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Archive for April 2018

Menschen in der Großstadt (2)

Achtung, Achtung, neuer Sender: Egon fällt vom Treppengeländer
© Fritz-Jochen Kopka

Hieß er Karl? Der Junge in Sven Regeners erstem Herr-Lehmann-Buch, der aus der Provinz nach Berlin, dem alten West-Berlin, zog und irgendwann durchdrehte, einfach verrückt war? Das ging mir nie aus dem Kopf. Die jungen Landeier, die große Träume mit der Metropole verbanden, unendlich viele Möglichkeiten entdeckten, aus denen letztlich nie etwas wurde, viele Freunde fanden, die in entscheidenden Momenten nicht da waren, wenn man sie am meisten gebraucht hätte. When I needed you most.

Wenn die Frauen älter werden, kontrollieren sie gerne die Müllcontainer nach dem Prinzip, was werfen die hier weg, was ist noch zu gebrauchen, was gehört hier nicht rein, wie trennen die überhaupt den Müll, diese Kulturbarbaren.

Der Kleingärtner tritt aus der Laube und ruft in die Welt hinaus: Bombe entschärft! Hört sich so an, als hätte er es selbst gemacht. Zum mindesten lag die Logistik in seinen Händen.

In der S-Bahn sitzt auf der Bank neben uns ein wohl noch junger Mann mit nicht unverdächtigem Image. Ein sonniger Sonntag in der Großstadt im April. Wärmer, als man erwartete. Der Mann neben uns springt auf und reißt sich das Hemd vom Leibe. Wilde Blicke wirft er dabei in den Wagen. Hat etwa jemand was dazu zu melden? Irgendwelche Proteste? Jetzt sitzt er da in einem mausgrauen Turnhemd, aber es reicht ihm noch nicht. Jetzt reißt er sich mit ebenso wilden Blicken den Schuh vom Fuß. Reicht immer noch nicht. Er stürzt sich auf das Fenster in unserem Abteil und reißt es auf. Eine Ladung Aggressivität ist in seinen auf mich gerichteten Augen. Alles gut, sage ich. Er geht zurück auf seine Bank, wirft sich hin und her. Müssen wir umsteigen, fragt meine Schwester. Ich schüttele den Kopf, aber Ostkreuz erhebe ich mich doch und sage komm. Wir steigen aus und gehen in den nächsten Wagen. Das wurde mir doch zu bunt. Er ist auch ausgestiegen, sagt meine Schwester. Aber der Gestank ist nicht ausgestiegen, sage ich. Oh ja, das war infernalisch. Keine weiteren Zwischenfälle in S- und U-Bahn. Am Bahnhof Pankow warten wir auf den Bus, aber der kommt nicht. Vielmehr kommt eine Frau, die sich als routinierte Schwätzerin entpuppt. In ihrem Schlepptau ein lächelnder Mann. Der Frau redet unentwegt, der Mann lächelt unentwegt, Hände in den Hosentaschen, und sagt kein einziges Wort. Der scheint clever zu sein. Man weiß nicht, ob er überhaupt zuhört. Sein indifferentes Lächeln kann alles bedeuten. Wahrscheinlich ist die Frau Lehrerin, vielleicht sogar Direktorin.

Sonntag beim Bäcker. Ich kann leider nur mit einem Hundert-Euro-Schein zahlen, sage ich. Den darf ich ja gar nicht nehmen, sagt die Bäckersfrau. Na dann, sage ich und geb ihr zehn Euro. Ick lass mir heut sowieso nicht ärgern. Es kostet dann 5,56 €. Ob ich sechs Cent habe. Zählen Sie mal mit, sage ich. Sind schon sieben, sagt sie. Sehen Sie, so bin ich zu Ihnen und wie sind Sie zu mir?, sage ich. Ich freu mir, wenn ick mal Zeit habe, sagt sie. Vorbildlich akausal, diese Antwort.

Als wir aus dem Kino kommen, ist halb Friedrichshagen betrunken, jedenfalls soweit es sich in Bahnhofsnähe befindet. Auf dem Bahnsteig steht ein älterer fülliger Herr in Safari-Kleidung und trompetet ins Telefon. Er redet endlos, sagt aber dabei immer nur, dass er schon Bier besorgt hat. Man kann in der Großstadt nicht alleine sein.

Retter der Tiere

Eine Sekunde vor der Freiheit. Die Umrisse des Gesichts des Retters. Die Hornisse, die sich plötzlich ziemlich klein macht.
© ADe

Das Geräusch erfüllte das Dachzimmer. Ein Brummen wie von einem kaputten Radio. Am oberen Fenster versuchte – es konnte nur eine Hornisse sein – die Hornisse hinaufzuklettern. Tiere mögen alles Mögliche begreifen, aber was Glas ist, das geht über ihren Verstand. Sie rutschte ab und kletterte wieder nach ob, aber wozu? Oben war das Glas nicht weniger undurchdringlich als unten. Auch mit einem Hornissenhirn muss man das doch irgendwann einsehen. Sie hätte sich nur an eines der unteren Fenster begeben müssen, dann hätte ich aufgemacht und der Kampf um die Freiheit wäre gewonnen gewesen, wenn auch nicht aus eigener Kraft. Kommt es denn darauf an, wenn es um die Freiheit geht? Mit der Fliegenklatsche hätte ich die Hornisse erreichen können, aber so ein erhebliches Tier erschlägt man nicht. Man will eine Hornisse auch nicht in Wut bringen, man hat Respekt vor ihrer Gefährlichkeit. Am zweiten Tag – die Hornisse wirkte schon sehr entkräftet – schleppte ich eine Leiter nach oben und stieg nicht ohne Beklemmung hinauf. Nun war die Hornisse intelligent genug, aus dem offenen Fenster hinauszufliegen.

Wir haben hier schon viele Tiere gerettet. Frösche und Kröten, die sich in der Regentonne abstrampelten, Igel, die sich in den angekippten Kellerfenstern eingeklemmt hatten, einen Buntspecht, der wie tot im Blumenbeet lag. Man macht das, ja, aus Menschlichkeit kann man nicht sagen, macht man es aus Animalität? Kreatürlichkeit? Man will dafür auch keine Auszeichnung haben.

Ich habe nachgelesen. Die Gefährlichkeit von Hornissen wird überschätzt. Man braucht schon ungefähr 300 Hornissenstiche, um zu sterben, nicht drei, wie oft behauptet wird.

 

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Menschen in der Großstadt

Die Unberatenen am Ostbahnhof
© Fritz-Jochen Kopka

Sonne in der City. Auf dem Weg zum Ostbahnhof kaufte ich einen Döner, setzte mich in den Biergarten und hatte zwei Männer vor meinen Augen, Vorstadtangeber, Raucher, Biertrinker, von denen einer, mit einem ambitionierten Dilettanten-Haarschnitt, so nervös war, dass er nur mit ruckartigen Bewegungen reden konnte, wobei er immer in Gefahr war, vom Stuhl zu fallen. Zu viel Leidenschaft, aber die hochgewachsene Dame in knappen Jeans rührte ihn nicht. Sie hatte keinen Mann zu Hause und keine Lust zu kochen. Beim Döner Imbiss bestellte sie das Überlebensnotwendige, setzte sich, wartete, wich Blicken aus, bezahlte den eingewickelten Salat und blieb so einsam, wie sie gekommen war. („Mit dem Kapitel habe ich abgeschlossen.”) Ostbahnhof war ich lange nicht mehr ausgestiegen. Das kann ja nach Lage der Dinge nur ein untergehender Bahnhof sein. Der Untergang findet eher vor den Türen statt. Die Subkultur der aus dem System Gefallenen. Leere Flaschen, halbvolle Flaschen, fleckige Kleidung, speckige Haare, verschwiemelte Augen, Schlaf und Halbschlaf.

Hier zählt der Mensch noch als Einzelwesen

Der Ostbahnhof aber lebt. Saubere Geschäfte und Bistros. Der Zeitungsshop bietet unzählige Titel, die, sollte man meinen, keiner braucht. Vor dem Kundencenter im ersten Stock steht eine lange geduldige Schlange. Man hat den Eindruck, dass sie sich nicht bewegt. Überhaupt denkt man an Bilder der Unbeweglichkeit von Edward Hopper. Der Zug, auf den ich warte, kommt aus Amsterdam und hat natürlich Verspätung. Ich beobachte einen jungen Jäger bei der Jagd. Er hat sehr dunkle, fast schwarze Augen, denen man einiges zutrauen möchte. Sein Beutetier ist in diesem Fall ein junger farbiger Reisender. Ich kann seinem Monolog nur körpersprachlich folgen, aber das ist eindrucksvoll. Zu seinen weiß Gott nicht beiläufigen Gesten und Mienenspielen könnte man sich eine Geschichte ausdenken, kein Problem, aber mir genügt die Pantomime. Der Schwarze hört zu, schwankt, greift, der Zug ist schon eingefahren, die Tür steht offen, zum Portemonnaie und gibt dem Jäger eine Münze, der Jäger ist dem Spender beim Verfrachten des Koffers in den Waggon behilflich, die Türen klappen zu, der Zug fährt ab. Der junge Jäger hält am Ende des Bahnsteigs den leicht variierten Vortrag einer jungen Frau. Warum ist er an mir vorbeigegangen? Ich bin kein gutes Jagdwild. Exoten und Frauen sind gutes Jagdwild. Mir kommt der Verdacht, dass für den Jäger das herbeigeredete Geld noch nicht mal das wichtigste ist. Wichtig sind die ausführlichen Ansprachen, die alles Unglück dieser Welt herbeireden, wichtig ist, ob diese Ansprachen Wirkung erzielen. Wir glauben ihnen nicht. Gleichwohl müssen wir ihnen Anerkennung zollen.

„Es gibt vielleicht keine seelische Erscheinung, die so unbedingt der Blasiertheit vorbehalten wäre, wie die Blasiertheit”, schreibt Georg Simmel in seinem Essay „Die Großstädte und das Geistesleben”. Mit der Blasiertheit schütze sich der Großstädter vor der Reizüberflutung, vor „den rasch wechselnden und in ihren Gegensätzen eng zusammengedrängten Nervenreizen, aus denen uns auch die Steigerung der großstädtischen Intellektualität hervorzugehen schien; weshalb denn auch dumme und von vornherein geistig unlebendige Menschen nicht gerade blasiert zu sein pflegen”.

Ein Gedanke, der geeignet ist, uns über unsere Unempfindlichkeit hinwegzuhelfen, so oder so.

Wir waren sechs

An einem Freitagabend in Friedrichshagen
© Fritz-Jochen Kopka

Wir waren sechs im Kino Union in Friedrichshagen, zunächst nur drei, aber dann erschienen noch ein Pärchen, von dem sich das Mädchen während des Films öfter die Haare stylte, und eine ältere Dame, die darauf bedacht war, niemandem die Sicht zu versperren. Im Union haben sie neben zwei Sälen jetzt noch das Studiokino (ganz oben, wie sie gerne sagen) und da spielte „Lady Bird”, written and dirceted by Greta Gerwig. Es war ein Hochsommertag im April, ein Freitag, da reicht es, wenn sechs Gestalten im Kino sitzen.

Den Namen Lady Bird hat Lady Bird sich selbst gegeben. Christine McPherson ist nicht bereit, sich mit dem zufriedenzugeben, was ihr zugedacht wurde. Nicht mit ihrem Namen, nicht mit Sacramento, zumal sie auf der falschen Seite der Gleise wohnt, nicht mit der Westküste („ich will dorthin, wo Kultur ist”), nicht mit den bescheidenen Verhältnissen, in denen ihre Familie lebt. So ist klar, dass sie Dauerkrieg mit ihrer ungeduldigen Mutter hat und Dauerfrieden mit ihrem sanftmütigen Vater. „Ich würde gern an der Mathe-Olympiade teilnehmen”, sagt Lady Bird. „Aber Mathe ist nicht unbedingt deine Stärke”, wundert sich Sister Sarah, die Lehrerin (gespielt von Lois Smith, die schon mit James Dean gefilmt hat). „Nur nach dem jetzigen Stand”, sagt Lady Bird. Sie geht mutig auf die Jungs zu, mit denen sie sich etwas vorstellen könnte, sie lügt, sie schummelt, sie kämpft und sie lernt, dass die Realität auch für die Willensstarken immer mindestens zwei Seiten hat. Ihr erster Lover ist schwul, der zweite total abgehoben. Am Ende landet Lady Bird doch in New York, studiert irgendwas mit Kunst, erlebt einen heilsamen Zusammenbruch, in dessen Folge sie ihren Namen akzeptiert, Sacramento akzeptiert, denn das ist die Stadt, in der sie jeden Winkel kennt und in der alle ihre allzu verständlichen Lügen aufgedeckt wurden, ohne das es ihr dabei an den Kragen ging. Wir sollten lernen einzusehen, dass das, was uns das Leben zugedacht hat, so schlecht nicht ist. Man kann schon etwas damit anfangen.

Es ist die erste Regiearbeit von Greta Gerwig, die wir vor allem als Frances Ha kennen, die unbedingt Tänzerin werden will, obwohl sie sich sehr eckig bewegt: „… aber das ist nur der jetzige Stand”. Die Schauspielerin Greta Gerwig geht mit ihren Schauspielern souverän um. Saoirse Ronan, die Lady Bird spielt, sah sie zuerst auf Fotos: „Sie sah wild und eindringlich aus, ihr Anblick löste sofort etwas in mir aus.” Gerwig musste ein Jahr auf sie warten, aber es war klar: Saoirse Ronan, „… sonst niemand spielt Lady Bird”.

Die Welt – der Welt

Misstrauen ist immer angebracht. Auf dem Berliner Alexanderplatz
@ Fritz-Jochen Kopka

Wer würde eine Theaterkritik weiterlesen, deren erster Satz so geht: „Was für einen Spaß könnte die Welt seinen Bewohnern bereiten, sähe sie aus wie jetzt in den Kammerspielen des Deutschen Theaters in Berlin.” Wohl keiner. Da müsste noch nicht mal Irene Bazinger als Verfasserin drunter stehen. Der Satz ist mit seinen falschen Bezügen einfach zu konfus, als dass man im Weiteren noch etwas Aufschlussreiches erwarten könnte.

Und doch verbirgt sich dahinter ein ernstes Problem. Die Aktivistinnen für eine geschlechtergerechte Sprache sind schon so nervös geworden, dass sie ungewollt den umgekehrten Weg gehen. Weibliche Worte werden vermännlicht (oder versächlicht, was vielleicht nicht ganz so schlimm wäre, aber immer noch schlimm genug). Die Welt – der Welt – das Welt. „Was für einen Spaß könnte die Welt seinen Bewohnern bereiten …” Wir sehen die ganze Not der Aktivistinnen. Wir liberalen Männer können daraus nur den Schluss ziehen, dass wir den kämpfenden Frauen beispringen und alles verweiblichen, was sich irgend verweiblichen lässt. Wäre uns allen damit gedient, wenn wir aus unserer gewohnten in einem kreativen Akt eine geschlechterfreie Sprache schaffen würden? Oder müssten die Aktivistinnen dahinter nur eine Intrige vermuten, die ihnen mehr wegnimmt als gibt?

Draußen herrschte der Kalte Krieg, drinnen machte man es sich gemütich

Ein solches Buch konnte man nicht erwarten
Titelseite (Ausschnitt)

Annie Ernaux: Die Jahre. Ein Buch wie dieses hat man noch nicht gelesen (jedenfalls nicht mit Interesse und Anteilnahme), ein Buch, das vorsätzlich auf Geschichten und Charaktere verzichtet und dafür ein Gruppenporträt liefert, das der 1940 in Frankreich Geborenen. Eine gnadenlose, gleichwohl gelassene Beobachterin der Zeit und der Zeitgenossen ist Annie Ernaux. Die großen Ereignisse und die kleinen. Was wurde am Familientisch gesprochen, in der Schule, an der Uni. Wie lebte es sich in der Provinz, in Paris, in der Vorstadt. Wie entfernt man sich von den Eltern und wie entfernen sich unsere Kinder von uns. Was geschieht in den Urlauben. Wie erleben wir die Wucht der Medien und der Warenwelt und wie die Unwucht der Gefühle. Denn Annie Ernaux jammert nie, wie sie auch niemals jubelt. Ihr Blick ist nie verklärt. Die Ehe scheitert undramatisch. Sie hat damit noch nicht genug von den Männern und die Männer nicht von ihr. Was sangen die Schlager-, Pop- und Rockstars, was spielten die Kinos, was machte uns das Fernsehen vor, was hätten wir besser machen können und in welcher Zuspitzung hätte es auch schlechter kommen können. Wir waren nicht immer souverän, wir ließen uns einfangen, wir waren selbstbestimmt, aber auch Mitläufer, das ist nicht heroisch, aber wir waren auf jeden Fall Genossen der Zeit, diese Zeit war unsere Zeit, weil viele so waren wie wir.

So war es am Anfang:

„Die Eltern kurierten ihre Grippe mit Aspirin und einem Grog. Die Männer stellten sich am hellichten Tag zum Pinkeln an irgendeine Mauer, und höhere Bildung stimmte misstrauisch, als fürchtete man in einem merkwürdigen Umkehrschluss, sie mache plemplem, als Strafe dafür, dass man zu hoch hinaus wollte. In allen Mündern fehlten Zähne. Die Zeit, sagten die Leute, war nicht für alle dieselbe.”

So war es mittendrin:

„Jeder isst, wann er will, mit einem Tablett auf den Knien vorm Fernseher … Man war umgeben von still vor sich hinsterbenden Aids-Toten und ausgezehrten Überlebenden.”

Und so ist es jetzt:

„Ihr ist das Gefühl für die Zukunft abhandengekommen, dieser unerschöpfliche Vorrat an Zeit, auf dem bis vor Kurzem all ihre Handlungen und Taten beruht hatten, eine Vorahnung schöner, unbekannter Dinge … ”

Annie Enaux: Die Jahre. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Bibliothek Suhrkamp

 

Ein Werk rehabilitiert sich

Die Zeichnungen fertigten mehrere vornehmlich Leipziger Künstler nach antiken Orignalen an

Wenn ich unverbindlich Jacob Burckhardts Griechische Kulturgeschichte lese, werde ich mit einer Masse mir unbekannter Begriffe konfrontiert. Manchmal bleibe ich ungerührt und erschließe mir die Bedeutung aus dem Zusammenhang. Manchmal markiere ich aber den Bildungsbürger (oder den Menschen, der sich auf dem Weg zum Bildungsbürger befindet; immer noch) und schlage im Lexikon der Antike nach. Als das damals, 1977, (in zweiter Auflage) erschien, standen wir in einer Lektorenstube des Verlags Neues Leben und die Lektoren (die sich gegenseitig gern Endprodukte nannten) machten ein paar Stichproben, und siehe, Marx, Engels, Lenin, alle waren im Lexikon der Antike vertreten, und die Lektoren schlugen sich vor Lachen auf die Schenkel, was haben die denn mit der Antike zu tun, sehr parteilich, dieses Lexikon. Nun gut. Ich finde aber in diesem von Johannes Irmscher herausgegebenen Werk des VEB Bibliographisches Institut Leipzig tatsächlich Antwort auf fast alle auftauchenden Fragen zur Antike. Die Polis etwa benötigte zu ihrem Genügen (Autarkeia) eine nicht zu große und nicht zu kleine Anzahl von Hopliten. Ein Hoplit aber war ein schwerbewaffneter Fußkämpfer in den altgriechischen Bürger- und Bauernheeren. Gut zu wissen. Schöner noch finde ich die ursprüngliche Bedeutung des Wortes Banause. Der Banause („der am Ofen Arbeitende) war einer, der seinen Lebensunterhalt durch körperliche Arbeit verdiente. Handwerker etwa. Als ehrenvoll galt unter den Verhältnissen der antiken Sklavenhalterordnung jedoch eine Tätigkeit, die auf geistigen Fähigkeiten beruhte „und nicht um des Gelderwerbs willen betrieben wurde”. Wundert euch also nicht, wenn ich euch mal Banausen nennen, Freunde.

Sind die Deutschen zu dick?

Ostern kann sehr kalt sein
© Fritz-Jochen Kopka

Sind die Deutschen wirklich zu dick, denke ich auf dem S-Bahnsteig. Oder neigt man hierzulande eher zur Magersucht. Die Antwort ist nicht so leicht zu geben, auch sie liegt im Auge der Medien, je nachdem, was im Moment mehr Aufmerksamkeit verspricht. Wir alle schauen zu, wie ein Migrant mit seinem minimalen Hündchen spielt (ich glaube, diese superkleinen Hunde sind zur Zeit Mode). Der Mann ist von einer wohligen Fülle, aber unglaublich beweglich. Das Hündchen schnappt nach seinen Füßen, und er entzieht sie ihm, indem er behende herumtanzt und hüpft. Als die S-Bahn einfährt, will das Hündchen auch mit dieser spielen, und der Mann macht einen gewaltigen Sprung, um das Tier vor der Bahn zu retten, die ja nicht so weghüpfen kann wie er. Ich achte darauf, dass ich in einen anderen Wagen einsteige als der Mann, aber am Ostbahnhof, wo wir umsteigen müssen, sind wir wieder vereint. Der Wagen ist krachend voll. Der Mann hat einen Freund getroffen und das Hündchen in seiner Jacke geborgen. Während des Gesprächs streichelt er es unentwegt mit großer Zärtlichkeit. Ein paar Selfies sind auch noch drin.

Es ist ein voller Tag, die Stadt platzt in ihrer Mitte aus den Nähten. Die Leute weichen ungern aus, sie versuchen viel mehr, durch dich hindurchzugehen. Ob das wohl geht. Nee, geht nicht, aber das weiß man doch schon vorher.

Auf dem Alexanderplatz ist das nächste Volksfest installiert. Die gleichen, leicht abgewandelten Bestandteile wie zu allen Festen eben. Aus der Weihnachtspyramide ist eine Osterpyramide geworden. An den Ständen wird ordentlich ausgeschenkt, gebacken und gebraten. Wenn man mich jetzt fragte, ob die Deutschen zu dick oder zu dünn sind, würde ich sagen: zu dick, eindeutig. Wir sind zu dick und immer noch dabei, Sachen zu verschlingen, die eindeutig als Dickmacher gelten.