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Archive for Juni 2024

Sommer-Dilemma

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No flag, nowhere ©FJK

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An der Algarve, vor Portugal gegen Tschechien. Später fegte ein scharfer Wind durch die Fußgängerzone. Ich war nicht da, aber ich habe meine Leute. © JuTh

Vier Distanzschüsse, ein Elfmeter und ein Eigentor – das war das Eröffnungsspiel der Euro 2024, Deutschland – Schottland 5:1. Normalerweise werden 90 von 100 dieser Distanzschüsse geblockt, irgendein Bein oder Körperteil ist immer zwischen Schütze und Tor, aber die Schotten geizten irgendwie mit Anwesenheit in ihrem Strafraum. Und die Deutschen spielten so gut, dass die Medien ihnen huldigen, als wäre sie schon Europameister. Wer soll sie, wer soll uns jetzt noch stoppen. Ich habe überhaupt keine Gefühle, schon gar keine patriotischen. Der Spiegel faselt von einem begeisternden Spiel, zauberhaft soll es gewesen sein. Wer immer glaubt, schlauer zu sein als alle anderen,hat sowieso keine Ahnung vom Fußball.
Wir haben es längst gemerkt: Diese Europameisterschaft soll die miese Stimmung im Land kippen und einen wirtschaftlichen Aufschwung bringen; das Sommermärchen von 2006 soll neu aufgelegt werden. Aber schon das Wetter ist nicht danach. Mal ist es kühl, mal gießt es in Strömen. Wir sehen keine schwarzrotgoldenen Fahnen und Wimpel. Selbst der Deutsche von schräg gegenüber, der früher sein ganzes Grundstück beflaggt hatte, hat nur drei bescheidene Fähnchen im Vorgarten gehisst. 

Bei anderen Nachbarn flimmert der Fußball neuerdings durch die Fensterscheiben. Ich dachte, ihr interessiert euch nicht für Fußball? Nur weil Europameisterschaft ist. Europa- und Weltmeisterschaften, da sind wir natürlich dabei. Ja. Interessant. Interessant, wie wenige Leute mitbekommen, dass der Fußball der Nationalmannschaften eigentlich out ist, wie Nationalismus auch out ist. Der wahre, ungeschminkte, raue Fußball ist der Fußball der Klubs.

Natürlich quatschen sie auch im Deutschland Radio aus gegebenem Anlass vom Fußball. Gunter Gebauer, der Sport-Professor ist am Start, eine Moderatorin, eine Sportjournalistin und einige Anrufer, auch Anruferinnen. Da wird viel Lobendes über das Völkerverbindende des Fußballs gesagt, aber auch gefragt, warum sich die schwulen Fußballer noch nicht geoutet haben, wie es der kühne Thomas Hitzlsberger einst getan hat (nach seiner Karriere). Ansonsten wird viel gelacht, vornehmlich ist der Fußball doch ’ne ganz drollige Sache. Ja, genau, das hat immer noch diesen Touch von: 22 Männer rennen hinter einem Ball her, kann man nicht jedem einen geben. Ich kann mir das leider nicht anhören. 

Ich stelle fest, dass ich anders als früher oft auf der Seite der Außenseiter stehe. Den Albanern, den Serben und besonders den Österreichern hätte ich wenigstens den Ausgleich gewünscht. Die Österreicher hatten das bessere System und die besseren Kombinationen, die Franzosen hatten die schnelleren Schienenspieler, die besseren Dribbler und brauchten ein Eigentor der Ösis, um zu gewinnen. Dass die Franzosen immer noch diesen Griezmann mitspielen lassen – unverständlich. Und dann auch noch Giroud einwechseln!!!

Harry Kane wünsche ich eine Rote Karte oder dass er kein einziges Tor schießt in diesem Turnier, was ihn noch mehr schmerzen würde. Was hab ich eigentlich gegen den?! Ich weiß es selbst nicht. 

In der Schweiz wird eine große Friedenskonferenz für die Ukraine abgehalten. Hundert Staaten mühen sich. Und wir, hier in Deutschland, lassen es einfach so geschehen, dass die Ukraine mit 0:3 gegen den Außenseiter Rumänien untergeht. Andererseits hat man gesehen, dass die Rumänen auch einer gequälten Nation angehören. Es war die reine Freude, der reine Jubel, was wir da sahen. Erleichterung, Erlösung. Wir sind nicht der letzte Dreck von Europa. Und sie hatten auch wirklich sehr gewitzt und geschickt gespielt. 

Cristiano Ronaldo in seinem 39. Jahr. Macht keine langen Läufe, keine langen Dribblings mehr, sucht immer gleich den Abschluss. Trotzdem benötigen die Portugiesen zwei Missgeschicke der Tschechen, um zu gewinnen. Was wäre der Fußball ohne das Irrationale!

Berlin Alexanderplatz (35): Leere, Verweigerung, Welcome

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Vielleicht sahen die Rückseiten der Schlösser schon immer so aus

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Lasst viele Wippen um mich sein

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In Nachdenken versunken © FJK

Ich hatte eine neue Brille abzuholen. Sowas macht man nicht ungern. Wenn man nicht ständig was Neues kauft, kann man sich doch aufrichtig über ein neues Teil freuen; da ist man immer noch wie ein Kind. In der Bahn stellen ein paar Schüler-Touristen fest, dass sie von U-Bahnstation Unter den Linden noch 100 Meter laufen müssen. Ob sie das wohl schaffen werden? Es ist ein Tag vor der Europameisterschaft. Welcome Europe!, heißt es unter den Kränen, das und eine Fanmeile, mehr fällt uns nicht ein. Über den Platz schweben die E-Roller-Fahrer, denen niemand die Überzeugung nehmen kann, dass ihnen die Welt gehört, ihnen allein. Meine Brille hole ich im Architektur-Wunder Alexa. Da ist man ja sonst selten drin. Ich sehe mal in die Thalia-Buchhandlung rein, über zwei Stockwerke, besonders groß die Geschenke-Abteilung; es gibt eine kaum zu übersehende Menge von meist knallbunten Tage- und Gedenkbüchern, etwa über die Geschichte einer Beziehung, kleine Eingangs-Statements sollen den Eigentümern die Zunge oder den Füller lösen, Väter sollen ihren Kindern was von sich erzählen; es muss jede Menge Spin-Doctors geben, die sich etwas ausdenken, das es noch nicht gab. Es gibt viele schicke Läden im Alexa, Parfümerien, Spirituosen, Öle, Küchenutensilien, neue Socken; in den meisten sind die Verkäuferinnen unter sich und versuchen, sich die Zeit und die Angst zu vertreiben. Lange kann es nicht gut gehen ohne Kunden. Ich kaufe eine kleine Pfeffermühle für 9,99, für die ich auch eine Verwendung habe, aber niemand folgt meinem Beispiel. Bei Fielmann immerhin ist was los. Leute, die auf Brillen starren, gibt es jede Menge, die meisten können gar nicht aufhören, in die schmeichelhaften Fielmann-Spiegel zu schauen, sehe ich mit dieser Brille nicht noch hinreißender aus als mit der zuvor, aber es gibt sicher noch eine geilere. Die Fielmann-Kundenbetreuer sind zuvorkommend, höflich, nervenstark. Und echt: Ich kann mit meiner neuen Brille schärfer sehen (wenn auch nicht aussehen) als mit der alten. Ich gehe vom Alex rüber zur Friedrichstraße. Auf dem Platz hinter dem Fernsehturm rastet ein junger Mann aus. Er hat eine Bierflasche in der Hand, stößt martialische Schreie aus und demoliert einen orangenen Abfallbehälter. Bloß nicht hinsehen. Wenn die Leute auch wenig kaufen mögen, vor allen Kneipen sitzen sie, essen und trinken, und sei es eine vegane Currywurst oder eine Bowl. Die Kaufhäuser mögen untergehen, die Kneipen haben Zukunft. Die Touristen besichtigen im Rücken des Stadtschlosses oder Humboldt-Forums eine der letzten Heldentaten der DDR. Das Marx-Engels-Denkmal. Sakko und Jacketti. Kläglich muten heute die Edelstahlstelen an mit Fotos aus der Geschichte der Arbeiterbewegung, für die die Schöpfer bis nach New York flogen, was sie nicht davon abhielt, sich nach der Wende über ihre Schöpfung lustig zu machen. Der Platz vor dem Schloss wartet ungeduldig auf die Einheits-Wippe; die Einzelteile stehen irgendwo rum in Süddeutschland und irgendwas passt nicht zu irgendwas anderem und keiner kann was für nichts. Stattdessen sehen wir dort nun etliche Sitz- oder Liegeelemente. Lasst zwei, drei, vier, viele Einheitswippen um uns sein, und wenn sie nicht wippen umso besser. Fuß- und Fahrradtouristen werden von den Stadterklärern ins Bild gesetzt. Man möchte nicht zuhören. Vor der Humboldt-Uni wie immer die Bouquinisten, ihre Bücher und Platten werden von Leuten betrachtet, die schon viel zu viele Bücher und Platten zu Hause haben. Wir wissen echt nicht mehr, was wir kaufen sollen. Wir haben schon zu viel von allem. Aber vielleicht, wenn die Fußballfans eindringen, vielleicht blüht dann die Kauflust auf.

Der Mann, der Manfred Wolke war

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Wochenpost November 1996. Man könnte sagen, dass Manfred Wolke kaum beeinflussbar war. Was nicht negativ gemeint ist.

Ich traf Manfred Wolke vor fast 28 Jahren im Bayrischen Hof in München. Dort hatte sich das Wolke-Team einquartiert vor dem Kampf Henry Maske gegen Virgil Hill, Weltmeister gegen Weltmeister. Henry Maske hatte vorab gesagt: Der Kampf gegen Virgil Hill ist mein letzter. Eine schwierige Situation für Wolke, den Trainer. Er musste das Box Gym in Frankfurt/Oder am Laufen halten, und Maske war sein bester Mann. Außerdem könnte Maskes Statement im Zweifel die Punktrichter beeinflussen. 

„Manfred Wolke hängt seine Jacke über den Stuhl. Mein Kaffe, sagt er berlinisch, kann ruhig kalt werden. Er lächelt selten. Die Blicke flitzen durch das Restaurant. Ein Boxer weiß, dass von überall her eine Faust geflogen kommen kann … Der Oberkörper pendelt. Wolke ist nie da, wo er vor einer Sekunde war … In der Regel hat er es mit Schülern zu tun, denen er seine Philosophie erklärt. Wahrscheinlich hat er nicht mehr die Illusion, dass sie ihn komplett verstehen …“

So stand es damals im meinem Vorbericht in der Wochenpost zum WM-Kampf. Maske unterlag. Wolke konnte sich bestätigt fühlen. Die Ankündigung von Maskes Rücktritt war kontraproduktiv. Und was sollte ohne das Zugpferd Henry Maske nun aus Wolkes Boxschule werden. Der Erfolgstrainer setzte auf Axel Schulz. „Meine Kunst ist es jetzt“, sagte Manfred Wolke, „dass er Feuer hat, den Willen, sich ganz vorne durchzusetzen, dass er alle beiseite schubst.“ Das Wort Kunst wählte Wolke nicht zufällig. Seine Philosophie vom Boxen ging in diese Richtung. „Die stärkere Persönlichkeit wird sich durchsetzen, da bin ich mir sicher.“ Über dem Trainer Wolke hat man oft den Boxer Wolke vergessen, der mit seinem Olympiasieg 1968 in Mexiko am nachhaltigsten für seine Vision vom intelligenten Boxen warb.

Mit Axel Schulz ging der Plan nicht auf. Schulz war wohl eher ein Spaßvogel als ein Puncher. An seine großen Erfolge konnte Wolke nicht mehr anknüpfen. Aber das sagt gar nichts aus über die Klasse dieses Mannes, der jetzt mit 81 Jahren gestorben ist. 

Kafka und ich

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1965. Das Jahr, in dem Kafka in die DDR kam

Der große Kafka-Tag. Hundert Jahre Totsein bei lebendigen Texten. Muss ich meinen Senf auch noch dazu geben? 1961 heiratete meine Schwester nach Westberlin. Zwei, drei Jahre später schrieb sie mir. Ich habe Dir das Gesamtwerk von Kafka geschickt. Das ist für Dich vielleicht noch zu früh. Aber Kafka wird in der DDR nie erscheinen, und Du hast es dann schon mal … Das Paket kam, wie es sich gehörte, niemals an.

Was heißt nie! 1965 wurde ein Band mit Kafkas Erzählungen und Romanen angekündigt. Ich war schon Student in Leipzig und bestellte das Buch bei „Welt im Buch“ in Güstrow, meiner Heimatstadt. Die Buchhandlung schickte alsbald eine Karte an Herrn Kafka, er könne das Buch Kopka: Erzählungen abholen. Das war schon ein bisschen kafkaesk. Ich war jetzt auch schon im richtigen Alter für Kafka. Ich las „Das Urteil“, „Die Verwandlung“, „Der Heizer“, die Romane und alles andere, was drin war in dem Band, auch das Nachwort von Klaus Hermsdorf. Kein Westler wollte je glauben, dass Kafka in der DDR erschienen war.

In Leipzig rannte einer rum, der Kafka genannt wurde, ein junger Mann noch, der an einem eleganten Spazierstock ging, er wurde Kafka genannt, weil er bei einer öffentlichen Diskussion heftig für Kafka gestritten, aber nie eine Zeile von ihm gelesen hatte.

Bei einem Besuch in Budapest war es üblich, die Buchhandlung in der Vaci Utca aufzusuchen. Da gab’s Westbücher. Man konnte nur begrenzt Forint tauschen, aber ich kaufte Kafkas Tagebücher und die Briefe an Felice. Man ging an die Kasse, bezahlte und holte sich dann am Ladentisch seine eingepackten Bücher. Mein Paket erschien mir merkwürdig dick. Ich machte es auf. Da waren zwei Romane von Heinz Konsalik drin. Super. Ich bekam dann die richtigen Bücher und freute mich, wie verdutzt der Konsalik-Fan sein mochte, wenn er dann im Zug in seinem Paket die beiden Kafkas entdeckte. Kafka und Felice, die Berlinerin. Eine Beziehung, der wenig Glück beschieden war, weil Kafka sich vielleicht ein wenig kafkaesk verhielt.

In der Wendezeit nahm ich am Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt teil. Meine Geschichte begann so: „Bei der Fahne tauchte Kafka noch mal auf. Er diente die kompletten anderthalb Jahre und wurde ehrenhaft ins offene Leben entlassen als Gefreiter, mit einem Bestenabzeichen in der Tasche wie jeder. Ich diene, schrie Kafka, der Deutschen Demokratischen Republik.“  Das war echt zuviel Blasphemie. Es war das letzte Jahr der DDR, und die Juroren hatten jegliche Nachsicht mit DDR-Autoren aufgegeben. Ich war wohl auch zu frivol gewesen, aber ein paar gute Sätze waren in der Geschichte auf jeden Fall drin. Sie erschien danach noch in der „NDL“ und in der französischen „Literall“. Mein Verhältnis zu Kafka war auch nach diesem Ereignis ungetrübt. Und wird es immer sein.