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Kafka und ich

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1965. Das Jahr, in dem Kafka in die DDR kam

Der große Kafka-Tag. Hundert Jahre Totsein bei lebendigen Texten. Muss ich meinen Senf auch noch dazu geben? 1961 heiratete meine Schwester nach Westberlin. Zwei, drei Jahre später schrieb sie mir. Ich habe Dir das Gesamtwerk von Kafka geschickt. Das ist für Dich vielleicht noch zu früh. Aber Kafka wird in der DDR nie erscheinen, und Du hast es dann schon mal … Das Paket kam, wie es sich gehörte, niemals an.

Was heißt nie! 1965 wurde ein Band mit Kafkas Erzählungen und Romanen angekündigt. Ich war schon Student in Leipzig und bestellte das Buch bei „Welt im Buch“ in Güstrow, meiner Heimatstadt. Die Buchhandlung schickte alsbald eine Karte an Herrn Kafka, er könne das Buch Kopka: Erzählungen abholen. Das war schon ein bisschen kafkaesk. Ich war jetzt auch schon im richtigen Alter für Kafka. Ich las „Das Urteil“, „Die Verwandlung“, „Der Heizer“, die Romane und alles andere, was drin war in dem Band, auch das Nachwort von Klaus Hermsdorf. Kein Westler wollte je glauben, dass Kafka in der DDR erschienen war.

In Leipzig rannte einer rum, der Kafka genannt wurde, ein junger Mann noch, der an einem eleganten Spazierstock ging, er wurde Kafka genannt, weil er bei einer öffentlichen Diskussion heftig für Kafka gestritten, aber nie eine Zeile von ihm gelesen hatte.

Bei einem Besuch in Budapest war es üblich, die Buchhandlung in der Vaci Utca aufzusuchen. Da gab’s Westbücher. Man konnte nur begrenzt Forint tauschen, aber ich kaufte Kafkas Tagebücher und die Briefe an Felice. Man ging an die Kasse, bezahlte und holte sich dann am Ladentisch seine eingepackten Bücher. Mein Paket erschien mir merkwürdig dick. Ich machte es auf. Da waren zwei Romane von Heinz Konsalik drin. Super. Ich bekam dann die richtigen Bücher und freute mich, wie verdutzt der Konsalik-Fan sein mochte, wenn er dann im Zug in seinem Paket die beiden Kafkas entdeckte. Kafka und Felice, die Berlinerin. Eine Beziehung, der wenig Glück beschieden war, weil Kafka sich vielleicht ein wenig kafkaesk verhielt.

In der Wendezeit nahm ich am Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt teil. Meine Geschichte begann so: „Bei der Fahne tauchte Kafka noch mal auf. Er diente die kompletten anderthalb Jahre und wurde ehrenhaft ins offene Leben entlassen als Gefreiter, mit einem Bestenabzeichen in der Tasche wie jeder. Ich diene, schrie Kafka, der Deutschen Demokratischen Republik.“  Das war echt zuviel Blasphemie. Es war das letzte Jahr der DDR, und die Juroren hatten jegliche Nachsicht mit DDR-Autoren aufgegeben. Ich war wohl auch zu frivol gewesen, aber ein paar gute Sätze waren in der Geschichte auf jeden Fall drin. Sie erschien danach noch in der „NDL“ und in der französischen „Literall“. Mein Verhältnis zu Kafka war auch nach diesem Ereignis ungetrübt. Und wird es immer sein.