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Posts Tagged ‘Arbeiterbewegung’

Berlin Alexanderplatz (35): Leere, Verweigerung, Welcome

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Vielleicht sahen die Rückseiten der Schlösser schon immer so aus

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Lasst viele Wippen um mich sein

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In Nachdenken versunken © FJK

Ich hatte eine neue Brille abzuholen. Sowas macht man nicht ungern. Wenn man nicht ständig was Neues kauft, kann man sich doch aufrichtig über ein neues Teil freuen; da ist man immer noch wie ein Kind. In der Bahn stellen ein paar Schüler-Touristen fest, dass sie von U-Bahnstation Unter den Linden noch 100 Meter laufen müssen. Ob sie das wohl schaffen werden? Es ist ein Tag vor der Europameisterschaft. Welcome Europe!, heißt es unter den Kränen, das und eine Fanmeile, mehr fällt uns nicht ein. Über den Platz schweben die E-Roller-Fahrer, denen niemand die Überzeugung nehmen kann, dass ihnen die Welt gehört, ihnen allein. Meine Brille hole ich im Architektur-Wunder Alexa. Da ist man ja sonst selten drin. Ich sehe mal in die Thalia-Buchhandlung rein, über zwei Stockwerke, besonders groß die Geschenke-Abteilung; es gibt eine kaum zu übersehende Menge von meist knallbunten Tage- und Gedenkbüchern, etwa über die Geschichte einer Beziehung, kleine Eingangs-Statements sollen den Eigentümern die Zunge oder den Füller lösen, Väter sollen ihren Kindern was von sich erzählen; es muss jede Menge Spin-Doctors geben, die sich etwas ausdenken, das es noch nicht gab. Es gibt viele schicke Läden im Alexa, Parfümerien, Spirituosen, Öle, Küchenutensilien, neue Socken; in den meisten sind die Verkäuferinnen unter sich und versuchen, sich die Zeit und die Angst zu vertreiben. Lange kann es nicht gut gehen ohne Kunden. Ich kaufe eine kleine Pfeffermühle für 9,99, für die ich auch eine Verwendung habe, aber niemand folgt meinem Beispiel. Bei Fielmann immerhin ist was los. Leute, die auf Brillen starren, gibt es jede Menge, die meisten können gar nicht aufhören, in die schmeichelhaften Fielmann-Spiegel zu schauen, sehe ich mit dieser Brille nicht noch hinreißender aus als mit der zuvor, aber es gibt sicher noch eine geilere. Die Fielmann-Kundenbetreuer sind zuvorkommend, höflich, nervenstark. Und echt: Ich kann mit meiner neuen Brille schärfer sehen (wenn auch nicht aussehen) als mit der alten. Ich gehe vom Alex rüber zur Friedrichstraße. Auf dem Platz hinter dem Fernsehturm rastet ein junger Mann aus. Er hat eine Bierflasche in der Hand, stößt martialische Schreie aus und demoliert einen orangenen Abfallbehälter. Bloß nicht hinsehen. Wenn die Leute auch wenig kaufen mögen, vor allen Kneipen sitzen sie, essen und trinken, und sei es eine vegane Currywurst oder eine Bowl. Die Kaufhäuser mögen untergehen, die Kneipen haben Zukunft. Die Touristen besichtigen im Rücken des Stadtschlosses oder Humboldt-Forums eine der letzten Heldentaten der DDR. Das Marx-Engels-Denkmal. Sakko und Jacketti. Kläglich muten heute die Edelstahlstelen an mit Fotos aus der Geschichte der Arbeiterbewegung, für die die Schöpfer bis nach New York flogen, was sie nicht davon abhielt, sich nach der Wende über ihre Schöpfung lustig zu machen. Der Platz vor dem Schloss wartet ungeduldig auf die Einheits-Wippe; die Einzelteile stehen irgendwo rum in Süddeutschland und irgendwas passt nicht zu irgendwas anderem und keiner kann was für nichts. Stattdessen sehen wir dort nun etliche Sitz- oder Liegeelemente. Lasst zwei, drei, vier, viele Einheitswippen um uns sein, und wenn sie nicht wippen umso besser. Fuß- und Fahrradtouristen werden von den Stadterklärern ins Bild gesetzt. Man möchte nicht zuhören. Vor der Humboldt-Uni wie immer die Bouquinisten, ihre Bücher und Platten werden von Leuten betrachtet, die schon viel zu viele Bücher und Platten zu Hause haben. Wir wissen echt nicht mehr, was wir kaufen sollen. Wir haben schon zu viel von allem. Aber vielleicht, wenn die Fußballfans eindringen, vielleicht blüht dann die Kauflust auf.