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Medeas Schultern

Chaos im Kino „Babylon” Berlin-Mitte. Es sind viel mehr Leute herbeigeströmt, als selbst der Regisseur erwartet hat. Asteris Kutulas zeigt seinen Film „Recycling Medea”. Eine lange Schlange holt Online-Tickets ab. In einer anderen Schlange steht ein hagerer Mann, der nur ein Bier kaufen und trinken möchte, bis er erfährt, dass an diesem Tresen zwar auch Bier, aber hauptsächlich Tickets verkauft werden. Deshalb dauert das ewig. Ich glaube, ich verzichte, sagt der Mann und dreht ab in den Zuschauersaal, der bereits überfüllt ist. Medea ohne Bier. Wir öffnen den Balkon, sagt der Veranstalter. Aber den Zugang zum Balkon kennen nur Profis, der ist nur von außen zu betreten. Es ist schon eine halbe Stunde über der Zeit. Das Publikum wird ungeduldig und klatscht. Kann aber nicht viel ausrichten gegen die 1929 von Philips erbaute Multiplex Kino-Orgel, an der eine Orgelspielerin so lange die Hände zu rühren entschlossen ist, bis die Besucher zur Ruhe gekommen sind. Selbstverständlich sind viele Griechen gekommen, denn Recycling Medea nimmt den antiken Mythos der Kindermörderin auf und trägt ihn in die heutige Zeit. In der Antike haben Eltern ihre Kinder umgebracht, und im heutigen Griechenland haben Eltern die Zukunft ihrer Kinder zerstört. Das, scheint mir, kann man so natürlich nicht sagen, aber Kutulas, schon in der DDR ein berühmter Grieche, der viel gemacht und auf die Reihe bekommen hat, versucht, den Zusammenhang herzustellen.

Verzweiflung muss Medea tragen

Verzweiflung muss Medea tragen. (www.recycling-medea.com)

Noch spielt die Orgel, noch sind die Besucher nicht zur Ruhe gekommen, und neben uns ist ein hochgewachsener Mann mit weißem Haarkranz aus dem Häuschen, weil er hier, auf dem Balkon, zwei Sitzplätze ergattert hat, aber seine Freunde unten im Parkett das nicht mitkriegen. Er rudert mit den Armen, kreist mit dem Kopf, hopst auf den Füßen. Dann haben sie ihn gesehen. Jetzt muss er ihnen verständlich machen, dass er nicht fünf Plätze, die sie brauchten, sondern nur zwei erobert hat. Ein Meister der Zeichensprache und der Euphorie. Kutulas betritt die Bühne. Ein freundlicher Mann. Erklärt, wie der Film ohne öffentliche Mittel, aber mit Hilfe vieler Freunde zustande kam. Einer dieser Freunde wiederum erklärt, dass erstmals die Kinder, also die Opfer, ins Zentrum des Medea-Mythos gestellt werden. Der Film zeigt das Medea-Ballett mit der Musik von Mikis Theodorakis (ein alter Freund von Kutulas) und der Choreographie von Renato Zanella. Kampfszenen aus dem heutigen Griechenland zwischen Demonstranten und Polizei sind dazwischen montiert. Der Anne-Frank-Mythos wird eingearbeitet. Das Staatliche Akademische Orchester und der Chor St. Petersburg spielen und singen. Theodorakis dirigiert. Es ist eine gewaltige, eine hinreißende Musik. Kutulas zeigt, wie sich die Tänzer schminken, zeigt den Choreographen, wie er mit den Tänzern arbeitet und wie er seine Intentionen erläutert. Die Musik trägt den Film, wirbelt ihn in virtuelle Höhen und Tiefen. Und, ich scheue mich nicht zu sagen, auch die Schultern der Primaballerina Maria Kousouni tragen den Film. Es sind Schultern von unglaublicher Kraft, Militanz und Verletzbarkeit, Schultern von großem Glanz. Sie symbolisieren die Abgründe des Medea-Mythos und die Wucht, die leidenschaftliche Frauen in die Waagschale zu werfen haben. Das muss man gesehen haben.

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