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Posts Tagged ‘Sandor Marai’

Wie normal bin ich denn!

Im Reich der Tagebücher und Biographien

Im Reich der Tagebücher und Biographien

Wäre ja auch zu einfach, wenn Vorfreude wirklich die schönste Freude wäre. Oft muss man leider sagen: Ich hab mich umsonst gefreut. So war es, als ich das Buch „Heute bedeckt und kühl. Große Tagebücher von Samuel Pepys bis Virginia Woolf” von Michael Maar, erschienen bei C. H. Beck, in die Hand nahm. Genau mein Thema, zumindest zeitweilig, und so war es fast zwangsläufig, dass ich mich unterfordert fühlte. Es funktioniert nur bedingt, wenn man Zitate aus „großen” (warum eigentlich: großen) Tagebüchern aufreiht und dazwischen elegant bis amüsant, oder auch kokett moderiert, immer um das Faszinosum herum, warum der Privatkram eines Schriftstellers die Öffentlichkeit derart interessiert oder auch, ob der Autor das Tagebuch wirklich für sich schreibt oder ob er immer schon die Um- und die Nachwelt im Blick hat. Und überschreitet er wirklich einen Rubikon, wenn er ausgerechnet in dieser Selbstaussprache lügt wie etwa Anais Nin?

In vielen Punkten hat Maar die richtigen Schlüsse gezogen: „Ein Tagebuch, nicht zuletzt darin liegt sein Reiz, gibt immer auch ein absichtsloses und um so getreueres Bild seiner Zeit.” Ja, andere, ferne Zeiten werden über das Tagebuch schreibende Individuum, ob es die Wahrheit schreibt oder nicht, zugänglicher und plastischer. Und auch wenn es nicht um vergangene Zeiten geht: Der Leser will wissen, wie Leben, wie Alltag bei anderen funktioniert; er will vergleichen. Wie normal oder unnormal bin ich denn.

Ein schönes schnödes  Zitat übrigens von Gottfried Keller: „Ein Mann ohne Tagebuch (er habe es nun in den Kopf oder auf Papier geschrieben) ist, was ein Weib ohne Spiegel. Dieses hört auf, Weib zu sein, wenn es nicht mehr zu gefallen strebt und seine Anmut vernachlässigt; es wird seiner Bestimmung gegenüber dem Mann untreu.” Die Frau von heute würde den guten Keller dafür unangespitzt in den Boden rammen. Treffend Maars Bemerkung über die Entlastungsfunktion des Tagebuchs. Der Diarist spricht offen aus, was er sonst nicht sagen kann, und das Ethos der Wahrheit führt zu literarischem Rang. „Das Unglück oder doch das Problematische scheint fast zum Diarismus zu gehören … ”

Was gehört noch zum Tagebuch. Bei Thomas Mann ist es zu lesen: Rechenschaft, Rekapitulation, Bewussthaltung und bindende Überwachung. Kurz und gut: Maar bietet einen Überblick über die Tagebuchliteratur. Macht aufmerksam auf Tagebücher Hebbels, von Platens, von Doderers, Cheevers, die man nicht im Blickfeld hatte. Tolstoi, Stendhal, Brecht kommen zu kurz. Kein Wort über Cesare Pavese, dessen Tagebücher zu den großartigsten, tiefsten und erschütterndsten zählen. Ebenso wenig ein Wort zum unbestechlichen, knochentrockenen Sándor Márai. Ja, müssen die Ungarn denn ewig unter den Tisch fallen! Nichts von Julien Green. Zu wenig zu den ganz unterschiedlichen Tagebuchkonzepten. Das tiefe Nachdenken ohne Realien auf der einen, die Orgien der Nebensächlichkeiten und des scheinbar ewig gleichen Alltags auf der anderen Seite. Und immer wieder der Eindruck, dass Maar nicht unbedingt die signifikanten Zitate ausgewählt hat. Aber das ist die Subjektivität, gegen die wir nichts einwenden wollen.