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Moskau, Moskau

Erfreut ist der Regisseur Marlen Chuzijew über den überfüllten Saal, was man seinem Gesicht nicht unbedingt ansieht © Fritz-Jochen Kopka

Erfreut ist der Regisseur Marlen Chuzijew über den überfüllten Saal, was man seinem Gesicht nicht unbedingt ansieht
© Fritz-Jochen Kopka

Weder kannte ich den Regisseur Marlen Chuzijew, noch wusste ich, dass sein Film „Ich bin zwanzig Jahre alt” (1965) einer der wichtigsten sowjetischen Tauwetter-Filme ist. Das ist auch kein Wunder. Der Film wurde kaum gezeigt, in der Sowjetunion erst mal verboten, gekürzt und verstümmelt und wohl auch vergessen. Jetzt bot das Kino Arsenal die seltene und kostbare Gelegenheit, diesen Film (und andere des Regisseurs) zu sehen, die zu ergreifen man dennoch zögerte, denn der Film dauert fast drei Stunden, wird in der russischen Originalfassung mit ziemlich lieblosen englischen Untertiteln gezeigt, aber an der Kinokasse stand trotzdem eine stattliche Schlange, der Regisseur, mittlerweile 89 Jahre, sollte anwesend sein und erhielt Beifall, als er den überfüllten Saal betrat; es war eine Atmosphäre wie auf einem Filmfestival.

Chuzijew, in Tiflis geborener Georgier, ist von Moskau fasziniert. Und wenn nicht fasziniert dann doch zutiefst an dieser Stadt interessiert. Er zeigt die leeren Straßen im Morgengrauen, drei Soldaten, von irgendwoher kommend, irgendwohin gehend, das Erwachen der Stadt, und endlich legt sich die Kamera fest auf Sergej, auch ein Soldat, aber ein anderer als die drei, die wir am Anfang sahen, das waren noch die Soldaten des großen Kriegs, vielleicht auch ihre Geister, aber Sergej ist ein Soldat höchstens des kalten Kriegs, eher des Friedens, er kann die Uniform ablegen, hat ausgedient, kehrt zurück in die Moskauer Wohnung, umarmt Mutter und Schwester, tritt ans Fenster und ruft seine Freunde, Nikolai und Slawa, die gegenüber wohnen. Slawa hat eine Familie gegründet, hat Frau und Kind. Nikolai wälzt Probleme und flirtet mit der Straßenbahnschaffnerin.

Sergej ist ein romantischer Typ, und er sieht auch romantisch aus. Wenn er am Morgen in einer fremden Wohnung neben einem Mädchen aufwacht, zündet er sich eine Zigarette an, sucht das Weite und denkt über das Leben nach. Nein, das war zu leicht, das kann’s nicht sein. Die Moskauer Luft ist gesättigt von Liedern, pathetischen, schwermütigen, beschwingten, und von Versen, die zum Philosophischen neigen. Die Benommenheit des Nachkriegs ist nicht vergangen, der Krieg steckt allen noch in den Knochen und erscheint hier weniger als Helden-, vielmehr als Leidensgeschichte. Es hat auch etwas Kriegerisches, wie Drittklässler mit Eisenstäben auf die Fallrohre der Häuser einprügeln. Und Sergej, der Arbeit in einem ziemlich modernen Betrieb hat, fragt sich, was er mit seiner Zeit anstellt, ob er sie nutzt oder vertut. Und irgendwann heftet er sich an die Fersen von Anja, die ihm in der Straßenbahn gegenüber sitzt, ganz vertieft in ihr Buch. Einmal versenkt sie vor Lachen sogar ihr Gesicht im Buch. Sergej geht ihr nach. Romantiker, der er ist, will er nicht den schnellen Erfolg. Er wird nicht nervös, als Anja entschwindet. Er glaubt daran, dass er sie wiedersehen wird.

Und das geschieht am ersten Mai. Am ersten Mai sind alle Moskauer glücklich, das haben sie in den Genen. Die Demo und die Feiern danach hat Chuzijew großartig choreografiert. Sergej zeigt jetzt, dass er auch hartnäckig sein kann, wenn sein Lebensglück auf dem Spiel steht. Am Ende des Films sehen wir Sergej in einem hellen, weichen Mantel morgens zur Arbeit gehen. Aus dem Arbeiter ist offensichtlich ein Wissenschaftler geworden. Von Anja keine Spur mehr. Der Film lässt uns nach diesen bewussten drei Stunden etwas ratlos zurück. Was ist los? Warum kann aus der Beziehung zwischen Sergej und Anja nichts werden? Ist die Geschichte aus heutiger Sicht nicht etwas harmlos?

Im Museum trifft Anja einen Mann, sie wandeln ein Stück zusammen, wer war das, fragt Sergej. Das ist mein Mann, sagt Anja, ich lasse mich gerade scheiden. Warum lässt du dich scheiden? Ach, weil er ein Idiot ist, sagt Anja, nein, ich war einfach unglücklich.

Das ist nicht die Art, wie man über solche Entscheidungen, die das ganze Leben betreffen, reden sollte, findet der schwerblütige Sergej. Er lernt Anjas Vater kennen, der nicht im Krieg gefallen ist wie Sergejs Vater, auch er ein Typ, der das Leben eher leicht nimmt. Durch Anja begegnet Sergej einer anderen Schicht, als er sie kennt, er nimmt irritiert an Anjas Partys teil, das ironische, leichtsinnige Gerede nervt ihn; er möchte ein ernstes Gespräch führen, was die anderen eher belustigt, Sergej ist in ihren Augen ein altmodischer, einfältiger Mensch.

Wir nehmen zur Kenntnis, dass Chuzijew, warum auch immer, das Hohelied der Freundschaft singt, nicht das Hohelied der Liebe. Am Ende sehen wir wieder die nächtlich leeren Straßen Moskaus, die drei Soldaten als Wiedergänger des großen Kriegs.

Nein, harmlos ist Chuzijews Film gewiss nicht. Er erzählt, wie vielfältig und widersprüchlich die Aufbruchstimmung jener Jahre war, wie kompliziert gerade für die Nachdenklichen, ihren Weg zu finden zwischen den heroischen Traditionen und den neuen Einflüssen mit amerikanischer Musik und französischer Philosophie, den Träumen von einer entgrenzten Welt und der Realität der verkramten Gemeinschaftswohnungen. Sie tanzen abends auf den Höfen und wohnen einer imposanten Dichterlesung an der Universität mit Bella Achmadulina, Bulat Okudshawa, Robert Roshdestwenski und Jewgeni Jewtuschenko bei. Wir hören die Stimmen der Dichter, aber wir sehen nur die Gesichter der Zuhörer. „Ich weiß nicht, was er will und vorhat”, dichtete Jewtuschenko damals über einen, der alles sieht und nicht begreift, „wozu er da ist und bestimmt; und alles auf der Welt erwartet ihn …”

Aufstieg zum Galgen

Im Berliner „Arsenal” am Potsdamer Platz zeigen sie Filme von  Larissa Schepitko, es sind gerade mal viereinhalb. Schepitko kam als Vierzigjährige bei einem Autounfall ums Leben.

Man schwebt mit dem gläsernen Fahrstuhl ins zweite Untergeschoss und befindet sich sofort unter Freaks. Die grauhaarige Intellektuelle, die konzentriert in einem Paperback liest und Notizen in einer winzigen Schrift hineinkritzelt. Kinematographische Heldengestalten mit femininen Frisuren. Veteranen der Kunst- und der linken Szene. Filmstudenten. Eine Japanerin kramt eine silberne Thermoskanne aus ihrem Rucksack und schenkt sich Kaffee ein. Einmal während des Films blendet mich diese Kanne, und ich weiß zunächst nicht, was es ist. Ansonsten darf man sagen, dass es sich im Arsenal um ein diszipliniertes Kinopublikum handelt. Es wird allerdings mit zehnminütiger Verspätung angefangen, weil der Filmvorführer genau weiß, wer von den Stammzuschauern noch fehlt. Alles sehr sympathisch.

„Aufstieg”, gedreht nach einer Novelle von Wassil Bykau, ist ein Winter-, ein Kriegs- und ein Sinn-des-Lebens-Film. Und vor allem ein Film der Bilder. Die ukrainische Schneewüste, die dich zu verschlingen droht. Eine Überlandleitung, die Masten stehen auf abenteuerliche Weise schräg, als könnten sie jeden Moment fallen und das Ende der Welt einleiten. Schepitko, heißt es, erschuf „eine Bildsprache, die mit eindringlichen Bildern innere Welten zu evozieren vermochte”. Kahle Bäume, deren Astwerk an verworrene Seelenzustände denken lässt.

Der Kommandeur einer Partisaneneinheit hat Rybak und Sotnikau ausgesandt, damit sie Lebensmittel für die ausgehungerten Kämpfer beschaffen. Sie werden von den Deutschen gefasst. Einer von beiden wird sein Leben retten, weil er kollaboriert. Wer wird es sein, Rybak, der Fünftklässler, der gern von seiner Liebsten redet, oder Sotnikau, der Lehrer, der von seinem Husten fast zerrissen wird? Rybak hängt am Leben, in seiner Naivität glaubt er, listig genug zu sein, um sich retten zu können und der Heimat nicht zu schaden. Der Lehrer, Sotnikau, mit glühenden Eisen gefoltert, begibt sich früh und mit aller Konsequenz auf den Passionsweg. Ein ukrainischer Christus. In der unterirdischen Zelle kämpft Rybak mit dem Kameraden und mit seinem Gewissen. Das ist ein pathetisches, quälendes, schier unerträgliches Wüten mit Argumenten.

Warum „Aufstieg”, warum heißt Schepitkos Film so? Der Weg zum Galgen führt auf eine Anhöhe. Sotnikau und die Mitverurteilten schleppen sich hinauf, es ist eine lange Prozession, akzentuiert von dem ständig wiederholten, immer gleichen deutschen Befehl, ein Aufstieg in den Tod und die Unsterblichkeit. Falls es die gibt. Selbst, um dem Tod nahezukommen, muss man sich schinden. Rybak bleibt übrig, geschlagen mit dem „tückischen Schicksal eines im Krieg verirrten Menschen”.

Danach gehen wir die Treppe hinauf, nehmen nicht den Lift. Ein gepflegter Kunstschwätzer belehrt teilnahmslos einen jungen Mann, dass Schepitko im Vergleich zu Tarkowski recht angepasst war.