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Posts Tagged ‘Ostsee’

Stranger on the Shore

Ich bin ganz auf seiner Seite
© Christian Brachwitz

Hinter dem Beton, hinter den Büschen liegt das Meer mit seinem Strand. Ein kalter Tag in Warnemünde vor 36 Jahren. Ich habe das Bild dieses Mannes nie vergessen. Wenn ich an die Ostsee denke, denke ich auch an ihn in seiner perfekten Einsamkeit, die viel weniger perfekt wäre, wenn er sich mit seiner Erscheinung nicht so viel Mühe gegeben hätte. Hut, Schlips und Kragen, Mantel, Bügelfalte und geputzte Schuh. Nur der Papierkorb leistet ihm Gesellschaft. Ein einfacher Mann mit ziemlich kurzen Beinen, der von seiner Hände Arbeit gelebt hat. Der Hut schenkt seinem Gesicht Schatten. Der leere Tag, von dem er sich Einiges versprochen hat, bringt ihn nicht aus der Fassung. Er ist so fest wie der Beton und wird einen oder zwei Weinbrand trinken in einer Kneipe, wo sie zu vorgerückter Stunde Seemannslieder singen und gar nicht mal schlecht. Er wird lächeln, aber er wird nicht mitsingen. Er gehört aus Gründen, die er sich nicht erklären kann und muss und will, nicht dazu. Ich habe mir Mr. Acker Bilks Stranger on the Shore immer anders vorgestellt, aber so könnte er auch aussehen.

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Der Schlaf des Gerechten (3)

Sie aber lag und schlief wie eine Braut, dichtete Benn. Das ist aber jetzt ein Mann, trotzdem muss ich an diese Zeile denken

Sie aber lag und schlief wie eine Braut, dichtete Benn. Das ist aber jetzt ein Mann, trotzdem muss ich an diese Zeile denken

Auf dem S-Bahnhof Hackescher Markt fotografiere ich einen Schlafenden. Junger, blonder Mann. Warum schläft der noch, wundert sich ein vorübergehender braver Bürger, um diese Zeit! Es ist zwölf. Der funktionierende Deutsche kann sich nicht vorstellen, dass ein junger kräftiger Mann an einem Werktag noch um zwölf schläft. Dass der Junge das in aller Öffentlichkeit auf einer Bank eines S-Bahnhofs in Berlin Mitte tut, findet er weniger verwunderlich. Ansonsten ist jeder mit seinen Geschäften beschäftigt. Es ist noch mitten im Sommer. Der Junge trägt ein bedrucktes T-Shirt und eine kurze schwarzweiß gestreifte Hose und Turnschuhe. Die Beine sind braungebrannt, die Oberschenkel hingegen weiß. Er könnte einer der vielen Fischköppe sein, die sich, obwohl sie am Wasser wohnen, nie ganz ausziehen, sich nie in die Sonne legen; sie benutzen die Ostsee nicht, höchstens zum Fischen. Er ist keiner, der auf der Straße lebt. Kein Obdachloser. Er ist nach Berlin gekommen, um ein Mädchen zu besuchen, aber die Tür war zu. Dann ist er in die nächste Kneipe gegangen, dann war die Tür immer noch zu, dann ist er wieder in die Kneipe gegangen und dann hat er ordentlich einen auf die Lampe gegossen. Und jetzt ist es zwölf, und er schläft den Schlaf des Gerechten. Wer schläft, sündigt nicht, und bevor er schlief, ist er nicht dazu gekommen zu sündigen. Da hat er von Berlin was anderes erwartet. Besonders rührend finde ich, wie sanft die rechte Hand die Rückenlehne der Bank umfasst, damit er nicht runterfällt.

Warnemünde kann sehr kalt sein

Mehr-Generationen-Mole in Warnemünde © Christian Brachwitz

Mehr-Generationen-Mole in Warnemünde
© Christian Brachwitz

Warnemünde ist da, wo die Warnow in die Ostsee mündet. Die Nebel wiederum, die durch meine Heimatstadt Güstrow fließt, mündet nach meinem Verständnis irgendwann in die Warnow, genau gesagt bei Bützow. Das ist ein unauslöschbares Bild. Man steht auf der Brücke über der Nebel, die Zweige der Weiden streben abwärts ins Wasser (Die Trauerweiden vor dem Wasser wissen mit ihren langen Wimpern nicht wohin). Es war nicht weit von Güstrow nach Rostock-Warnemünde. 45 km vielleicht. Abends sah man Leute, die morgens normal in den Zug gestiegen waren, krebsrot oder tiefbraun wieder aussteigen. Die hatten sich in Warnemünde in die Sonne geknallt.

Warnemünde kann sehr kalt sein. Das merken vor allem die Kinder. Das Meer ist immer angriffslustig. Es gibt den Teepott (avantgardistische DDR-Architektur mit der Dachkonstruktion aus einer hyperbolischen Parabolidschale), die Strandpromenade und das Neptun-Hotel. Der damalige Bundesligist Hansa Rostock konnte einen Trainer seiner Wahl durchaus mit einem Haus in Warnemünde locken. Aber das reichte nicht. Armin Vehs Familie zum Beispiel war in Augsburg geblieben, und der durchaus erfolgreiche Cheftrainer ging einsam mit Hund am Strand spazieren, bis er es nicht mehr aushielt im Nordosten und das Handtuch warf, sehr zum Nachteil des Teams und des Vereins. Auf unserem Bild nun sehen wir, dass für jeden Menschen die Ferne, die ersehnte vielleicht, woanders liegt. Die Blicke zerstreuen sich. Wir können uns nicht auf ein Ziel einigen. Ist ja gut so.

Frühstück um sieben

Auch wenn man’s nicht so sieht: Der Familie hat der Urlaub gut getan © Christian Brachwitz

Auch wenn man’s nicht so sieht: Der Familie hat der Urlaub gut getan
© Christian Brachwitz

Missmutige Fressen an der Ostsee. Statt froh zu sein, dass sie einen Urlaubsplatz bekommen haben mit der ganzen Familie. Auch wenn die Bedingungen in den Ferienheimen sonderbar sein konnten. Frühstück sieben Uhr. Das steckt dir den ganzen Tag in den Knochen. Abendbrot 16.30 Uhr. Das blöde Gequatsche im Fernsehraum. Kein Westfernsehen. Da lernte der DDR-Bürger mal die DDR kennen.

Der Alte ins ND vertieft. „Nejes Dejtschland” sagten die Russen, das hat uns immer amüsiert. Die konnten kein „ei” und kein „eu” sprechen. Ab und zu wird der Alte eine DDR-typische Bemerkung fallen lassen. Die Lehren, die das Zentralorgan verbreitete, waren marxistisch-leninistisch unterfüttert. („Der Marxismus ist allmächtig, weil er wahr ist.” Oder umgekehrt? „Der Marxismus ist wahr, weil er allmächtig ist.” Auch so könnte ein Schuh draus werden.)

Die vom Strand kommen haben noch miesere Laune. Vielleicht ist es auch nur die Sonne, die die Leute triezt und sie veranlasst, stur in entgegengesetzte Richtungen zu schauen. Wahscheinlich haben sie auch einfach zu viel angezogen. Kann ja noch Vorsaison sein. Ein Rätsel gibt die Lampe auf. Was will denn die beleuchten! Hier werden doch keine Verhöre stattfinden. Auf der Freilichtbühne spielen Michael Hansen und die Nancies. Oder Sandra Mo und Jan Gregor. Der Urlaub an der Ostsee war meistens kein voller Erfolg. Schön braun seht ihr aus. An der Ostsee bräunt auch die Luft.

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Mierek

Hoffnungsvoller Nachwuchs an der Ostsee in Polen © Christian Brachwitz

Hoffnungsvoller Nachwuchs an der Ostsee in Polen
© Christian Brachwitz

Als wir (damals) in Leba an der polnischen Ostsee waren, lockte mich öfter das dezente Gebrüll vom Fußballplatz an. Dezent, ja, es spielten eben Schülermannschaften, es ging nicht um Geld und Gut, nicht um Leben und Tod. Die Jungs spielten ziemlich gut, mit klar erkennbarem taktischem Verständnis, und noch besser waren sie darin, das Gehabe der großen Stars nachzuahmen. Stolz trugen sie ihre Bandagen als Zeichen vergangener Schlachten. Der beste Fußballer war Mierek, ein im Wachstum etwas zurückgebliebener Junge, der reihenweise um einen Kopf größere Kicker austrickste und dabei frech grinste, was er übrigens auch tat, wenn ihm etwas misslang. Künstlerpech. Er spielte mal Rechts-, mal Linksaußen, immer auf der Seite, wo die meisten Mädchen saßen. Die machten wohl den größten Teil seiner Motivation aus. Während des Spiels vollführte er frivole Gesten in ihre Richtung. In der Halbzeit duften sie ihn kämmen.

Vielleicht hieß Mierek auch Robert und spielt heute bei Borussia Dortmund? Und will zum FC Bayern München wechseln, weil dort mehr Mädchen an der Seite sitzen mit goldenen Kämmen? Oh nein.

Erinnerung an einen polnischen Sommer

Leba gefiel mir sofort. Die Stadt an der polnischen Ostsee. Es ist dreißig Jahre her. Noch in der kommunistischen Zeit (was man natürlich in Anführungsstriche setzen müsste). Überall Läden und Kioske, mondäne Pavillons. Über eine große Fläche verteilten sich Zelt- Camping-, Fußball- und Rummelplätze, Kinderferienlager, ein Naturpark, übervölkerte und leere Strände. Der Sand sehr fein und sehr weiß. In meinem Kopf sang Halina Frackowiak „Du liebst noch das Mädchen”. Es gab Rybi (Fische), Frytki (Fritten), Placki (Puffer) und Lody (Eis). Auf den Straßen dicke Westwagen mit polnischen Kennzeichen, wie auch immer das ging.

Wir wohnten bei Frau J. Ihr Mann, der ehemals eine Firma als Schildermaler betrieb, trug seit unlängst eine Beinprothese, hatte die Firma aufgegeben und spielte seine Rolle als Randfigur. Damals, im Juni, hatte Frau J. im Seitenflügel des Hauses und verschiedenen Anbauten drei dreiköpfige Familien untergebracht, die ihr pro Tag 225 Mark einbrachten. Im Kernsommer wurde auch das Vorderhaus vermietet, in jenem Jahr wurde aus Dresden die Schauspielerin Böhme nebst Familie erwartet, die Familie J. musste sich dann wohl unsichtbar machen. Frau J. erklärte, dass sie „an Unsere” prinzipiell nicht mehr vermiete.  Sie habe nichts dagegen, dass getrunken wird, aber wenn sie um die Wette saufen und zählen, wer die größere Menge leerer Flaschen vorweisen kann, dann gehe ihr das zu weit.

Vormittags lagen wir am Strand, Mittag aßen wir im Gemeinschaftsraum bei Frau J., nachmittags schliefen wir, das Seeklima machte müde. Abends durchstreiften wir die Promenade und die Bars, nachts vernahmen wir aus der Ferne die Sehnsuchtsschreie der Discostars. Boney M., Baccara, Pussycat, Bonnie Tyler. Georgie and the Rivers of Babylon waren dann für immer mit der polnischen Ostsee verbunden. In Lebork, der nächstgrößeren Stadt im Binnenland, erzählte uns ein alter Mann, dass er schon eine Woche lang kein Brot mehr bekommen habe. Breshnews Soldaten hätten alles aufgefressen.  Die Gedanken strömten groß, belanglos und vage dahin. Den Sand, sagte Frau J., werden Sie noch ein halbes Jahr mit sich herumtragen. Sie hatte recht; wie in allen anderen Fragen auch.

Die Ostsee in Polen …

Vater, Mutter, Wolken, Kind © Christian Brachwitz

Vater, Mutter, Wolken, Kind
© Christian Brachwitz

… oder der Himmel über uns allen? Beides bemerkenswert. Wir wollen festhalten, wie die Sonne ins Meer eintaucht. Was heißt wir. Die Frau, die für die Romantik in der Familie zuständig ist. Das Kind ist desinteressiert. Der Mann vergisst, den Bauch einzuziehen. Die Pepsi-Cola ist immer dabei. Befürchtungen, dass die dünnen Rohre den Ausguck und die Familie nicht werden halten können, sind unbegründet. Die Wolken haben so eine flüchtige Struktur. Sie wollen nach Westen. So ist es schon immer gewesen. Und es war schon immer ansteckend. Die Wolken sind frei, die Gedanken auch, die Grenzen offen, mehr oder minder.

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