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Tschechow vergessen und wiederlesen

Fünf von acht Bänden, herausgegeben in den sechziger Jahren von Gerhard Dick und Wolf Düwel bei Rütten & Loening Berlin, für 9,60 M pro Band 

Und wieder geschieht es, dass ich eine Erzählung („Der Namenstag”) von Tschechow lese und plötzlich Anstreichungen von mir entdecke. Keine Ahnung, dass ich sie kenne. Ich war der festen Überzeugung, etwas für mich Neues zu lesen. Ich erinnere mich auch an nichts. Aber da ist dieser dezente Bleistiftstrich. „Olga Michailowna sprach ohne Unterbrechung. Sie wusste, dass es im Umgang mit Gästen viel leichter und bequemer war, zu reden als zuzuhören.”

Tschechow ist, bei allem, was für ihn spricht und so gerne wir ihn auch lesen, irgendwie nicht nachhaltig, sage ich zu Verheugen in einem unserer sinnlosen, unverzichtbaren Gespräche. Er hat keine Lust, mir recht zu geben. Findet sowieso, dass ich zu oft recht habe, das kommt mir gar nicht zu.

Dann sage mir doch bitte, welche seiner Gestalten du in Erinnerung behalten hast.

Hm. Die Dame mit dem Hündchen.

Und wie heißt die?

Weiß ich jetzt nicht mehr.

Die fehlende Nachhaltigkeit Tschechows mag zum Teil auch wirklich an diesen russischen Namen liegen – Vorname, Vatersname, Familienname, die durch unser Gedächtnis nur so hindurchrauschen. Es kommt doch immer so was wie Wladimir Pawlowitsch Wladimirow dabei raus. Das bleibt nicht hängen. Tolstois Pierre Besuchow, ja, den habe ich nie vergessen, auch Natascha Rostow (oder besser Rostowa) und Andrej Bolkonski nicht. Tschechow schrieb, von den Dramen abgesehen, Kurzgeschichten, Novellen, so genannte Meistererzählungen. Die Helden (und Anti-Helden) umfangreicher Romane haben mehr Fläche, um sich unvergesslich zu machen. Es ist, wie es ist. Die unvergesslichen Erzählungen von Anton Tschechow vergessen wir. Aber wir lesen sie mit Anteilnahme, mit Vergnügen, mit Gewinn. Mit Kopfschütteln über diese Gestalten, deren Namen …, ja, nein, wir behalten sie nicht. Schlagen wir nach. Andrej Jefimytsch Ragin, der Arzt aus „Krankenzimmer Nr. 6”. In diesem Krankenzimmer Nr. 6 sind die Geisteskranken untergebracht oder richtiger eingeschlossen. Unter ihnen ist der vom Verfolgungswahn geplagte Iwan Dmitritsch Gromow, ein Mann von adliger Herkunft. Ragin weiß nur zu gut um die katastrophalen Zustände seiner Einrichtung, ist aber zu schwach, zu kleinmütig, um auch nur daran zu denken, etwas zu ändern. Eines Tages entdeckt er, dass die einzige wirklich interessante, geistig anregende Persönlichkeit der ganzen Stadt eben dieser verrückte Iwan Dmitritsch ist, führt mit ihm lange Gespräche, bis er von einem subalternen Arzt selbst für geisteskrank erklärt wird und in diesem Krankenzimmer Nr. 6, wehrlos, wie er ist, elend untergeht.

Wir sehen Tschechows liebenswerte, gekränkte, nervöse Frauen, meist in aussichtsloser Lage, mit dem falschen Mann verheiratet, in den falschen Mann verliebt. Ihre Namen sind uns entfallen, sie heißen wie oben Olga Michailowna oder so. Da ist der alte Gelehrte Nikolai Stepanowitsch Soundso (so steht es tatsächlich im Text der deutschen Übersetzung), der eine glänzende Wissenschaftler-Karriere hingelegt hat und persönlich doch gescheitert ist, aber an seinem Sarkasmus erfreuen wir uns. „Ich bin kein Prophet, aber ich weiß schon, wovon sie sprechen wird”, denkt er, wenn seine Frau eintritt. „Ist diese alte, sehr beleibte, plumpe Frau mit dem stumpfsinnigen Ausdruck kleinlicher Sorge und der Angst um das liebe Brot, … ist denn diese Frau wirklich die schlanke Warja von einst, die ich wegen ihres guten, hellen Verstandes, wegen ihrer reinen Seele, ihrer Schönheit … liebte?”

Und der Gutsbesitzer Pjotr Michailytsch Iwaschin … „Er stand erst im achtundzwanzigsten Lebensjahr, aber er war schon dick, trug nach der Art alter Herren ganz weite, bequeme Kleidung und litt an Atemnot. Er hatte bereits die besten Anlagen zu einem alten Junggesellen. Er verliebte sich nicht, dachte nicht ans Heiraten und liebte nur seine Mutter, seine Schwester, die Kinderfrau und den Gärtner Wassiljitsch; er aß gern gut, schlief gern nach dem Mittagsmahl, sprach gern über Politik und geistreiche Themen …” Noch seltsamer ist sein befreundeter Nachbar, der unvermittelt zu seinem Feind zu werden droht: „Wenn man bei ihm übernachtet, legt er einem Pissarew oder Darwin auf den Nachttisch. Wenn man sagt, man habe diese Autoren schon gelesen, geht er und holt Dobroljubow.”

Sie sind Opfer der eigenen Indifferenz, eigentlich unvergessliche Gestalten, aber wir wissen schon, dass wir demnächst nichts mehr von ihnen wissen werden, nur dieses Gefühl, das bleibt: Gleichmütig sein Schicksal ertragen. Traurigkeit, Vergeblichkeit, Dauer und Ausdauer, Verwunderung, ein Lächeln, Schwermut. Es hätte ja auch besser gehen können, aber wäre das eine Geschichte?

Ich denke, wenn die Leute (Politiker, Journalisten, Schwätzer) zum Beispiel Tschechow läsen und etwas davon im Kopf behielten, dann würden sie nicht so viel Schwachsinn über die Russen reden.