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Posts Tagged ‘Helmut Schmidt’

Deutschland gerade jetzt

Wie geht’s weiter? Im Zweifelsfall stehenbleiben und quasseln.
© FJK

Wenn ich Jauchs Millionär sehe, erhalte ich eine Ahnung davon, wie es um Deutschland steht. Was sind wir Deutsche für Deutsche. Zuletzt hatten wir die Hotdog-Verkäuferin von IKEA, den Fleischer von Edeka und die Gynäkologin, die gern mal mit Herrn Spahn essen gehen würde, um ihm die Meinung zu sagen, auf dem Stuhl. Es scheint nämlich so, dass im Ministerium Gesetze gemacht werden, die an der Realität in den Krankenhäusern und Arztpraxen vorbeigehen. Das waren Leute, die alle okay sind. Sie wissen auf unterschiedlichen Gebieten ziemlich gut bescheid, sie verlassen sich ab und zu mal auf ihr Bauchgefühl, oft sogar zu Recht. Sie haben mal Glück, und sie haben auch mal Pech. So versöhnt man sich mit seinem Land, für das man nichts (oder nur wenig) kann. Ich hoffe, dass es diese Leute sind, die das Land, in dem wir leben, ausmachen, und nicht die Vertreter der politische Klasse, die jetzt in Thüringen zeigen, wie sich dieses Land teilweise selbst blockiert. Mit künstlichen Barrieren, die nur demonstrieren sollen, dass man Grundsätze hat, macht man eine Alibipolitik, die das Gegenteil von einer Realpolitik ist. Findet es in Ordnung, dass ein gerade so reingerutschter 5 %- Mann zum Ministerpräsidenten gewählt wird und nicht der 31 %-Mann. Und nun kommt noch der weichgespülte Norbert Röttgen, der gern den Scharfmacher spielt, wenn’s nichts kostet, und will CDU-Vorsitzender und Kanzler werden. Eine Idee, die er exklusiv hat, aber er kann sich mal wieder vor einer nennenswerten Menge von Hauptstadtjournalisten (fast hätte ich das Wort in Anführungsstriche gesetzt) spreizen wie ein Gockel: große Gesten und leere Wortgirlanden. Spiegel online kommt bei der Gelegenheit auf die Idee, dass Röttgen sehr Helmut Schmidt ähnele. Lächerlicher kann ein Vergleich nicht sein. He, Spiegel! Werdet euch mal bewusst, dass ihr nicht „Titanic” seid!

Der große Tote

Helmut Schmidt. Er hatte eine seltsame, altfränkische Frisur, die ihm aber stand. Es gab für ihn keine andere. Am Tag nach seinem Tod würdigen sie ihn von allen Seiten. Mit einer gewissen Würdelosigkeit. Sie vergaßen etwa nicht, darauf hinzuweisen, dass sie den Qualm seiner Mentholzigaretten ertragen hatten, „deren Vorrat unerschöpflich schien”. Was für ein Quatsch. Wenn eine Packung leer ist, muss man eine neue kaufen. Unerschöpflich! Der Weltökonom. Der Jahrhundert-Lotse. Politiker, Publizist, Philosoph (Pianist fehlt noch). Der Mann, der die RAF besiegte. Ästhet der Macht. Wirtschaftskanzler, Gipfelstürmer, Währungsreformer. Der Hanseat. Üb immer Treu und Redlichkeit. Weltmeister der Raucher. Schmidt Schnauze. Oberleutnant der Wehrmacht. Haben Sie gedient? Altkanzler und Altraucher. Großer Staatsmann und noch größerer Staatsschauspieler. Jahrhundertfigur. Instanz, Idol, Integrationsfigur. Die energische Exzellenz. Der Marc Aurel der deutschen Sozialdemokratie. Bestseller-Autor. Berater der Nation. Legende zu Lebzeiten. Ewiger Lehrmeister. Vom Macher über den Denker zum Mahner. Deuter des Weltgeschehens. Der unbeirrbare Raucher.

Er war so stur wie Peter Scholl-Latour (war das jetzt schon ein Gedicht?). Dass er zeigte, auch Raucher können lange leben, wurde zum Ärgernis. Dass er die Deutungshoheit des politischen Weltgeschehens zu haben schien ebenfalls. Er konnte ja aber nichts dafür, dass er ständig gefragt wurde und zu allem eine fundierte Meinung hatte. Er war wohl der erste deutsche Kanzler, der deutsches Selbstbewusstsein gegenüber den dominanten Amerikanern zeigte. Die konnten sich nur wundern. Heute wundern sie sich nicht mehr.