Cityguide, die in der Gasse von Haus Schwarzenberg eine phantastische Performance abliefert. Regisseure, kommt raus aus euren Kunsttempeln, kommt auf die Straßen. Verbindet euch mit den unbekannten Talenten, so kann das Theater entstehen, das unsere Zeit braucht.
Die Uffpackerin
Im Penny-Markt. Ich habe mein Leergut in den Automaten getan, ziehe den Bon und interessiere mich eigentlich nicht für die Worte der Aufpackerin: „Darf ich Sie mal wegschieben, damit ich hier weitermachen kann?” Ich bin ja aber der einzige Kunde in der Nähe. „Meinen Sie mich? Ich dachte, Sie reden mit dem Einkaufswagen.” „Nee”, sagt sie, „so weit ist es noch nicht.” Das rettet schon mal meinen Tag, auch wenn der gerade erst angefangen hat.
An einem Tag der Einheit
Den Tag der Einheit beging unser Quartier (unser Kontaktbereich) mit einem Riesen-Flohmarkt. Die Autos kamen wie Hitchcocks Vögel. Die entnervten Fahrer parkten schließlich sogar auf den Bürgersteigen und fragten demütig, ob uns das störe. Nein. Wir gehen durch die Luft.
Sie kamen anscheinend aus ganz Deutschland herbeigefahren, um diesen Riesen-Flohmarkt zu besuchen und Geschäfte zu machen, während wir als Anwohner noch nicht mal was von diesem Event wussten. Offensichtlich ist Deutschland auch am Tag der Einheit ein geteiltes Land.
Zum Riesen-Flohmarkt selbst lässt sich nicht viel sagen außer, dass er wirklich riesig war. Das Gelände der Trabrennbahn reichte gerade mal aus, um allen Händlern und Interessierten Platz zu bieten. Hier trafen wir nicht auf die liebenswerten Eltern, die noch einmal die Zimmer ihrer ausgeflogenen Kinder ausgeräumt hatten und Spielzeug, Bücher und Märchenplatten zu Geld machen wollten. An diesen Ständen standen kampferprobte Trödler, die Hausrat, alte Technik, Schmuck, Nussknacker, Sammeltassen und Gemälde anboten. Von manchen Gegenständen wusste man nicht, was sie sein sollten. Auffällig viele Zinkgießkannen und Zinkwannen, davon eine, die dem VEB Volkswerft Stralsund gehört hatte, einmal, als noch alles anders war. Na ja. So anders auch wieder nicht.
Diese Trödler waren schon deshalb professionell, weil sie ihre Gesichtszüge völlig unter Kontrolle hatten. Keinem sah man Verdruss, Resignation, Wut oder Enttäuschung darüber an, dass die Interessierten an ihnen vorüberzogen, ohne Anstalten zu machen, etwas zu kaufen. Ein dicker Gute-Laune-Onkel setzte einen drauf, als er sagte: Sie sind hier der erste Stand, wo etwas verkauft wird. Der Trödler zuckte mit der Schulter.
In der Wetthalle hatten sich die Philatelisten und Numismatiker eingerichtet. Hier herrschte die gediegene Atmosphäre, die man aus diesen Kreisen kennt. Wer hätte je einen nervösen Briefmarkensammler gesehen! Wir gingen mit vier Schnapsgläsern für 3 € nach Hause. Ob wir den Händler damit glücklich machen konnten, wagen wir nicht zu hoffen.
Am Ende war dieser träge Flohmarkt an einem trägen Tag der Einheit gut gelaufen. Keine tickenden Zeitbomben auf dem Gelände unterwegs. Keiner hat viel erwartet. Das war schon mal anders. Die Leute haben ihre Betriebe und ihre Illusionen verloren. Und ihre Ängste auch, von denen sie noch gar nichts wussten. Das ist kein schlechtes Leben. Neben den allfälligen Innovationen haben wir so viele alte Sachen. Die verschwinden einfach nicht.
Hoppers Bahnhof
Auf dem Ostbahnhof wähnte ich mich wieder in Hoppers Welt. Für den Zug, auf den ich warte, steht auf dem ausgedruckten Plan eine andere Ankunftszeit als auf der Digitalanzeige. Irritationen gehören zu einem Bahnhof dazu, der sich einmal Hauptbahnhof nennen konnte und sich mittlerweile mit seinem Bedeutungsverlust arrangiert. Dass das hier mal, in den Zeiten der Industrialisierung und des großen Zustroms von Osteuropäern, eine der elendsten Gegenden Berlins war, scheint nicht zu vergehen. Wir haben es in mancher Nacht gesehen.
Der Bahnhof sollte sich in Agonie befinden, aber wir finden keine geschlossenen Läden. Die Geschäfte und Bistros sind sauber, modern und sie laufen, auch wenn sie es überwiegend mit Alleinessern, Alleintrinkern und Alleinkäufern zu tun haben. Der große Presseshop machte dutzendfach Reklame für bedeutungslose Bücher. Abenteuerlustige Osteuropäer fühlen sich in langen Gängen zu Hause. Eine Schweizer Familie sucht Orientierung, der Vater gibt seinen Kindern nutzlose Erklärungen. Die Posen des Wartens, der Selbstvergewisserung, der Verlorenheit. Die Reisenden warten in aller Ruhe auf die Abfahrt ihres Zuges. Für andere sind alle Züge längst abgefahren. Der Bahnhof ist ihre Welt, Tag für Tag. Die einen spüren, was Zeit bedeutet, die anderen können die Zeit mit allem Recht vergessen. Diffuses Licht. Tage im Halbschlaf. Paare, die sich seit Jahren in wortloser Kommunikation üben. Fremde, die sich finden und ihre Einsamkeit durchbrechen. Der Obdachlose, der Invalide, der wohlsituierte Senior. Hier werden ihre Geschichten gehört. Wenigstens haben sie den Eindruck, dass sie auf Interesse stoßen. Wo könnte man seine Verlorenheit besser ertragen als auf einem vergessenen Bahnhof.
Der kleine Klaus
Es ist noch nicht acht am Morgen. Schwere Fahrzeuge rumpeln durch die Straße. Ein mörderischer Knall. Und wieder einer. Vorm Nachbarhaus steht ein verbeulter Container. Die Wohnung des kleinen Klaus wird ausgeräumt. Zwei Mann werfen alles aus dem Fenster. Ein dritter trägt es zum Container und lässt es krachend hineinfallen. Schrankteile. Vermutlich hat sich der kleine Klaus nie ein Möbelstück gekauft, sondern in Dorfkneipen, wo er zum Tanz aufspielte, Stühle, Tische und Sessel mit ins Auto geladen und nach Hause verbracht. Nur die Fernseher hat er neu gekauft. Das beste Stück ist ein Teppich, der beinah wie ein Perserteppich aussieht. Rein in den Container. So wird es zur Gewissheit, dass der kleine Klaus ab jetzt im Heim wohnt.
Der kleine Klaus, wie er hier lebte, war ein kaum mittelgroßer Mann mit krausem Haar. Ein Akkordeon- und ein Schachspieler. Ein Mann mit Uniform, denn er verdiente sein Geld in einem Militärorchester. Damit nicht genug: Am Sonnabend fuhr ein Kollege mit seinem Trabant vor; dann ging’s über Land, da wurde dazu verdient und gelegentlich auch eine Frau abgeschleppt. Der kleine Klaus hatte einen Sohn, der ihn ab und zu besuchte, das war der Fred, der seinen immer müden Vater ausdauernd zu quälen wusste, vielleicht im Auftrag der Mutter, die hier nie auftauchte. Aus diesem Fred wurde überraschend schnell eine lange, hagere, vornüber geneigte Gestalt, die schon früh eine Tonsur, aber keinen Beruf hatte. Manchmal spielte der kleine Klaus mit seinem Sohn eine Partie Schach, wobei er unentwegt „Da musste aufpassen” und „Das musste dir merken” sagte.
Mit dem Ende der DDR war auch das Berufsleben des Militärmusikers beendet und das Aufspielen auf dem Dorfe ebenso. Noch zu DDR-Zeiten hatte er ein weiteres Standbein gesucht. Er tauchte bei einer Chansonette auf und wollte mir ihr gemeinsame Sache machen: „Musikalische Unterhaltung”, das kam ihm wie ein Zauberwort und ein Geschäftsmodell zumal vor. An manchen Sonntagen tönten aus seinen geöffneten Fenstern alte Ballmelodien, ein wenig hastig auf einer Hammondorgel gespielt.
Je älter er wurde, desto mehr scheute der kleine Klaus die Sonne. Aber davor lag noch eine wichtige Phase. Der kleine Klaus hatte als Musikant und Künstler, der er war, eine stattliche blonde Frau erobert. Die Frau floh kurz nach dem Polterabend, dafür aber auf Nimmerwiedersehen. An ihre Stelle trat das weniger stattliche Ilschen, ein Original, unerschrocken und nicht auf den Mund gefallen. Auch wenn sie nicht ständig beim kleinen Klaus wohnte, hörte sie doch nie auf, den Mann zu retten, aufzurichten und streng zu ihm zu sein, während er für den großen Klaus ein Jammerlappen war. Er floh nicht nur vor der Sonne, sondern auch vor dem dröhnenden Optimismus dieses Bruders: Muss weiter gehen, immer weiter, vorwärts! An guten Tagen konnte er sich schon mal über den Berliner Flughafen aufregen, BER, obwohl er nie geflogen war und nie fliegen würde. Wie die unser Geld raushauen. Das hätte er besser gemacht, zweifellos.
Wenn der große Klaus verreist war, setzte sich der kleine Klaus mit einer schwarzen Brille an einen schattigen Platz im Garten und spielte toter Mann. Manchmal stieß er ein Stöhnen aus, als wäre es sein letztes. Das war seine Art von Humor.